„Eine Katze ist heute in den Laden gelaufen!“ Dieser Satz, von meiner Mutter am Telefon ausgerufen, ist die früheste Erinnerung, die ich an unsere Buchhandlung habe. Das muss Ende der Achtziger oder Anfang der Neunziger gewesen sein. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich noch ein Jungpionier oder schon ein Kind war. Ein Kind, das aufs Gymnasium gehen muss, damit etwas aus ihm wird.

In meiner Erinnerung findet alles an einem Sommernachmittag statt. Das Licht steht halb in der Lichtenberger Wohnung; in meinem kleinen Kinderzimmer sitze ich, mein winziger Bruder quengelt irgendwo; mein Vater, der uns abgeholt hat – aus der Schule, aus dem Kindergarten –, bereitet uns das Essen zu. In meiner Erinnerung ist alles friedlich, alles ist immer 22 Grad warm, es weht kein Wind, es drückt keine Sorge. Mutter, Vater, Sohn, Sohn: Das ist unsere Familie. Und dann ist da diese Buchhandlung, in die meine Mutter jeden Tag in der Woche abtaucht und aus der sie abends wiederkommt, mit kleinen Augen und müden Lippen. Das war früher so, das ist heute so.

Ein doppeltes Tagebuch: Der Krieg aus ukrainischer und russischer Sicht

14.02.2024

Von Nazis geraubt, in Berlin gerettet: Die Bücher der jüdischen Familie Chodziesner

15.02.2024

„Ich bringe sie mit nach Hause“, sagte meine Mutter meinem Vater, der, weil er das gut kann, einfach nein gesagt hat. Und meine Mutter hat sich widersetzt, auch, weil sie das gut beherrscht. Ab diesem Abend lebte dann Lukas 1 bei uns. Wir hatten nun eine Katze, die über die Schwelle in der Buchhandlung ging, diese Katze, die von irgendwo die Frankfurter Allee hinunterlief, Anfang der Neunziger oder Ende der Achtziger, als das Vergaserwerk noch stand, dort wo das Ringcenter 2 heute ist, als die Ringbahnhalle noch stand, in der es nach Fisch roch, und ich mich an Flüsse aus Pfützenwasser und Tierblut erinnere, ich: vier oder fünf Jahre alt, gehalten an der Hand meiner Mutter, meines Vaters, meiner Oma.

In den letzten Monaten wurde ich oft gefragt, warum ich denn eine Buchhandlung übernehmen wolle. Echte Bücher lese doch kaum noch jemand. Alle haben eBooks, alle gucken nur noch Filme oder TikTok, sagen die Menschen, die sich stellvertretend für mich fürchten wollen. Aber es gab nie einen Zweifel, ob oder wie ich diese Buchhandlung übernehmen will. Nie. Und es ging mir nicht um Geld oder um Möglichkeiten.

13.02.2024

•vor 3 Std.

gestern

•gestern

15.02.2024

Wenn ich gefragt werde, wo ich zu Hause bin, dann sage ich Berlin, meine aber diese Buchhandlung. Ich bin dort aufgewachsen, zwischen Büchern, die für mich wie Früchte in einem Obstladen waren. Ich lernte, Bücher nicht als etwas Besonders anzusehen, sondern als etwas Selbstverständliches.

Ich habe in dieser Buchhandlung alles erlebt, was ich heute bin. Im Haus lebte mein bester Freund R., meine Eltern haben dort erfahren, wie das Internet funktioniert, als ich ihnen 1996 die erste Website einrichtete, ich habe ihnen dort erzählt, wer meine erste Freundin ist und habe mit ihr auch in der Buchhandlung übernachtet, einfach als Abenteuer. Küsse zwischen den Gedanken fremder Menschen. Ich bin dort durchs Abi gefallen, ich habe dort gearbeitet (5 Mark die Stunde) und habe dort geweint, gelernt, gezweifelt.

Ich bin 19 Jahre alt und fühle mich trotzdem als Ossi: Warum ist das so?

01.10.2023

Andere hatten den Abendbrottisch, ich hatte die Buchhandlung. Das letzte Foto meiner Oma ist dort entstanden, und auch meine Eltern sind jetzt erfahrene Buchhändler, so nenne ich das jetzt mal, das Altsein.

Meine Heimat ist dieser Ort, meine Heimat ist dort, wo Erinnerungen entstanden sind, und die meisten sind zwischen Belletristikregal und Kinderbuchecke entstanden.

Wie kann ich das weggeben? Wenn die Buchhandlung nicht mehr existiert, dann existiert dieser Ort für meine Erinnerungen nicht mehr. Es wäre, als würde eine Person sterben. Und während der Tod unvermeidbar ist, kann ich dort, in dieser Buchhandlung, Erinnerungen unsterblich werden lassen. Zumindest, solange ich lebe. So lange diese Buchhandlung existiert, habe ich eine Heimat.

Diese Buchhandlung zu übernehmen ist keine merkantile Entscheidung, es ist eine Entscheidung für das Vermögen meiner Erinnerungen. Ich übernehme kein Geschäft, ich übernehme das Leben meiner Familie. Und das gehört, finde ich, zu den Verpflichtungen der Kinder.

QOSHE - Heimat und Kindheitserinnerungen: Andere hatten den Abendbrottisch, ich hatte die Buchhandlung - Thilo Mischke
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Heimat und Kindheitserinnerungen: Andere hatten den Abendbrottisch, ich hatte die Buchhandlung

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17.02.2024

„Eine Katze ist heute in den Laden gelaufen!“ Dieser Satz, von meiner Mutter am Telefon ausgerufen, ist die früheste Erinnerung, die ich an unsere Buchhandlung habe. Das muss Ende der Achtziger oder Anfang der Neunziger gewesen sein. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich noch ein Jungpionier oder schon ein Kind war. Ein Kind, das aufs Gymnasium gehen muss, damit etwas aus ihm wird.

In meiner Erinnerung findet alles an einem Sommernachmittag statt. Das Licht steht halb in der Lichtenberger Wohnung; in meinem kleinen Kinderzimmer sitze ich, mein winziger Bruder quengelt irgendwo; mein Vater, der uns abgeholt hat – aus der Schule, aus dem Kindergarten –, bereitet uns das Essen zu. In meiner Erinnerung ist alles friedlich, alles ist immer 22 Grad warm, es weht kein Wind, es drückt keine Sorge. Mutter, Vater, Sohn, Sohn: Das ist unsere Familie. Und dann ist da diese Buchhandlung, in die meine Mutter jeden Tag in der Woche abtaucht und aus der sie abends wiederkommt, mit kleinen Augen und müden Lippen. Das war früher so, das ist heute so.

Ein doppeltes Tagebuch: Der Krieg aus........

© Berliner Zeitung


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