Eigentlich darf dieser Ort nicht mehr existieren, eigentlich müsste er verboten sein. Ein kleines Café am Ende einer berühmten Vergnügungsstraße in Tokio. Hier, 9000 Kilometer von zu Hause entfernt, fühle ich mich zu Hause. Weil ich in diesem Café schon oft war, weil ich mich an den Tisch hinten bei der kaputten Klimaanlage setze, schreibe, aus dem Fenster sehe. In verschiedensten Lebensphasen, mal traurig, mal euphorisch, oft einsam, viel öfter aber glücklich.

Dieses Café ist ein Treffpunkt der Tokioter Unterwelt, genauer: der Unterwelt, die sich um Kabukicho kümmert, ein Vergnügungsviertel im Stadtteil Shinjuku. Unzählige Stundenhotels, Clubs, in denen japanische Frauen für Geld mit Männern sprechen, bis die Frauen sich im Halblicht von Neonröhren in den Schlaf streicheln lassen. Touristen neben Yakuza, obdachsuchende Büchsensammler neben Prostituierten. Und mittendrin, wie eine Flamme, dieses Café, an dem sich alle wärmen, die hier Geld verdienen. Und ich, am Laptop, früher Kette rauchend, heute Minze lutschend, weil die Angst vor dem Tod durch Krebs größer ist als der Wunsch, zu den Unzerstörbaren dazuzugehören.

Alte, unzerstörbare Männer rauchen mit feinen Händen und feuchten Lippen filterlose Zigaretten, sie husten nie. Junge Frauen, so stark geschminkt, dass niemand ahnen kann, was sie fühlen, trinken Filterkaffee. Ein Glücksspielautomat, große Aschenbecher, gelbe Wände, abgewetzte Sitze. Nichts hiervon ist Tokio, wie es sich die Touristen vorstellen. Es ist ein Ort, der sich den Verboten dieses Landes widersetzt. Rauchen, Glücksspiel, Prostitution, auch Drogen und Gewalt. Hier zeigt sich das wahre Gesicht dieser Stadt, erschöpft, müde, aber eine große Lust an der Illegalität, am Exzess. Ich habe hier, während ich Bücher schrieb, gut situierte Männer beobachtet, die sich den Hemdärmel hochschieben und Heroin spritzen, als wäre es 1986. Ich habe im Schatten ihres schläfrigen Rauschs Texte geschrieben, Texte wie diesen.

•gestern

07.12.2023

07.12.2023

Das besondere ostdeutsche Denken: Bewusstsein für Gerechtigkeit und Kritik

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07.12.2023

Es gibt keinen Ort auf der Welt, der so ist wie dieser. Und ich kenne wirklich viele Orte auf der Welt.

Ich frage mich, während ich hier sitze, ob dieser Ort so schön ist, weil er sich widersetzt. Ob dieser Ort so schön ist, weil ich den Widerstand spüren kann, diesen Widerstand, den ich auch in Deutschland so attraktiv finde. Ob in Menschen oder Kneipen. Dieser Ort erinnert mich daran, dass wir uns wohl in Zukunft öfter gegen Verbote durchsetzen müssen.

Wir, die uns zum Beispiel gegen Söders billige Wut wehren wollen, der das Gendern verbietet, der Sprache verbietet, in Schulen und Ämtern. Der damit einen Kampf beendet, der von Frauen geführt und von vielen getragen wurde. Es ist wohl ein Vorgeschmack, wie man ungelenk sagt. Ein Geschmack auf das, was kommt. Wer Gendern verbietet, verbietet nicht nur Sprache, sondern auch die Mitgemeinten. Die Frauen, die Migranten, die anderen. Verbieten, weil die Angst vor dem Bedeutungsverlust groß ist. Ich denke an die 32 Prozent AfD in (Ost)Deutschland und befürchte, da kommen noch mehr Verbote.

Verkompliziert euch! Warum fällt es immer schwerer, die komplexe Welt zu ertragen?

07.12.2023

Glauben im Osten: „Der einzige Erfolg der DDR war, die Kirche zu ruinieren“

04.12.2023

Verbieten, das ist doch das, wofür diese Partei steht. Aufarbeitung in Deutschland: verboten. Geflüchtetenhilfe: verboten. Die Arbeit gegen rechts: verboten. Klimaschutzmaßnahmen: verboten. Es wird so viel verboten werden, so viel untersagt, so viel, was sich erkämpft wurde. In der rhetorischen Androhung, in den Landtagen der Bundesrepublik, ja sogar im Bundestag wird ein Deutschland konstruiert, das unfrei und eng ist. Das für niemanden mehr Heimat ist, außer für Menschen, die sich noch nie gesorgt haben. Denn nur wer sich nicht sorgt, kann anderen das Leben verbieten.

Wird Berlin diese Tokioter Kneipe werden, dieser Ort? Werden wir uns in dieser Stadt den Verboten widersetzen? Ich frage mich das, nebenspurig vom Jetlag in Tokio, in meinem Café. Seit Jahren berichte ich über die AfD, schreibe über sie, nicht um gegen sie anzukämpfen, das ist nicht meine Aufgabe, aber ich beobachte sie mit einer perfiden Neugierde. Und die meisten, die diese Partei beobachten, sagen: „So schlimm wird es schon nicht werden. Die Demokratie ist stabil.“

Viele sagen es, weil sie nicht betroffen sind von diesen Verboten. Ich hoffe und ich wünsche mir, dass Berlin diese Flamme sein wird, an der wir uns alle wärmen werden, erschöpft, aber die Lust am Exzess, die Freude am Illegalen niemals vergessend. Diese Lust, sie ist, im Gegensatz zu Verboten, zeitlos. Aber wer verbietet, der wird überwunden.

QOSHE - Nur wer sich nicht sorgt, kann anderen das Leben verbieten - Thilo Mischke
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Nur wer sich nicht sorgt, kann anderen das Leben verbieten

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09.12.2023

Eigentlich darf dieser Ort nicht mehr existieren, eigentlich müsste er verboten sein. Ein kleines Café am Ende einer berühmten Vergnügungsstraße in Tokio. Hier, 9000 Kilometer von zu Hause entfernt, fühle ich mich zu Hause. Weil ich in diesem Café schon oft war, weil ich mich an den Tisch hinten bei der kaputten Klimaanlage setze, schreibe, aus dem Fenster sehe. In verschiedensten Lebensphasen, mal traurig, mal euphorisch, oft einsam, viel öfter aber glücklich.

Dieses Café ist ein Treffpunkt der Tokioter Unterwelt, genauer: der Unterwelt, die sich um Kabukicho kümmert, ein Vergnügungsviertel im Stadtteil Shinjuku. Unzählige Stundenhotels, Clubs, in denen japanische Frauen für Geld mit Männern sprechen, bis die Frauen sich im Halblicht von Neonröhren in den Schlaf streicheln lassen. Touristen neben Yakuza, obdachsuchende Büchsensammler neben Prostituierten. Und mittendrin, wie eine Flamme, dieses Café, an dem sich alle wärmen, die hier Geld verdienen. Und ich, am Laptop, früher Kette rauchend, heute Minze lutschend, weil die Angst vor dem Tod durch Krebs größer ist als der Wunsch, zu den Unzerstörbaren dazuzugehören.

Alte, unzerstörbare Männer rauchen mit feinen Händen und feuchten........

© Berliner Zeitung


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