Eine seltsame Nachricht meiner Mutter erreicht mich auf dem Telefon, während ich in den USA auf einer Recherche bin. Ich lese sie besorgt, weil der Ton aufgeregt ist. Sie erzählt von einem Späti, wo sie seit Jahren auf dem Weg zur Arbeit schrecklichen Filterkaffee kauft und manchmal, für meinen Vater, einen Mars-Riegel. Den darf er eigentlich nicht mehr essen, aber weil meine Mutter sich in diesem Späti sehr wohlfühlt, lässt sie diese Unvernunft zu.

Dieser Späti wurde schon immer betrieben von einem Paar aus Vietnam, das vermutlich kam, als die Mauer stand, aber blieb, als sie fiel. Ich kenne diesen Laden gut. Er erinnert mich an früher, kleine ungelenke Wägen und Körbe, die sich durch drei Jahrzehnte Kapitalismus gebeult haben. Schmucklose Regale mit vielem, was günstig in Kaufhallen zu kaufen ist, aber in einem Späti KaDeWe-Preise bekommt: Zitronen-Fertigkuchen von ja! für 4,99 Euro. Der Laden verkauft aber nicht nur Produkte, sondern präsentiert sich in einer seltsamen Konsumhaftigkeit. Es fehlt eigentlich nur noch das HO-Schild außen dran, und es könnte ein Set für die neue Staffel „Weissensee“ sein. Oder eine Reise in die eigene Vergangenheit.

Auch ich habe mir dort wort- und grußlos Filterkaffee in diesen dünnen, strumpfhosenfarbenen Bechern gekauft, viel zu heiß, viel zu bitter, die Zähne stumpf, aber die Seele wach. Ich kenne den Mann und ich kenne die Frau weniger als lose. Aber sie sind da. Immer.

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Meine Mutter schrieb mir, aufgeregt, dass die Frau nun nicht mehr da sei, sie sei einfach gestorben. Im Laden. Die SMS meiner Mutter ist so lang, so durcheinander. Und hat mich doch so berührt. In ihren Armen sei sie gestorben, die Frau. „Immer von acht bis acht im Laden“, schreibt meine Mutter. „Und dann einfach gestorben.“ Ich vermute, meine Mutter hat ein wenig geweint. Sie erzählt vom Beileid und von ihrer eigenen Beobachtung: „Es wird eine schwere Zeit“, schreibt sie mir.

Und dann fragt sie mich, ob ich daraus eine Kolumne für die Berliner Zeitung machen könne. „Eine Totensonntagsgeschichte.“ Ich weiß, dass dieser Tag in meiner Familie nicht gefeiert wird. Weil der Totensonntag bei uns mit Kriegen in Zusammenhang gebracht wird und mit der Tatsache, dass man sich um die Gräber der Angehörigen öfter als einmal im Jahr kümmern sollte. Meine geliebte Oma hat das immer gesagt: „Wer am Totensonntag Gräber pflegt, hat kein Herz.“ Nur um dann eine Woche später einen eigenen Totensonntag zu feiern.

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Mutter schreibt weiter, schreibt eigentlich diese Kolumne. Wieviel sie gearbeitet hätten, diese beiden. Seit 15 Jahren wohnen meine Eltern in dieser Straße, schon immer gehen wir sie entlang. Mutter erzählt, dass die beiden an lauen Sommerabenden (in der SMS stand „London Sommerabenden“), wenn alle anderen schon Aperol Spritz trinken, noch schuften. Sechs Tage die Woche, für die Kinder, für ein bescheidenes Leben. „Alle reden von 35-Stunden-Woche“, schreibt meine Mutter. „Ich glaube, die beiden haben noch nie darüber nachgedacht.“ Und merkt vermutlich nicht, dass dies nichts Gutes ist. Da steckt der Vorwurf an meine Generation drin, auch an die nachfolgende. Der Vorwurf, dass wir zu wenig arbeiten würden.

Vielleicht ist doch diese Frau auch ein Beleg dafür, dass, wenn wir verschwinden, es egal ist, wieviel wir gearbeitet haben. Welchen Wert hat die 60-Stunden-Woche in der Unendlichkeit des Todes?

Ich antworte meiner Mutter, sage, ich kann darüber keine Kolumne für die Berliner Zeitung schreiben. Das sei unhöflich, ich würde die betroffenen Personen ja überhaupt nicht kennen.

Und dann denke ich nach. Hier in den USA erlebe ich so viel, nehme psychedelische Pilze mit Veteranen, jogge mit Obdachlosen, beobachte Venezolaner beim Überqueren der berühmten Mauer, tröste Migranten, die nicht mal mehr Träume haben. Ich dachte, ich hätte genug, um in dieser Kolumne etwas zu erzählen, aber ich musste immer an die SMS meiner Mutter denken.

Und die große Frage ist, warum beschäftigt meine Mutter das so? Und plötzlich mache ich mir Sorgen um meine Eltern, die seit vierzig Jahren sechs Tage die Woche hinter der Theke in ihrer Buchhandlung stehen. Immer da, immer wach, immer aufmerksam, immer freundlich, damit ihre Kinder, mein Bruder und ich, ein gutes Leben haben.

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Was, wenn meine Mutter einfach hinter die Theke fällt? Oder mein Vater verschwindet? Was, wenn der Totensonntag irgendwann der Tag ist, an dem die Familie auf dem Georgen-Parochial II zusammenkommt? Aber nur noch mein Bruder und ich leben?

Ich streife, hier in den USA, den Gedanken weg und nehme mein Telefon in die Hand, schreibe in die zeitverschobene Nacht meiner Eltern eine Nachricht.

„Habe doch darüber geschrieben, Mutter“, schreibe ich. Denn der Totensonntag bedeutet doch mehr als Grabpflege. Er bedeutet auch: Wer sich erinnert, kann nicht vergessen. Egal ob die Oma oder die Frau aus dem Späti.

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Thilo Mischke: Der Totensonntag bedeutet mehr als Grabpflege

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25.11.2023

Eine seltsame Nachricht meiner Mutter erreicht mich auf dem Telefon, während ich in den USA auf einer Recherche bin. Ich lese sie besorgt, weil der Ton aufgeregt ist. Sie erzählt von einem Späti, wo sie seit Jahren auf dem Weg zur Arbeit schrecklichen Filterkaffee kauft und manchmal, für meinen Vater, einen Mars-Riegel. Den darf er eigentlich nicht mehr essen, aber weil meine Mutter sich in diesem Späti sehr wohlfühlt, lässt sie diese Unvernunft zu.

Dieser Späti wurde schon immer betrieben von einem Paar aus Vietnam, das vermutlich kam, als die Mauer stand, aber blieb, als sie fiel. Ich kenne diesen Laden gut. Er erinnert mich an früher, kleine ungelenke Wägen und Körbe, die sich durch drei Jahrzehnte Kapitalismus gebeult haben. Schmucklose Regale mit vielem, was günstig in Kaufhallen zu kaufen ist, aber in einem Späti KaDeWe-Preise bekommt: Zitronen-Fertigkuchen von ja! für 4,99 Euro. Der Laden verkauft aber nicht nur Produkte, sondern präsentiert sich in einer seltsamen Konsumhaftigkeit. Es fehlt eigentlich nur noch das HO-Schild außen dran, und es könnte ein Set für die neue Staffel „Weissensee“ sein. Oder eine Reise in die eigene Vergangenheit.

Auch ich habe mir dort wort- und grußlos Filterkaffee in diesen dünnen, strumpfhosenfarbenen Bechern gekauft, viel zu heiß, viel zu bitter, die Zähne stumpf, aber die Seele........

© Berliner Zeitung


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