Sogar seine Widersacher von damals und die Feinde Israels von heute würden kaum widersprechen: David Ben Gurion war einer der wirkungsmächtigsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts. Er gehört zu der kleinen Gruppe von Politikern, die beides in außergewöhnlichem Maße besitzen: die Kraft der Vision und die Kraft zu ihrer Umsetzung.

Kein Problem war für ihn zu groß, keines zu klein. Er schaffte es nicht nur, unter widrigsten Umständen in einem von Anfang an feindlichen Umfeld den Staat Israel zu gründen. Er kümmerte sich auch persönlich um Ersatz, als Reis im Land knapp war und ließ die reiskorngroße „Ben-Gurion-Nudel“ entwickeln. Kein Mensch ist unersetzlich, schon gar nicht in einer Demokratie, wie Israel es von Anfang an war. Aber Ben Gurion war nahe daran, da sind sich alle einig. Fragt man Israelis heute nach Ben Gurion, so hört man immer wieder: So einen bräuchten wir jetzt.

Die Sternstunde seines Lebens war die Verlesung der Unabhängigkeitserklärung Israels am 14. Mai 1948 im Museum von Tel Aviv. Am Ende klopfte er mit dem Hammer auf das Rednerpult und erklärte: „Der Staat Israel ist geboren!“ Nach fast 2000 Jahren Diaspora, unzähligen judenfeindlichen Pogromen, mehr als 50 Jahren zionistischer Bewegung und zwölf Jahren Nationalsozialismus mit sechs Millionen ermordeten Juden ein geradezu biblischer Moment. Viel Zeit zum Innehalten oder Feiern blieb aber nicht. Am nächsten Morgen begannen die umliegenden arabischen Staaten ihren Angriff auf Israel.

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gestern

Dabei ging es ihnen nicht um die Schaffung eines palästinensischen Staates, sondern darum, sich möglichst viel Territorium in das jeweils eigene Staatsgebiet einzugliedern. Man muss offenbar immer wieder daran erinnern: Es hat auch vor 1948 keinen palästinensischen Staat gegeben. Israel, das heute von vielen als Kolonialmacht delegitimiert werden soll, war in gewisser Weise selbst ein Projekt der Dekolonialisierung – so wie die arabischen Nachbarstaaten, die den winzigen Staat der Juden überfielen. Ob Libanon, Syrien, Jordanien oder Irak – all diese Staaten waren aus der „Erbmasse“ des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des britischen und französischen Kolonialimperiums nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Im insgesamt dünn besiedelten Palästina, das von den Briten verwaltet wurde, lebten damals rund 534.000 Juden, etwa 30 Prozent der Bevölkerung. Es war die Zeit der Grenzziehungen am Reißbrett. Palästina als Staat war zunächst nicht dabei.

Im November 1947 stimmten dann aber die Vereinten Nationen – mit den Stimmen der USA und der Sowjetunion – für die Gründung zweier Staaten, eines arabischen und eines jüdischen. Bis heute wird ein ähnliches Modell als möglicher Weg der friedlichen Lösung des Dauerkonflikts im Nahen Osten diskutiert. Nach dem barbarischen Pogrom der Hamas vom 7. Oktober 2023 scheint die Zweistaatenlösung aber mehr denn je in weite Ferne gerückt zu sein. Israel jedenfalls akzeptierte diese bereits 1948, die Araber taten dies nicht.

Es begann die Tragödie des palästinensischen Volkes. Bis heute ist umstritten, in welchem Ausmaß im Krieg 1948 Palästinenser aktiv vertrieben wurden und wie viele Araber vor den Kampfhandlungen flohen in der Erwartung, nach dem unausweichlich erscheinenden Sieg der übermächtigen arabischen Armeen bald in ihre Heimat zurückkehren zu können. Eine systematische Vertreibungspolitik hat es wohl nicht gegeben. Unbestritten ist inzwischen aber, dass Araber ihrer Heimat beraubt wurden und es auch Verbrechen an der Zivilbevölkerung gegeben hat. Auch dafür trägt Ben Gurion letztlich Verantwortung. Bis heute sind andererseits rund 20 Prozent der israelischen Bevölkerung Araber – mit vollen Bürgerrechten und mehr Freiheit als die Menschen in den autoritär regierten umliegenden arabischen Staaten.

David Ben Gurion wurde als David Grün am 16. Oktober 1886 im polnischen Plonsk, das damals zum zaristischen Russland gehörte, in eine fromme jüdische Familie hineingeboren. Sein eigenes Verhältnis zu Religion und Judentum soll er einmal auf die aussagekräftige Formel gebracht haben: „Der Gott, an den ich nicht glaube, wird immer der jüdische sein.“ Schon in jungen Jahren begann er, sich für den Zionismus Theodor Herzls zu begeistern und die Zukunft der Juden in Palästina zu sehen. Gerade in Russland kam es damals immer wieder zu schrecklichen antijüdischen Pogromen mit vielen Toten. Grüns zweites ideologisches Standbein wurde der Sozialismus. Er schloss sich der jüdischen Arbeiterbewegung an, deren Anführer er später selbst wurde. Mit zwanzig Jahren wanderte Grün nach Palästina aus. Hier hebräisierte er – üblich unter Zionisten – seinen Namen zu David Ben Gurion – David, Sohn eines Löwen.

Er begann als Landarbeiter, wurde aber schon bald Journalist und Berufspolitiker. Ein jüdischer Staat schien lange Zeit nicht mehr als eine Fata Morgana zu sein. Über Jahrzehnte ging es erst einmal darum, Juden aus der ganzen Welt, vor allem aus Europa, die Ansiedlung im damals äußerst dünn besiedelten und unwirtlichen Land ihrer Vorväter zu ermöglichen. Dies geschah vor allem durch Landkauf von osmanisch-arabischen Grundbesitzern. Ben Gurion aber verfolgte hartnäckig und zugleich äußerst pragmatisch sein oberstes politisches Ziel: die Gründung eines jüdischen Staates. „Wer nicht an Wunder glaubt“, so sein Motto, „der ist kein Realist“. Seinem Ziel ordnete er sein ganzes Leben unter, auch die Schicksale seiner Familie und Mitarbeiter.

Man muss sich Ben Gurion als eher humorfreien, hart arbeitenden Mann vorstellen, der sich von morgens bis nachts mit dem Aufbau Israels befasste. Das Amt des Verteidigungsministers bekleidete er die meiste Zeit während seiner Amtsjahre als Ministerpräsident gleich mit. Er war ein Mann, der zwar Nüchternheit ausstrahlte, zugleich aber ein begnadeter und mitreißender Redner war. Golda Meir, unter Ben Gurion Ministerin und ab 1969 seine Nachfolgerin, beschrieb ihn als jemanden, der nie über Nebensächlichkeiten und auch nicht über private oder familiäre Angelegenheiten gesprochen habe. Deshalb sei er nicht wirklich beliebt gewesen, auch nicht bei seinen Mitstreitern, „aber bei Ben Gurion suchten die Leute Rat“. Meir glaubte nicht, dass „das jüdische Volk je eine größere Führerpersönlichkeit und einen klügeren und mutigeren Staatsmann hervorbringen“ werde.

Zunächst hatte Ben Gurion für die jüdischen Belange innerhalb des Osmanischen Reiches gekämpft und sogar mit dem Gedanken gespielt, einmal Minister für jüdische Angelegenheiten in einer türkischen Regierung zu werden. Später reiste er unermüdlich um die halbe Welt, um insbesondere in Großbritannien und den USA für das Ziel eines jüdischen Staates zu werben. 1935 wurde er Vorsitzender der Jewish Agency, dem wichtigsten jüdischen Repräsentativorgan unter der britischen Herrschaft in Palästina. Auch ohne den Holocaust wäre es möglicherweise irgendwann zur Gründung des Staates Israel gekommen. Denn schon vor diesem einzigartigen Verbrechen war das Thema viele Jahre auf der Agenda der internationalen Politik gewesen. Die Ermordung von sechs Millionen Juden durch Nazi-Deutschland trug jedoch dazu bei, dass es schon 1948 dazu kam. Das Leiden des jüdischen Volkes und dessen Heimatlosigkeit sollten ein Ende haben. Dafür gab es 1947 in der Uno eine klare Mehrheit.

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Ben Gurion selbst hatte sich während des Zweiten Weltkriegs in einer Mischung aus empfundener Machtlosigkeit und Fokussierung auf den zionistischen Traum in Palästina erstaunlich wenig mit der Vernichtung des europäischen Judentums befasst. Danach warf er sich mit umso größerer Energie darauf, möglichst viele Überlebende ins Land zu holen und zu integrieren. Schon im Oktober 1945 reiste er zum ersten Mal wieder nach Deutschland, um dort in den Lagern der „displaced persons“ dafür zu werben, nach Palästina zu emigrieren. Für viele Juden wurde der kleine Mann mit der auffälligen weißen Haarpracht ein Hoffnungsträger, fast ein Messias. In einem kaum vorstellbaren Kraftakt und gegen den Willen der Briten gelang es, 800.000 jüdische Flüchtlinge aus Europa und arabischen Ländern aufzunehmen. Etwa 30 Prozent der Israelis waren Holocaust-Überlebende. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das „Wiedergutmachungsabkommen“ mit Deutschland 1952 das Land an den Rand der Spaltung, möglicherweise sogar eines Bürgerkrieges, brachte. Ben Gurions Pragmatismus ging vielen Israelis an dieser Stelle zu weit, sie wollten ganz einfach keine Unterstützung aus dem „Land der Täter“. Ben Gurion setzte sich aber durch und errang schließlich mit großer Überzeugungskraft eine politische Mehrheit für das Abkommen im Parlament. Es leistete in den folgenden Jahren einen wichtigen Beitrag, die Wirtschaft und damit auch die Verteidigungsfähigkeit Israels zu stärken.

Der junge Staat überlebte also nicht nur den Unabhängigkeitskrieg. Als Ben Gurion 1963 endgültig das Amt des Ministerpräsidenten niederlegte, hatte das Land sich trotz des schwierigen Umfelds stabilisiert. Israel war unter Ben Gurion zu einer „militanten Zivilgesellschaft“ geworden: eine lebendige, streitlustige Demokratie mit zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen, Parteien und Organisationen, oft tief gespalten, bei akuter Bedrohung von außen aber immer verteidigungsbereit und eng zusammenstehend.

So ist es bis heute, man kann es in diesen Tagen erneut und eindrucksvoll erleben. Trotz riesiger Verteidigungsausgaben, immenser Herausforderungen bei der Integration der Einwanderer und einer auch sonst wachsenden Bevölkerung in einem nicht mit natürlichen Reichtümern gesegneten Landstrich: Innerhalb weniger Jahre war ein funktionierendes Gemeinwesen entstanden. Aber selbst ein Ben Gurion konnte die zahlreichen Widersprüche und Grundkonflikte, mit denen Israel von Anfang an beladen war, nicht auflösen. Das spannungsgeladene Verhältnis zwischen religiös-orthodoxen und säkularen Juden ist ebenso zu nennen wie das mitunter schwierige Verhältnis zwischen Juden aus Europa und orientalischen Juden und auch deren jeweiligen Nachfahren. Vor allem aber dominierte von Ben Gurions Zeiten bis heute die Frage des richtigen Umgangs mit den Palästinensern und die damit verbundenen Fragen nach den Grenzen des Staates, der Politik und dem Alltag der Menschen in Israel.

In diesen Tagen wurde auf erschütternde Weise einmal mehr deutlich: So stark und widerstandsfähig Israel auch sein mag – ohne dass die arabische Welt die Existenz des Staates endlich glaubwürdig akzeptiert, wird kein dauerhafter Frieden in der Region herrschen. Ben Gurion hat beiderlei hinterlassen: ein großes Erbe und eine Aufgabe, die angesichts der aktuellen Katastrophe nahezu unlösbar scheint. Dies umso mehr, da Politiker seines eigenen Formats nicht in Sicht sind.

Dr. Ralf Gebel ist Historiker und lebt in Berlin.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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David Ben Gurion: „Der Gott, an den ich nicht glaube, wird immer der jüdische sein“

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01.12.2023

Sogar seine Widersacher von damals und die Feinde Israels von heute würden kaum widersprechen: David Ben Gurion war einer der wirkungsmächtigsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts. Er gehört zu der kleinen Gruppe von Politikern, die beides in außergewöhnlichem Maße besitzen: die Kraft der Vision und die Kraft zu ihrer Umsetzung.

Kein Problem war für ihn zu groß, keines zu klein. Er schaffte es nicht nur, unter widrigsten Umständen in einem von Anfang an feindlichen Umfeld den Staat Israel zu gründen. Er kümmerte sich auch persönlich um Ersatz, als Reis im Land knapp war und ließ die reiskorngroße „Ben-Gurion-Nudel“ entwickeln. Kein Mensch ist unersetzlich, schon gar nicht in einer Demokratie, wie Israel es von Anfang an war. Aber Ben Gurion war nahe daran, da sind sich alle einig. Fragt man Israelis heute nach Ben Gurion, so hört man immer wieder: So einen bräuchten wir jetzt.

Die Sternstunde seines Lebens war die Verlesung der Unabhängigkeitserklärung Israels am 14. Mai 1948 im Museum von Tel Aviv. Am Ende klopfte er mit dem Hammer auf das Rednerpult und erklärte: „Der Staat Israel ist geboren!“ Nach fast 2000 Jahren Diaspora, unzähligen judenfeindlichen Pogromen, mehr als 50 Jahren zionistischer Bewegung und zwölf Jahren Nationalsozialismus mit sechs Millionen ermordeten Juden ein geradezu biblischer Moment. Viel Zeit zum Innehalten oder Feiern blieb aber nicht. Am nächsten Morgen begannen die umliegenden arabischen Staaten ihren Angriff auf Israel.

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Dabei ging es ihnen nicht um die Schaffung eines palästinensischen Staates, sondern darum, sich möglichst viel Territorium in das jeweils eigene Staatsgebiet einzugliedern. Man muss offenbar immer wieder daran erinnern: Es hat auch vor 1948 keinen palästinensischen Staat gegeben. Israel, das heute von vielen als Kolonialmacht delegitimiert werden soll, war in gewisser Weise selbst ein Projekt der Dekolonialisierung – so wie die arabischen Nachbarstaaten, die den winzigen Staat der Juden überfielen. Ob Libanon, Syrien, Jordanien oder Irak – all diese Staaten waren aus der „Erbmasse“ des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende des britischen und französischen Kolonialimperiums nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Im insgesamt dünn besiedelten Palästina, das von den Briten verwaltet wurde, lebten damals rund 534.000 Juden, etwa 30 Prozent der Bevölkerung. Es war die Zeit der Grenzziehungen am Reißbrett. Palästina als Staat war zunächst nicht dabei.

Im November 1947 stimmten dann aber die Vereinten Nationen – mit den Stimmen der USA und der Sowjetunion – für die Gründung zweier Staaten, eines........

© Berliner Zeitung


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