Seit drei Jahrzehnten setzt sich der in London lebende indische Essayist und Buchautor Pankaj Mishra mit der postkolonialen Welt auseinander, beispielsweise in „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“. Dabei scheut er vor Kontroversen nicht zurück. Seine unverhohlene Kritik an der deutschen Unterstützung Israels im Gazakrieg dürfte scharfen Widerspruch hervorrufen. Gleichzeitig repräsentiert Mishra eine jenseits Israels, Europas und der USA sehr weit verbreitete Position. Die Berliner Zeitung hat mit ihm gesprochen.

Herr Mishra, Sie gelten als streitbarer Vertreter des globalen Südens, zugleich verfolgen Sie von London aus die europäischen Debatten. Was bewegt Sie, wenn Sie nach Deutschland blicken?

Bewegt ist sehr milde ausgedrückt. Die Reaktion, die ich mit vielen Menschen außerhalb Deutschlands teile, ist eher Schock und Entsetzen. Dabei meine ich Menschen, die Deutschland gegenüber sehr wohlgesonnen waren und Ihr Land für seine intellektuelle Kultur bewunderten. Auch für den Versuch, mit seiner Nazi-Vergangenheit abzurechnen. Es geht um die Art und Weise, wie Deutschland einem rechtsextremen Regime im Nahen Osten zur Seite steht und ihm uneingeschränkte Unterstützung gewährt, obwohl seit langem klar ist, dass es sich dort um eine Regierung handelt, die auf Rache sinnt, keine klaren militärischen Ziele hat und entschlossen ist, besetzte Gebiete ethnisch zu säubern.

Sie sprechen von Israel als einem „rechtsextremen Regime“. Es gibt rechtsextreme Minister in der israelischen Regierung, aber Israel als Staat ist die einzige vollwertige Demokratie im gesamten Nahen Osten.

Sie machen eine unhaltbare Unterscheidung. Rechtsextreme Regierungen können demokratisch gewählt werden oder sehr große Wahlmandate erhalten – wie die Nazis in Deutschland 1933. Schauen Sie sich heute Indien an – die größte Demokratie der Welt. Dort wird eine nationalistische Bewegung ihr bisher größtes Mandat gewinnen, deren Gründer Hitlers Behandlung der Juden guthieß (Anm. d. Red.: M.S. Golwalkar, 1906-73). Oder Ungarn, oder die USA unter Trump. Gibt die Tatsache, dass es in diesen Ländern Wahlen gibt, dem, was ihre Führer tun, moralische Legitimität?

Aber was die israelische Führung tut – wieso läuft das auf die ethnische Säuberung der besetzten Gebiete hinaus? Israel und die Palästinenser leben seit Jahrzehnten nebeneinander, ohne dass eine Seite die andere vernichtet hat, so wie die Deutschen vor 1945 die Juden vernichtet haben.

Bitte beachten Sie, dass eine ethnische Säuberung nicht das gleiche Ausmaß wie die Shoah haben muss, um als ethnische Säuberung bezeichnet zu werden. Schauen Sie sich die Beispiele in Armenien, Kambodscha, Bosnien und Ruanda an. Beachten Sie auch die Rhetorik hochrangiger israelischer Minister – lesen Sie die 80-seitige Anklageschrift Südafrikas gegen Israel, um alle Beweise zu erhalten. Nehmen Sie zur Kenntnis, was der Internationale Gerichtshof über das plausible Risiko eines Völkermords, nicht nur einer ethnischen Säuberung, in Gaza gesagt hat. Und bitte bezeichnen Sie Israels illegale Besetzung palästinensischer Gebiete nicht als „Koexistenz“ – die Rechtswidrigkeit dieser Besetzung wird von den Vereinten Nationen (und sogar von Deutschland) offiziell anerkannt.

•gestern

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04.04.2024

04.04.2024

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Können Sie denn die deutschen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Gazakrieg nachvollziehen? Ich meine die Zwickmühle, in die man als Deutscher schon bei semantischen Fragen gerät. Also wie benenne ich Sachverhalte, wie formuliere ich Urteile, ohne dass ich mich in vergangener Schuld verstricke?

Ich kann durchaus verstehen, dass Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber Israel besitzt. Ich denke, niemand hat ein Problem damit. Zwischen den beiden Ländern besteht eine besondere Beziehung, das kann nicht anders sein. Aber wo ziehen Sie die Grenze? Wo hören Sie auf, blind ein Land zu unterstützen, dessen Führer offen über die ethnische Säuberung der palästinensischen Gebiete sprechen? Wenn die Sicherheit Israels zu einer Politik des Aushungerns von Palästinensern wird – wie weit will Deutschland gehen? Israel ist zu einer Paria-Nation geworden. Und Deutschland wird aufgrund seiner Politik der blinden Unterstützung Israels zum Paria Nummer zwei. Sie glauben nicht, wie sehr Deutschlands Ruf in den letzten Monaten gelitten hat. Überall sind die Menschen fassungslos, und ich bin es auch. Ich bin mit deutschen Büchern und deutscher Literatur aufgewachsen. In Asien und Afrika gibt es mehrere Generationen, die fühlen sich Deutschland sehr verbunden, die sind außerordentlich dankbar für die Rolle, die Deutschland nach 1945 gespielt hat. Und jetzt dieser Schaden, den das Land seinem weltweiten Image ohne ersichtlichen Grund zufügt. Ich kann nur wiederholen: Die Unterstützung für Netanjahu lässt sich nicht mit der Berufung auf die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel rechtfertigen. Ich würde sogar sagen: Die Unterstützung für Netanjahu zerstört die deutschen Sicherheitsgarantien für Israel.

Würden Sie nicht zustimmen, dass das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 ein militärisches Vorgehen der israelischen Armee legitimiert? Und dass die Hamas absichtlich Zivilisten für militärische Zwecke instrumentalisiert?

Jeder Staat wäre gezwungen, auf einen barbarischen Angriff wie den der Hamas militärisch zu reagieren. Die Frage ist die der Verhältnismäßigkeit. Dass die Hamas brutal ist oder sich hinter Zivilisten versteckt, rechtfertigt nicht das Abschlachten von Zehntausenden von Frauen und Kindern, das Vorenthalten von Lebensmitteln und Wasser an Zivilisten, die auf Video aufgezeichneten Hinrichtungen von Zivilisten, die im Fernsehen übertragene Sprengung von Häusern, Schulen und Universitäten, die Tötung von Journalisten, UN-Mitarbeitern und Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und viele andere Kriegsverbrechen.

Vielleicht sind wir Deutschen auch überfordert. Das Schwierigste an einem Konflikt ist doch, beiden Seiten gerecht zu werden. Schwarz-Weiß ist so viel einfacher. Es gibt auch das entgegengesetzte Schwarz-Weiß-Bild, 100 Prozent pro Palästina, im Kunstbetrieb, unter Studenten und Intellektuellen. Wenn Sie als deutscher Politiker oder Journalist in der Öffentlichkeit stehen, spüren Sie eher den Verantwortungsdruck. Dann bekennt man sich zu Israel, das ist historisch unangreifbar.

Wenn das wahr ist, wäre es eine schreckliche Anklage gegen die politische und mediale Klasse. Sie haben aber recht, wenn Sie die Rolle der Öffentlichkeit unterstreichen. Was ich den Meinungsumfragen entnehme, deutet darauf hin, dass die deutsche Bevölkerung insgesamt nicht den Enthusiasmus für Israel erkennen lässt wie die politische und mediale Klasse. Das Gleiche sehen wir in Großbritannien und den USA. Die große Mehrheit befürwortet einen sofortigen Waffenstillstand, sie ist auch der Meinung, dass Israel zu weit gegangen ist. Wie sieht das in Deutschland aus? Wie verhält sich die Meinung der Bevölkerung zur Meinung der Medien-Öffentlichkeit?

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23.11.2023

Sehr unterschiedlich. Unter Politikern und Journalisten gibt es schon viele, die klar und entschlossen sagen, dass es zu Israel keine Alternative gibt. Punktum. Da wird nicht diskutiert. Wir sind auch damit aufgewachsen. Ich war keine zehn Jahre alt, da fand ich im Bücherschrank der Eltern ein Buch mit Fotos aus Auschwitz. Wenn man bewusst Deutscher ist und das vor Augen hat, sehnt man sich nach moralisch klaren Positionen. Die einseitige Parteinahme für Israel kann auch eine Flucht sein.

Das ist interessant. Aber ich denke, die Frage, der sich die deutsche Politik und die deutschen Medien jetzt stellen müssen, ist: Wie wollen sie vom Rest der Welt wahrgenommen werden? Natürlich arbeiten sie an ihrer Schuld, darin sind die Deutschen einzigartig. Ich glaube nicht, dass sich viele Briten oder Amerikaner Gedanken machen, was ihre Vorfahren zur Zeit des Imperialismus oder der Sklaverei getan haben. Die werden nicht von Bildern aus der Vergangenheit heimgesucht. Es stellt sich aber auch die Frage: Welche Art von kollektivem Gedächtnis ist für eine Nation wirklich nützlich? Sollte es Kollektivschuld geben? Und gibt es dauerhafte kollektive Unschuld? Wie Israel die Erinnerung an den Holocaust zur Rechtfertigung von Gewalt gegen die Palästinenser nutzt, provoziert solche Fragen. Ist das kollektive Gedächtnis anfällig für ideologische Manipulation? In jedem Fall sollte Deutschland darüber nachdenken, wie es von einer Mehrheit weltweit gesehen werden möchte. Wollen Sie als Deutsche weiter über die Bilder von 1939 bis 1945 meditieren und in gedankenloser Unterstützung für Israel verharren oder wollen Sie wahrnehmen, wie der Rest der Welt das sieht? Das geht so weit, dass der malaysische Premierminister die deutsche Politik direkt vor dem Kanzler als heuchlerisch und unmenschlich anprangert. Das Video ist viral gegangen. Das zeigt, was viele Menschen heute über Deutschland denken. Und das über ein Land, das den ehrlichen Versuch unternommen hat, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Briten rechnen nicht mit den Konsequenzen ihrer Politik in Irland, Asien oder Afrika. Die Franzosen und die Italiener schon gar nicht. Auch nicht die Belgier. Es gibt sogar britische Politiker, die behaupten, das Empire sei wunderbar gewesen. Nur Deutschland war anders. Und jetzt genießt es einen schlechteren Ruf als die traditionellen westlichen Imperialisten.

In einem Spiegel-Essay Anfang 2023 sprachen Sie von Deutschland als möglicher Brücke zwischen dem globalen Süden und dem eigentlichen Westen. Das widerspricht nun völlig dem Selbstverständnis unserer politischen Klasse, die ungemein stolz ist, endlich im Westen angekommen zu sein.

Interessant, dass Sie den Aufsatz erwähnen. Deutschland hat seit 1945 so große Anstrengungen unternommen. Ich erinnere an das Buch von Heinrich August Winkler, „Der lange Weg nach Westen“. Und doch ist seit einiger Zeit offensichtlich – seit dem Brexit und der Wahl von Donald Trump –, dass der Westen als Konzept oder Kategorie vor unseren Augen auseinanderbricht. Mein Argument war, dass Deutschland verpflichtet ist, eine unabhängige Position in der Welt einzunehmen. Deutschland ist gezwungen zu erkennen, dass der globale Süden immer wichtiger wird. Und dass es die Macht hat, im Verhältnis zu Ländern wie China, Indonesien, Brasilien und anderen auf Zusammenarbeit statt auf Konfrontation und Antagonismus zu bauen. Es gibt diese Chance, gerade bei den neuen Themen von Künstlicher Intelligenz bis zur Bekämpfung des Klimawandels. Gerade weil Deutschland in Asien, Lateinamerika und Afrika historisch wenig involviert war, bei weitem nicht in dem Ausmaß wie andere westliche Mächte. Aber was ist passiert? Anstatt diesen Weg einzuschlagen, hat Deutschland sich in ein unhaltbares Bündnis mit der Biden-Regierung verstrickt und unterstützt einseitig die rechtsextreme Regierung in Israel. Deutschland steckt in einer Sackgasse, und ich kann mir nicht vorstellen, wie es seinen Ruf wiederherstellen will.

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04.04.2024

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Es geht ja nicht nur um Schuld und Verantwortung, sondern auch um Menschenrechte und Moral. In der deutschen Politik genießt Moral seit 1945 einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Sie beschreiben nun einen globalen Süden, der gerne mit uns zusammenarbeiten würde. In vielen Fällen sind das aber Staaten, in denen die Menschenrechtslage und die Demokratie sehr zu denken geben.

Es tut mir leid, aber ich glaube, dass der deutsche Anspruch, die Menschenrechte zu verteidigen, nicht länger überzeugend ist. Wenn Sie Ihrem engsten Verbündeten, also Israel, nicht nur tatenlos zusehen, sondern die Massaker in Gaza aktiv ermöglichen, indem Sie Israel mehr Waffen verkaufen als in den Jahren zuvor – wie wollen Sie da von Menschenrechten sprechen? Laut der Financial Times haben sich die deutschen Waffenlieferungen an Israel in den letzten Monaten verzehnfacht. Das Blut von mehr als 30.000 Menschen klebt auch an deutschen Händen. Das ist eine Tragödie nicht nur für die Deutschen, sondern auch für Menschen wie mich, die wirklich dachten, dass Deutschland für einen Neuanfang in den Beziehungen zwischen dem Westen und dem globalen Süden steht. Diese Beziehungen sind angespannt, sie waren es immer und sind obendrein durch das Thema Rassengerechtigkeit belastet. Jetzt tauchen Fragen wieder auf, von denen wir geglaubt haben, sie lägen hinter uns. Wenn etwa der malaysische Premierminister fragt: Sind Ihnen die Palästinenser egal, weil sie dunkelhäutig sind?

Sie kennen den Begriff der feministischen Außenpolitik. Trotz der doppelten Standards und der Heuchelei, die Sie brandmarken, also grundsätzlich: Ist so etwas wie feministische oder moralische oder wertebasierte Politik real überhaupt möglich?

Jemand hat mir am Internationalen Frauentag einen Tweet der deutschen Außenministerin weitergeleitet. Das ruft doch auf der Welt nur bitteres Gelächter hervor, wenn die feministische Außenpolitik blind ist für das Leid der Palästinenserinnen, die in Gaza keine Damenbinden finden, die unter katastrophalen Bedingungen gebären und mit ansehen müssen, wie ihre Kinder vor ihren Augen sterben. Was bedeutet feministische Außenpolitik unter diesen Umständen? Ich glaube, die deutsche Außenpolitik wird umso mehr verachtet, je mehr sie moralisiert.

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17.02.2024

Grundsätzlich: Kann Politik, die sich auf Werte beruft, praktikabel sein?

Es ist besser, über diese Dinge nicht zu moralisieren. Es ist besser, keine feministische Außenpolitik zu proklamieren, wenn man weiß, dass das eigene Handeln den erklärten Absichten zuwiderläuft. Es ist besser zu schweigen. Oder einfach zu sagen: Schauen Sie, wir unterstützen Israel, weil wir keine andere Wahl haben, weil wir an unsere Geschichte, an unsere Vergangenheit gebunden sind. Es ist obszön, den universellen Wert des Feminismus unter einem humanitären Deckmantel für eine Politik zu beanspruchen, die einfach nur mörderisch ist. Und ich benutze diese Worte nicht leichtfertig. Das meine ich wirklich so.

Nun gibt es viele Menschen, in Deutschland und wahrscheinlich anderswo, die würden sagen: Es ist immer noch besser, etwas Schlechtes mit guter Absicht zu tun als mit schlechter Absicht. Was würden Sie solchen Menschen entgegnen?

Ich weiß es nicht. Mir scheint, Deutschland ist aufgrund der Konfrontation mit seiner Vergangenheit in die Enge getrieben. Aus dieser Sackgasse, dieser besonderen Falle, kommt es nicht heraus. Und das ist der Grund, warum wir darüber nachdenken sollten, was die Vergangenheitsbewältigung, die Deutschland betrieben hat, wirklich bedeutet. Wir alle haben sie aus der Ferne bewundert. Aber jetzt sehen wir, dass sie möglicherweise dunkle Seiten hat. Dass es vieles gibt, was bei der Abrechnung mit der Vergangenheit außen vor blieb.

Das hat auch mit der Realpolitik der Vergangenheit zu tun, mit israelischen und deutschen Erwartungen seit den 1950-ern. Israel brauchte Geld und Waffen von Deutschland, und Deutschland brauchte moralische Absolution von Israel. Daraus entstand eine Beziehung, die sehr moralisch erscheint, aber in Wirklichkeit zutiefst zynisch ist, zudem mit einer bedeutenden militärischen und diplomatischen Komponente. Sie kommt beiden Ländern zugute. Aber jetzt erkennen wir deutlich die Schattenseiten. Deutschland ist in einer moralisch unhaltbaren Lage gefangen. Der einzige Ausweg besteht darin, die bisherige Konfrontation mit der Vergangenheit und das Lernen aus der Vergangenheit infrage zu stellen. Ist Vergangenheitsbewältigung überhaupt möglich? Bei Individuen vielleicht. Aber kann eine ganze Nation mit der Vergangenheit aufräumen, so wie Deutschland es versucht hat?

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„Deutsche feministische Außenpolitik ist blind ist für das Leid der Palästinenserinnen“

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06.04.2024

Seit drei Jahrzehnten setzt sich der in London lebende indische Essayist und Buchautor Pankaj Mishra mit der postkolonialen Welt auseinander, beispielsweise in „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“. Dabei scheut er vor Kontroversen nicht zurück. Seine unverhohlene Kritik an der deutschen Unterstützung Israels im Gazakrieg dürfte scharfen Widerspruch hervorrufen. Gleichzeitig repräsentiert Mishra eine jenseits Israels, Europas und der USA sehr weit verbreitete Position. Die Berliner Zeitung hat mit ihm gesprochen.

Herr Mishra, Sie gelten als streitbarer Vertreter des globalen Südens, zugleich verfolgen Sie von London aus die europäischen Debatten. Was bewegt Sie, wenn Sie nach Deutschland blicken?

Bewegt ist sehr milde ausgedrückt. Die Reaktion, die ich mit vielen Menschen außerhalb Deutschlands teile, ist eher Schock und Entsetzen. Dabei meine ich Menschen, die Deutschland gegenüber sehr wohlgesonnen waren und Ihr Land für seine intellektuelle Kultur bewunderten. Auch für den Versuch, mit seiner Nazi-Vergangenheit abzurechnen. Es geht um die Art und Weise, wie Deutschland einem rechtsextremen Regime im Nahen Osten zur Seite steht und ihm uneingeschränkte Unterstützung gewährt, obwohl seit langem klar ist, dass es sich dort um eine Regierung handelt, die auf Rache sinnt, keine klaren militärischen Ziele hat und entschlossen ist, besetzte Gebiete ethnisch zu säubern.

Sie sprechen von Israel als einem „rechtsextremen Regime“. Es gibt rechtsextreme Minister in der israelischen Regierung, aber Israel als Staat ist die einzige vollwertige Demokratie im gesamten Nahen Osten.

Sie machen eine unhaltbare Unterscheidung. Rechtsextreme Regierungen können demokratisch gewählt werden oder sehr große Wahlmandate erhalten – wie die Nazis in Deutschland 1933. Schauen Sie sich heute Indien an – die größte Demokratie der Welt. Dort wird eine nationalistische Bewegung ihr bisher größtes Mandat gewinnen, deren Gründer Hitlers Behandlung der Juden guthieß (Anm. d. Red.: M.S. Golwalkar, 1906-73). Oder Ungarn, oder die USA unter Trump. Gibt die Tatsache, dass es in diesen Ländern Wahlen gibt, dem, was ihre Führer tun, moralische Legitimität?

Aber was die israelische Führung tut – wieso läuft das auf die ethnische Säuberung der besetzten Gebiete hinaus? Israel und die Palästinenser leben seit Jahrzehnten nebeneinander, ohne dass eine Seite die andere vernichtet hat, so wie die Deutschen vor 1945 die Juden vernichtet haben.

Bitte beachten Sie, dass eine ethnische Säuberung nicht das gleiche Ausmaß wie die Shoah haben muss, um als ethnische Säuberung bezeichnet zu werden. Schauen Sie sich die Beispiele in Armenien, Kambodscha, Bosnien und Ruanda an. Beachten Sie auch die Rhetorik hochrangiger israelischer Minister – lesen Sie die 80-seitige Anklageschrift Südafrikas gegen Israel, um alle Beweise zu erhalten. Nehmen Sie zur Kenntnis, was der Internationale Gerichtshof über das plausible Risiko eines Völkermords, nicht nur einer ethnischen Säuberung, in Gaza gesagt hat. Und bitte bezeichnen Sie Israels illegale Besetzung palästinensischer Gebiete nicht als „Koexistenz“ – die Rechtswidrigkeit dieser Besetzung wird von den Vereinten Nationen (und sogar von Deutschland) offiziell anerkannt.

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04.04.2024

04.04.2024

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Können Sie denn die deutschen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Gazakrieg nachvollziehen? Ich meine die Zwickmühle, in die man als Deutscher schon bei semantischen Fragen gerät. Also wie benenne ich Sachverhalte, wie formuliere ich Urteile, ohne dass ich mich in vergangener Schuld verstricke?

Ich kann durchaus verstehen, dass Deutschland eine besondere Verantwortung gegenüber Israel besitzt. Ich denke, niemand hat ein Problem damit. Zwischen den beiden Ländern besteht eine besondere Beziehung, das kann nicht anders sein. Aber wo ziehen Sie die Grenze? Wo hören Sie auf, blind ein Land zu unterstützen,........

© Berliner Zeitung


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