„Wie hört man leicht von fremden Untergängen.“
Albrecht Haushofer (1903-45), Moabiter Sonett XLVI: Untergang

Im bergigen Karabach, das die Armenier Arzach nennen, geht dieser Tage eine jahrtausendealte armenische Geschichte zu Ende. Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert gehörte es als Provinz Arzach zum Großkönigreich Tigranes des Großen, unter dem sich Armenien vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer erstreckte. Vier Jahrhunderte später gründete der in Armenien als apostelgleich verehrte Tiridates 301 die weltweit erste christliche Staatskirche.

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,The past has been a mint
Of blood and sorrow.‘
Langston Hughes (1901–67)

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Doch schon zwei Generationen später erschütterte ein Königsdrama Armenien: Bereits Tiran, der Enkel des apostelgleichen Königs, förderte den Arianismus, womit er den Klerus und die wichtigste Stütze des Königsthrons gegen sich aufbrachte: das die Oberbefehlshaber und Prinzenerzieher Armeniens stellende Geschlecht der Mamikonjan, das mit Ostrom verbunden war.

Damit nicht genug, ließ Tiran seinen obersten Eunuchen bedeutende Fürstengeschlechter ausrotten und krönte seine Tyrannei, indem er 347 den Katholikos Hesychios für dessen Strafpredigten erschlagen ließ, als dieser ihm die kirchlichen Sakramente verweigerte. Auf diesen Frevel folgte drei Jahre später die Nemesis, als der persische Großkönig Schapur II. den König mitsamt seiner Familie Gefangen nahm und blendete. Eine Erhebung armenischer Adliger und der Thronverzicht des Geblendeten zugunsten seines Sohnes bewegten den Perserschah zur Milde, so dass er der armenischen Königsfamilie schließlich die Freiheit schenkte.

350 bestieg sein Sohn Arsakes II. den Thron, folgte zunächst dem Rat des heiligen Katholikos Nerses I. dem Großen und heiratete die christliche Oströmerin Olympia. Dass dies schiefgehen musste, wusste „Athanasius Contra Mundum“ von Alexandria der heilige Patriarch und Bekenner: In einem Sendschreiben an die Wüstenväter schilt er Kaiser Constantius II. Eine gebildete Senatorentochter mit einem Barbarenkönig zu verheiraten und nicht mit einem Kaiser, das heißt Perlen vor die Säue werfen.

Die „Säule der Kirche“ sollte recht behalten: Schon bald folgte der junge König dem väterlichen Beispiel: Er erhöhte den obersten Eunuchen und förderte auch den Arianismus. Zum Verhängnis wurde dem König die bildschöne Gattin seines Neffen Gnel: die Fürstentochter Pharantzem aus Sjunik, zu Jugendzeiten für ihre Tugend gepriesen. Schönheit und Tugend Pharantzems waren auch dem zweiten Königsneffen Tirit nicht entgangen. Er begehrte Pharantzem und stiftete den Onkel an, den Vetter zu ermorden: Gnel strebe nach dem Königsthron, er selbst wolle den Onkel schützen. Der Onkel folgte dem Rat des falschen Neffen, ließ den ehrlichen Gnel töten, erkannte den Irrtum des Neffenmordes, den er durch Hinrichtung des falschen Neffen sühnte, und heiratete die schöne Pharantzem: Nach persischer Sitte nahm er sie zur Zweitfrau.

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Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Der geblendete Vater des Vetternmörders hielt dem königlichen Sohn eine Strafpredigt und fand beim Sohn keine Schonung, berichtet der heilige Moses von Choren, der armenische Herodot: Auf den Vettern- folgte der Vatermord.

Glück fand der königliche Familienmörder bei Pharantzem jedoch nicht: Für seinen dunklen Teint und seinen üppigen Haarwuchs strafte sie den sie mörderisch liebenden Gatten einerseits mit Verachtung, beneidete andererseits Olympia, sein oströmisches rechtmäßiges Weib, das der polyamore König, wie der Chronist Faust in seiner Epischen Geschichte Armeniens berichtet, ein Quentchen mehr liebte als sein ruchlos erworbenes Kebsweib.

Da wurde die ohne Trauschein unglückliche Kebse Pharantzem schwanger und gebar dem König im Jahre 360 einen strammen Stammhalter: seinen Sohn Papas. Da die kluge Oströmerin sich jedoch hütete, andere Speisen als die von ihren Zofen gereichten zu sich zu nehmen, steigerte Pharantzem ihre Mordlust zum Frevel: Sie ließ sich und ihren Sohn legitimieren, indem sie der Nebenbuhlerin die heiligen Gaben der die Kommunion reichen ließ, denen sie Gift beigemengt hatte.

Die königsfamilären Greuel erzürnten den heiligen Katholikos Nerses: Zu Lebzeiten des Königs erschien er nie wieder am Königshof. Auch Pharantzem zerriss das Band zur Kirche. Ihren Sohn Papas widmete sie den Dewen: von Zarathustra als Dämonen entlarvte indische Götter, id est verkappte Teufel.

Lange vor Heidegger hatte Zarathustra bereits im zweiten vorchristlichen Jahrtausend prophetisch korrekt erkannt: Nur ein Saoschjant, nur ein Heiland kann uns vor diesen retten. Das Schicksal der Königsfamilie war tragisch. Der König wurde wiederum vom persischen Großkönig gefangengenommen und beschloss in einem „Schloss des Schweigens“ genannten Verlies der Vater- und Neffenmörder sein Leben durch Selbstmord.

Wiederum in Gefangenschaft des Perserschahs geriet auch seine Gattin. Der Großkönig überlieferte sie einem schändlichen Tod. Um Armenien und sein Königshaus zu erniedrigen, ließ er in seiner Hauptstadt ein Gerüst errichten, auf dass er die Königin führen ließ. Er versammelte sein Heer, die Edlen des Reiches, das ganze Volk seines Landes und bot jedermann die Möglichkeit, sie zu schänden. So schrecklich starb Pharantzem. Der von den Teufeln besessene Papas wurde verrückt, trieb Unzucht, förderte den Arianismus, raubte Kirchenland, vergiftete den heiligen Katholikos Nerses für dessen Strafpredigt und wurde bei einem Festmahl erschlagen, berichtet Faust der Chronist.

So weit das Königsdrama aus Verrat, Mord und Häresie, das den Untergang des Großarmenischen Königreichs herbeiführte, die chronique scandaleuse arsacide. Wäre es erfunden, wäre es nicht tragisch.

Arsacid fun facts matter: Der apostelgleiche Tiridates III. nahm noch vor seiner Thronbesteigung und Taufe 281 als erster Armenier an den Olympischen Spielen teil und gewann im Ringkampf. König Varasdates, der als Statthalter für Rom das Arsakidenreich noch von 374 bis 378 regierte, nahm 369 an den Spielen teil und gewann als letzter namentlich bekannter antiker Olympionike im Faustkampf.

387 teilten Römer und Perser das durch arianische Königsdramen zerrüttete Armenien unter sich auf, die Arsakiden dienten fortan den Römern und Persern als Statthalter.

Noch einmal bäumte sich Armenien gegen die Fremdherrschaft auf: Als der persische Großkönig im fünften Jahrhundert von ihnen den Glaubensabfall vom Christentum verlangte, erhielt er postwendend aus Armenien die Antwort: „Von diesem Glauben kann uns niemand abbringen, weder Engel noch Menschen, weder Schwert noch Feuer, noch Wasser, noch irgendeine Art grausamer Folter“. Das Land erhob sich unter dem nationalheldenhaften Herzog Wardan Mamikonjan (387-451). Nach gemeinsamem Empfang der Kommunion am 26. Mai 451 zogen die Armenier unter seinem Befehl in die Schlacht von Awarajr gegen eine dreifache persische Übermacht ins Feld, gegen Kriegselefanten, gegen die Reiterei der Neuen Unsterblichen, gegen glaubensschwache armenische Überläufer unter Befehl des ruchlosen Wassak Sjuni. Ein von Kaiser Theodosius entsandtes römisches Hilfsheer kam zu spät, Wardan fiel als Blutzeuge. Die Schlacht ist für das armenische Gedächtnis so bedeutsam wie für das serbische Selbstverständnis die Schlacht auf dem Amselfeld.

Vor den siegreichen Persern flohen viele Adlige und Geistliche und freiheitsliebende Bauern ins Bergland von Arzach, das sich zur armenischen Gebirgsfestung, zu einem réduit armenischer Freiheit, des antiimperialen Widerstandes gegen das Großkönigreich der Sassaniden und ihrer persischen Nachfolgereiche entwickelte. Jenes bergige réduit Arzach war im zweiten vorchristlichen Jahrhundert eine armenische Provinz geworden und gehörte seit der römisch-persischen Teilung Armeniens im Jahre 387 zur persischen Satrapie Albanien. Im bergigen Arzach verschwägerten sich die seit dem vierten Jahrhundert ebenfalls christlichen – nicht mit den balkanischen Skipetaren verwandten – Albaner im Laufe der Jahrhunderte mit den Armeniern.

Mit der Makkabäergestalt Wardan Mamikonjan ging Großarmenien endgültig unter. Auf der Ebene von Awarajr wurde das Rückgrat Armeniens gebrochen. Im Grunde hat sich Armenien nie wieder von diesem Schlag erholt. Die armenische Kultur beklagt seither den Verlust und ist von tiefer Schwermut geprägt. In melismatischer Präzision kommt diese Melancholie in der lähmenden Klage der armenischen Dudukflöte zum Ausdruck. Die Verbindung zu den eigenen Vätern ist abgerissen. Die Sehnsucht nach dem verlorenen Erbe, nach der Fülle der Frühzeit verkörpert der Kranich, ein Nationalsymbol Armeniens.

Geistesgeschichtlich war die Niederlage von Awarajr allerdings noch ungemein folgenreicher. Die unter persischer Herrschaft lebenden Armenier konnten im Herbst 451 nicht zum Konzil von Chalkedon erscheinen. Die Verbindung zum Westen riss ab, unter sassanidischem Druck lösten sich die Armenier des Perserreiches aus der Gesamtkirche und nahmen – anders als ihre georgischen Nachbarn – die Beschlüsse des Konzils von Chalkedon über die zwei Naturen Christi (der göttlichen und der menschlichen) in einer Person nicht an. Die Perser verfolgten in der Folgezeit die gesamtkirchlichen Anhänger der Zweinaturenlehre, die sie für Parteigänger des Oströmischen Reiches hielten.

Im römischen Machtbereich blieben die Armenier der Gesamtkirche jedoch verbunden und stellten zahlreiche Kaiser und mehrere Patriarchen von Konstantinopel: sowohl im achten Jahrhundert den Kaiser Leo III., der den Bildersturm auslöste, als auch im neunten Jahrhundert die heilige Kaiserin Theodora II. aus dem Heldengeschlecht der Mamikonjan, die 843 die Bilderverehrung wiederherstellte – ein Ereignis, das in der Orthodoxen Kirche alljährlich am ersten Sonntag der Großen Fastenzeit als Triumph der Orthodoxie gefeiert wird. Im neunten Jahrhundert stellten sie den Patriarchen, der die Geschichte Europas bis heute prägte: Der heilige Photius erteilte den Brüdern Kyrill und Method den Segen zur Slawenmission.

Deutschland sollte eine andere oströmische Armenierin prägen: Theophanu, die Gattin Kaiser Ottos II. Würde Judith Butler Urkundenforschung betreiben, wäre sie vor gender trouble entzückt. Theophanu unterzeichnete nicht als Kaiserin, sondern oströmisch und salisch korrekt als Kaiser: Theophanius gratia divina imperator augustus. Als nicht minder bedeutend für die Weltgeschichte erwies sich im siebzehnten Jahrhundert in der Kaiserstadt Wien ein anderer Armenier: Johannes Theodat.

Der Händler aus Konstantinopel leistete Kaiser Leopold während der zweiten Türkenbelagerung Wiens Spionagedienste, ermöglichte als Kurier das rechtzeitige Eintreffen des Ersatzheeres zur Schlacht am Kahlenberg und rettete so polyglott das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.

Der „Türkenpoldi“ Kaiser Leopold dankte es dem Armenier, indem er ihm für seine Kurierdienste am 17. Jänner 1685 für zwanzig Jahre die Hoffreiheit erteilte, das „türkische Getränk, als Caffe, The und Scherbet, zu praeparieren“. Mit Folgen für die Geistesgeschichte: In seinem Wohnhaus am Haarmarkt eröffnete der Armenier Johannes Theodat das erste Wiener Kaffeehaus.

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Zurück nach Arzach: Hier erhob sich nach der arabischen Eroberung Persiens im siebten Jahrhundert im Jahre 821 der armenische Fürst Sahl Smbatjan, begründete das Herrscherhaus Chatschen. Benannt nach dem armenischen Wort chatsch für Kreuz, bestimmte das Herrscherhaus bis ins 19. Jahrhundert die Geschicke des Landes.

Das Wort begegnet uns auch in den Chatschkaren, den Kreuzsteinen, welche die Armenier nach der Befreiung von den Arabern im 9. Jahrhundert errichteten. Das Herrscherhaus Chatschen erklärte im Jahre 1000 Arzach zum Königreich, welches auch nach der endgültigen Unterwerfung Restarmeniens durch die turkstämmigen Seldschuken 1170 als eine Art armenisches Montenegro unabhängig blieb – oder um mit René Goscinny zu sprechen: als unbeugsames gallisches Dorf, als eine Insel, umgeben von Besatzungsland.

Arzach bestand auch nach der Eroberung durch die mongolischen Ilchane 1261 weiter fort als autonomes Fürstentum. Seine Macht brach erst Ende des vierzehnten Jahrhunderts Tamerlan, der „Schrecken der Welt“, sodass sich Arzach in fünf Fürstentümer aufgliederte, die 1603 unter persisches Protektorat gerieten. Noch 1726/27 konnten sich diese gegen eine osmanischen Übermacht wehren, wurden 1750 jedoch endgültig vom Dschewanschirkhan Panah-Ali (1693-17619) unterworfen und seinem Khanat Karabach eingegliedert.

Führte diese Unterwerfung zu einer Auswanderung von Armeniern und einer Einwanderung turkstämmiger Muslime in das Land, setzte 1805, als Karabach russisches Protektorat wurde, wiederum eine Gegenbewegung ein, sodass das heutige Bergkarabach 1823 zu 90 Prozent von Armeniern besiedelt war. Die russische Verwaltung stützte sich zunächst auf die agileren Armenier, protegierte jedoch ab 1896 unter Fürst Golizyn (1838-1907) als Gegengewicht die Muslime.

Blicken wir noch einmal nach Westarmenien: Galten die Armenier über Jahrhunderte im Osmanischen Reich als das treueste Millet, als treueste Nation des Sultans, in deren Händen zeitweise die Finanzverwaltung des Reiches lag, denen die Sultane den Handel entlang der Seidenstraße anvertraut hatten, änderte die Moderne das Verhältnis zwischen Türken und Armeniern. Die Ideen der Französischen Revolution wurden von beiden Seiten unterschiedlich aufgenommen: Forderten die 1890 gegründeten revolutionären armenischen Daschnaken Gleichberechtigung als Bürger, favorisierten die 1889 gegründeten Jungtürken die Idee der nation une et indivisible.

Hatten sich auf dem Berliner Kongreß 1878 die Türkei in Artikel 61 des Vertrages mit Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Großbritannien, Italien und Russland zum Schutz der Armenier und zur Gleichberechtigung der Christen verpflichtet, sollten jedoch weder der Sultan noch ihre christlichen Garantiemächte die Armenier schützen.

Inspiriert vom Preßburger Forschungsreisenden Hermann Bamberger (1832-1913), der als britischer Geheimagent im Osmanen- und Zarenreich nach den turanischen Ursprüngen der Magyaren forschte, seinen Namen überphilologisch zu Arminius Vámbéry magyarisierte, vom Judentum zum Islam übertrat und als Turkologentraum ein Luftreich Turan von China bis zur Adria entwarf, wollten sich nun auch Jungtürken wie Ziya Gökalp (1876-1924) und Enver Pascha (1881-1922) für die auf dem Balkan und im Orient erlittenen osmanischen Verluste durch die Vereinigung der Turkstämme Eurasiens unter türkischer Führung entschädigen. Inmitten des imaginierten turanischen Großreiches lag jedoch als Sperrriegel Armenien, der sich nur blutig beseitigen ließ, dessen Intellektuelle nun selbst, wenn nicht nach Unabhängigkeit, so doch nach Autonomie strebten.

Dieser Widerspruch wurde durch Massaker gelöst: Erstmals 1894-96 unter Sultan Abdülhamid II. (1842-1918) in den von der New York Times als Armenian Holocaust betitelten Gräueln mit bis zu 300.000 Toten, welche zu Empörung, jedoch keinem Eingreifen seitens der Europäer und Amerikaner führten, eine weitere armenische Auswanderungswelle aus dem Osmanischen Reich ins Zarenreich und Anschläge der nun radikalisierten Daschnaken im Osmanischen und Zarenreich auslösten mit staatlichen Repressionen als Folge, welche wiederum mit Anschlägen beantwortet wurden. Die Spannungen zwischen Armeniern und Türken in Anatolien machten an der Grenze nicht Halt, strahlten in den Südkaukasus aus und entluden sich während der Russischen Revolution von 1905 in den sogenannten armenisch-tatarischen (so die damalige Bezeichnung für muslimische Aserbaidschaner) Pogromen.

In Kilikien folgten 1909 die nächsten Armeniergreuel. Nachdem der Sultan sie zu entmachten versucht hatte, massakrierten die 1908 an die Macht gelangten Jungtürken, von denen sich die Armenier Gleichberechtigung erhofft hatten, bis zu 20.000 Armeniern. Vor der kilikischen Küste kreuzten währenddessen Kriegsschiffe Deutschlands, Österreichs, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Russlands – der Garantiemächte der Armenier – und der USA, ohne einzuschreiten.

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Der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan bezeichnete den Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Den Jungtürken bot er die Möglichkeit, sich ungehindert der Armenier zu entledigen. Nach der vernichtenden Niederlage an der Kaukasusfront im Januar 1915 beschuldigten die Jungtürken die Armenier des Dolchstoßes gegen das osmanische Heer.

Im Februar wurden die im Heer dienenden Armenier entwaffnet, in Kilikien setzten die Deportationen ins Landesinnere ein, Ende April ließ Innenminister Talat Pascha (1874-1921), die treibende Kraft des Armeniermordes, die hauptstädtischen Intellektuellen verhaften.

Im Mai verabschiedete das osmanische Parlament das Deportationsgesetz: Hunderttausende Armenier wurden bis ins Jahr 1916 mit Viehwagen der Badgadbahn deportiert oder auf Todesmärsche in die Syrische und Mesopotamische Wüste geschickt. Etwa eine halbe Million kam bereits vor dem Aufbruch oder unterwegs ums Leben. Auch die Ankömmlinge wurden noch massakriert.

1919 bezifferte das osmanische Innenministerium die Zahl der armenischen Opfer auf 800.000, Gustav Stresemann vermerkte 1916 nach einem Gespräch mit Enver Pascha in seinem Tagebuch: „Armenier-Verminderung 1–1½ Millionen“. Die Entente protestierte bereits 1915 gegen den „Ausrottungsfeldzug gegen die Armenier“, Reichskanzler von Bethmann Hollweg erklärte hingegen, es sei das deutsche Ziel, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“

Laut dem jüdischen Religionswissenschaftler Pinchas Lapide (1922-97) verhinderte die Intervention des Kaisers zumindest die ebenfalls noch geplante Ermordung der palästinensischen Juden.

Im Vertrag von Sèvres sicherten die Siegermächte der Entente 1920 Armenien westarmenische Gebiete im östlichen Anatolien zu. Die Grenze dieses Gebietes sollte der amerikanische Präsident mit der sogenannten Wilson-Linie ziehen. Der armenische Gewinn sollte sich als Pyrrhussieg erweisen. Durch eine levée en masse schlug Mustafa Kemal die Ententemächte zurück. Gegen die Abtretung von Zypern an Großbritannien und des Dodekanes und Libyens an Italien gaben die Ententemächte 1923 im Vertrag von Lausanne die Idee der Schaffung eines westarmenischen Territoriums auf. Der in den Artikeln 37-45 des neuen Vertrages garantierte Schutz für die nicht-muslimischen Minderheiten sollte folgenlos bleiben.

Vom einstigen anatolischen Westarmenien blieb nur der geographische Name in Geschichtsatlanten, das im Zarenreich gelegene Ostarmenien blieb fortbestehen. Es wurde nach der Russischen Revolution von 1917 ebenso wie Karabach Teil der Transkaukasischen Föderativen Republik. Nachdem 1920/21 die Bolschewiki Transkaukasien erobert hatten, beriet das Kaukasische Büro (Kawbjuro) des ZK der RKP(b) über die Zugehörigkeit Bergkarabachs.

Am 3. Juni 1921 entschied es zugunsten Armeniens. Doch nachdem der antibolschewistische armenischen Widerstand in Sangesur gebrochen war, bestand für die neuen Machthaber kein Grund mehr für die Rücksichtnahme auf armenische Interessen. Um das am 16. März 1921 in Moskau mit der kemalistischen Türkei geschlossene Bündnis zu stärken, revidierten die Bolschewiki nun am 5. Juli ihre Entscheidung zugunsten Aserbaidschans. Dem mehrheitlich armenischen Bergkarabach gewährten sie darin Gebietsautonomie. An diesem Status des Gebiets sollte sich trotz armenischer Petitionen bis zum Ende der Sowjetunion nichts ändern. Wie schon zu Zarenzeiten zogen im Frühjahr aserbaidschanische Wanderhirten ins Hochland der sesshaften Armeniern und kehrten im Herbst ins Tal zurück.

Laut der letzten sowjetischen Volkszählung waren 1989 von den 188.000 Einwohnern Bergkarabachs 73,5 Prozent Armenier und 25,3 Prozent Aserbaidschaner. Doch beklagten die Armenier Bergkarabachs schon zu Sowjetzeiten einen von Baku behördlich geförderten Zuzug von Aserbaidschanern in ihr Bergland, weshalb sie 1987 – ein Jahr nach der Verkündigung der Glasnost (russ. Stimmhaftigkeit oder Offenheit) durch Generalsekretär Michail Gorbatschow (1931-2022) auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU – in einer Petition an Moskau um den Anschluss des Gebietes an Armenien ersuchten.

Für einen solchen Anschluss stimmte am 20. Februar 1988 das Parlament von Bergkarabach. Möglicherweise löste diese Abstimmung am folgenden 27. Februar das Armenierpogrom im aserbaidschanischen Sumgait aus. Armenisch-aserbaidschanische Ausschreitungen mit Toten auf beiden Seiten, Fluchtbewegungen und Vertreibungen von Armeniern aus Aserbaidschan und Aserbaidschanern aus Armenien und Bergkarabach setzten ein.

Die armenisch-aserbaidschanischen Ausschreitungen mündeten nach Auflösung der Sowjetunion am 26. Dezember 1991 in einen vollumfänglichen Krieg um Bergkarabach, bei dem die Armenier die wohlwollende Unterstützung der Russen erfuhren, die ihnen sowjetische Waffen überließen und als kosakische Freischärler auf armenischer Seite kämpften, während afghanische Mudschahedin und tschetschenische Freiwillige die aserbaidschanischen Reihen stärkten.

Als Russland am 12. Mai 1994 einen Waffenstillstand vermittelte, kontrollierten die Armenier außer dem Großteil des zuvor autonomen Gebiets eine Landverbindung zur Republik Armenien und eine Sicherheitszone im Süden und Osten des Bergkarabachs. Die armenische Regierung lehnte sich in den Folgejahren eng an Russland an und beteiligte sich an Moskaus wirtschaftlichen und militärischen Integrationsprojekten.

In der Republik Armenien regierte seit 1991 zunächst der 1945 in Aleppo geborene Präsident Lewon Ter-Petrosjan, der 1998 von seinem aus Bergkarabach stammenden Premierminister Robert Kotscharjan (*1954) gestürzt wurde, als er bei Verhandlungen mit Aserbaidschan zur Beilegung des Streites um Bergkarabach zu allzu großen Zugeständnissen bereit war. Kotscharjan hatte zuvor als General in der Armee Bergkarabachs gedient und das Gebiet ab 1992 als dessen Premier und von 1994 bis 97 als dessen Präsident regiert. Bis 2018 bestimmten aus Karabach stammende Politiker mit engen Banden zu Russland die Geschicke Armeniens.

Als Kritiker dieser Bindung trat der 1975 in Armenien geborene Journalist und Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan auf, der 2018 in der Samtenen Revolution unter der Losung der Bekämpfung der Korruption und Armut die Regierung stürzte und am 8. Mai zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.

Bereits als Oppositionspolitiker hatte er 2013 gegen den Beitritt Armeniens zur von Russland gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion und 2016 gegen die Aufstellung einer unter russischem Befehl stehenden Flugabwehr gestimmt: Armenien solle eine eigene Flugabwehr aufbauen.

Nach der Samtenen Revolution kühlte sich das Verhältnis zur nördlichen Schutzmacht spürbar ab: Das russische Programm wurde aus dem kostenlosen Senderpaket des armenischen Fernsehens entfernt, bei Demonstrationen wurden russische Flaggen verbrannt. Weiter verschlechterte sich das Verhältnis, als die Sonderermittlungsbehörde Armeniens 2019 Anklage gegen Russland verbundene Politiker erhob: die karabachstämmigen ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan (1998-2008) und Sersch Sargsjan (2008-18, *1954).

Als das armenische Verfassungsgericht darauf eine Beschwerde der Anwälte Kotscherjans an die Venedig-Kommission und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schickte, leitete Paschinjan mit Unterstützung der Open Society Foundation eine Verfassungsreform ein und stellte sich gegen die gesamte ehemalige Regierungselite.

Der innere Auseinandersetzung in Armenien und die Zeichen der Abkühlung zwischen Moskau und Jerewan wurden in Baku sehr aufmerksam verfolgt. Im Vorfeld des Rückeroberungsfeldzuges von 2020 wurden russische Politologen im aserbaidschanischen Fernsehen wiederholt gefragt, ob Russland Armenien im Kriegsfall unterstützen würde. Gleichzeitig modernisierte Aserbaidschan mit den Einnahmen aus dem Gasboom seine Armee und rüstete sie mit türkischen und israelischen Drohnen auf. Über vergleichbare Einnahmequellen verfügt Armenien nicht: „Hajastan – Karastan“, Armenien ist Steinland, weiß das Sprichwort. Aus dem Stein kann man kein Wasser wringen.

Die Spjurkarmenier, die in Frankreich und Amerika starke armenische Diaspora, konnte zwar in den vergangenen Jahren die internationale Anerkennung des Armeniermordes von 1915 als Genozid erreichen, nicht jedoch ausreichende Mittel zum militärischen Schutz der Kaukasusarmenier bereitstellen. Für Israel dagegen ist Baku von zentraler strategischer Bedeutung. Von Aserbaidschan lässt sich der Iran abhören, von dessen Luftwaffenstützpunkt Sitalcay lassen sich Angriffe auf die Islamische Republik fliegen.

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Vom 27. September bis zum 10. November 2020 eroberte Aserbaidschan im ersten Drohnenkrieg der Weltgeschichte den Großteil Bergkarabachs und die umliegenden Gebiete zurück. Auch der von Russland vermittelte Waffenstillstand, bei dem russische Truppen die Waffenstillstandslinie zum armenischen Restgebiet Bergkarabachs kontrollieren sollten und der die Statusfrage Bergkarabachs noch offenhielt, wurde schon bald brüchig. Im Mai 2021 drangen aserbaidschanische Truppen sogar auf das Territorium der Republik Armenien selbst vor.

Nochmals verbesserte sich die strategische Position Aserbaidschans durch den Ukrainekrieg, der russische Kräfte in der Ukraine band und so ein Eingreifen der Russen im Kaukasus erschwerte. Die EU wiederum schloss 2022 ein Gasabkommen mit Aserbaidschan ab, um russische Gaslieferungen zu ersetzen. Im Januar 2023 sagte Paschinjan das mit den Russen geplante Manöver Unzerstörbare Bruderschaft – 2023 ab, dafür kündigte das armenische Verteidigungsministerium im September Nato-Partnerschaft für den Frieden das armenisch-amerikanische Militärmanöver an, das die Armenier auf internationale Friedensmissionen vorbereiten sollte.

Ohne dem gleichzeitig in der Republik Armenien stattfindenden armenisch-amerikanischen Militärmanöver Eagle Partner 2023 überhaupt Beachtung zu schenken, eroberte Aserbaidschan in einem Blitzkrieg vom 19. auf den 20. September 2023 das armenische Restgebiet Bergkarabachs, dessen Regierung kapitulierte. Der Großteil der armenischen Bevölkerung ist bereits aus der Enklave geflohen, Nachrichten von Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung laden die Flüchtlinge ebenso wenig zur Rückkehr ein wie die Umbenennung einer Straße in Stepanakert nach Enver Pascha (1881-1922), einem der Hauptverantwortlichen für den Armeniermord von 1915, was die Beteuerungen des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew (* 1961) konterkariert, er werde für die Armenier in Karabach ein Paradies schaffen.

Durch ihren Exodus aus Bergkarabach sind die Armenier um einen Phantomschmerz, ihre Geschichte um eine Tragödie reicher geworden. Er reiht sich ein in die Geschichte der ethnischen Homogenisierungen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Paschinjan, der eine Annäherung an den Westen suchte, hatte sich im Vorfelde der jüngsten Karabachkriege von der traditionellen armenischen Schutzmacht Russland entfernt, ohne sich zuvor des militärischen Schutzes einer anderen Macht zu versichern. In einem sprunghaften Vorgehen hatte er 2019 bei einem Besuch in Stepanakert „Miazum“ (die Vereinigung Arzachs mit Armenien) skandiert, sein Verteidigungsminister gar in New York vor der armenischen Diaspora (armen. Spjurk) die Formel „Neuer Krieg – neue Territorien“ verkündet, was Baku reizte und als Abbruch der Verhandlungen interpretierte; am 6. Oktober 2022 in Prag und im Mai und im September 2023 erkannte er Aserbaidschan dann aber wiederum grundsätzlich in den Grenzen von 1991 an. Im Mai 2023 wiederholt er diese Aussage und zog gleichzeitig einen Austritt aus der von Russland angeführten Verteidigungsgemeinschaft OVKS in Betracht.

Durch den soeben erfolgten Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof, der einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hat, distanziert sich Armenien noch weiter von Moskau. Am 12. Oktober 2023 blieben sowohl Paschinjan als auch sein Außenminister dem GUS-Gipfel in Bischkek fern. Mittlerweile ist auch das Territorien der Republik Armenien selbst bedroht. Präsident Alijew erklärte derweil, dass er die Republik Armenien als historisches Territorium West-Aserbaidschans betrachtet. Das Hauptinteresse Aserbaidschans wird dabei sein, eine Landverbindung zur Türkei zu schaffen. Ein Gegenspieler ist dabei der Iran, den gerade diese Landverbindung nach Norden abschneiden würde. Je mehr sich Armenien jedoch der EU und den USA annähert, entfremdet es sich dem Iran. Alles ist im Fluss.

Seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert gehörte das Gebiet, das die Armenier Arzach nennen, zum sich vom Ararat ausdehnenden Reich von Urartu, in dem die armenische Nationalgeschichtsschreibung das Vorgängerreich Armeniens erblickt. Durch seine sprunghafte Diplomatie und seine wechselhaften Aussagen gegenüber den Nachbarländern verwandelte der armenische Premier Paschinjan Arzach, das bergige Widerstandsnest der Armenier innerhalb von zwei Jahren in Urartus Unglücksrabennest.

Durch seine sukzessive Lösung des engen Verhältnisses zu Russland seit 2018 und seine Annäherungsversuche an den Westen hat Paschinjan letzten Endes die bisherige armenische Lebensversicherung gekündigt, ohne vorher eine neue Lebensversicherung abgeschlossen zu haben.

Aus Sicht der armenischen Opposition hat er damit Karabach verschenkt und seine Landsleute verraten. Inzwischen gefährdet er auch die Republik Armenien selbst in ihrer Existenz. Empören sich in Deutschland die Gemüter über die mangelnden Kenntnisse des Wirtschaftsministers von Physik, Wirtschaft und Energie und der Außenministerin vom Völkerrecht und über ihren sprachlichen Ausdruck, so mussten die Armenier die Unerfahrenheit ihres Premierministers auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik bereits mit einem höherem Preis bezahlen: mit Land und Menschenleben.

Geht es ums physische Überleben, ist Realismus für die in ihrer nackten Existenz Bedrohten ein Gebot der Notwendigkeit. Die Mittellage verzeiht keine Fehler. Sie bestraft sie vernichtend. Glücklich sind die Völker in Randlage. 2011 wurde in Armenien Schach als Schulpflichtfach eingeführt, um das strategische Denken zu fördern. Paschinjan hat gerade eine weitere Partie verloren.

Philipp Ammon ist Historiker und Kaukasiologe. 2020 erschien im Verlag Vittorio Klostermann sein Buch über die historischen Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts: „Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation: Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jahrhundert bis 1924“.

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.

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Armenien: Wie das Land und seine Geschichte immer wieder in den Abgrund stürzten

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26.11.2023

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27.10.2023

Great Armenian Arsacid Game of Thrones

,The past has been a mint
Of blood and sorrow.‘
Langston Hughes (1901–67)

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Doch schon zwei Generationen später erschütterte ein Königsdrama Armenien: Bereits Tiran, der Enkel des apostelgleichen Königs, förderte den Arianismus, womit er den Klerus und die wichtigste Stütze des Königsthrons gegen sich aufbrachte: das die Oberbefehlshaber und Prinzenerzieher Armeniens stellende Geschlecht der Mamikonjan, das mit Ostrom verbunden war.

Damit nicht genug, ließ Tiran seinen obersten Eunuchen bedeutende Fürstengeschlechter ausrotten und krönte seine Tyrannei, indem er 347 den Katholikos Hesychios für dessen Strafpredigten erschlagen ließ, als dieser ihm die kirchlichen Sakramente verweigerte. Auf diesen Frevel folgte drei Jahre später die Nemesis, als der persische Großkönig Schapur II. den König mitsamt seiner Familie Gefangen nahm und blendete. Eine Erhebung armenischer Adliger und der Thronverzicht des Geblendeten zugunsten seines Sohnes bewegten den Perserschah zur Milde, so dass er der armenischen Königsfamilie schließlich die Freiheit schenkte.

350 bestieg sein Sohn Arsakes II. den Thron, folgte zunächst dem Rat des heiligen Katholikos Nerses I. dem Großen und heiratete die christliche Oströmerin Olympia. Dass dies schiefgehen musste, wusste „Athanasius Contra Mundum“ von Alexandria der heilige Patriarch und Bekenner: In einem Sendschreiben an die Wüstenväter schilt er Kaiser Constantius II. Eine gebildete Senatorentochter mit einem Barbarenkönig zu verheiraten und nicht mit einem Kaiser, das heißt Perlen vor die Säue werfen.

Die „Säule der Kirche“ sollte recht behalten: Schon bald folgte der junge König dem väterlichen Beispiel: Er erhöhte den obersten Eunuchen und förderte auch den Arianismus. Zum Verhängnis wurde dem König die bildschöne Gattin seines Neffen Gnel: die Fürstentochter Pharantzem aus Sjunik, zu Jugendzeiten für ihre Tugend gepriesen. Schönheit und Tugend Pharantzems waren auch dem zweiten Königsneffen Tirit nicht entgangen. Er begehrte Pharantzem und stiftete den Onkel an, den Vetter zu ermorden: Gnel strebe nach dem Königsthron, er selbst wolle den Onkel schützen. Der Onkel folgte dem Rat des falschen Neffen, ließ den ehrlichen Gnel töten, erkannte den Irrtum des Neffenmordes, den er durch Hinrichtung des falschen Neffen sühnte, und heiratete die schöne Pharantzem: Nach persischer Sitte nahm er sie zur Zweitfrau.

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Das Verhängnis nahm seinen Lauf. Der geblendete Vater des Vetternmörders hielt dem königlichen Sohn eine Strafpredigt und fand beim Sohn keine Schonung, berichtet der heilige Moses von Choren, der armenische Herodot: Auf den Vettern- folgte der Vatermord.

Glück fand der königliche Familienmörder bei Pharantzem jedoch nicht: Für seinen dunklen Teint und seinen üppigen Haarwuchs strafte sie den sie mörderisch liebenden Gatten einerseits mit Verachtung, beneidete andererseits Olympia, sein oströmisches rechtmäßiges Weib, das der polyamore König, wie der Chronist Faust in seiner Epischen Geschichte Armeniens berichtet, ein Quentchen mehr liebte als sein ruchlos erworbenes Kebsweib.

Da wurde die ohne Trauschein unglückliche Kebse Pharantzem schwanger und gebar dem König im Jahre 360 einen strammen Stammhalter: seinen Sohn Papas. Da die kluge Oströmerin sich jedoch hütete, andere Speisen als die von ihren Zofen gereichten zu sich zu nehmen, steigerte Pharantzem ihre Mordlust zum Frevel: Sie ließ sich und ihren Sohn legitimieren, indem sie der Nebenbuhlerin die heiligen Gaben der die Kommunion reichen ließ, denen sie Gift beigemengt hatte.

Die königsfamilären Greuel erzürnten den heiligen Katholikos Nerses: Zu Lebzeiten des Königs erschien er nie wieder am Königshof. Auch Pharantzem zerriss das Band zur Kirche. Ihren Sohn Papas widmete sie den Dewen: von Zarathustra als Dämonen entlarvte indische Götter, id est verkappte Teufel.

Lange vor Heidegger hatte Zarathustra bereits im zweiten vorchristlichen Jahrtausend prophetisch korrekt erkannt: Nur ein Saoschjant, nur ein Heiland kann uns vor diesen retten. Das Schicksal der Königsfamilie war tragisch. Der König wurde wiederum vom persischen Großkönig gefangengenommen und beschloss in einem „Schloss des Schweigens“ genannten Verlies der Vater- und Neffenmörder sein Leben durch Selbstmord.

Wiederum in Gefangenschaft des Perserschahs geriet auch seine Gattin. Der Großkönig überlieferte sie einem schändlichen Tod. Um Armenien und sein Königshaus zu erniedrigen, ließ er in seiner Hauptstadt ein Gerüst errichten, auf dass er die Königin führen ließ. Er versammelte sein Heer, die Edlen des Reiches, das ganze Volk seines Landes und bot jedermann die Möglichkeit, sie zu schänden. So schrecklich starb Pharantzem. Der von den Teufeln besessene Papas wurde verrückt, trieb Unzucht, förderte den Arianismus, raubte Kirchenland, vergiftete den heiligen Katholikos Nerses für dessen Strafpredigt und wurde bei einem Festmahl erschlagen, berichtet Faust der Chronist.

So weit das Königsdrama aus Verrat, Mord und Häresie, das den Untergang des Großarmenischen Königreichs herbeiführte, die chronique scandaleuse arsacide. Wäre es erfunden, wäre es nicht tragisch.

Arsacid fun facts matter: Der apostelgleiche Tiridates III. nahm noch vor seiner Thronbesteigung und Taufe 281 als erster Armenier an den Olympischen Spielen teil und gewann im Ringkampf. König Varasdates, der als Statthalter für Rom das Arsakidenreich noch von 374 bis 378 regierte, nahm 369 an den Spielen teil und gewann als letzter namentlich bekannter antiker Olympionike im Faustkampf.

387 teilten Römer und Perser das durch arianische Königsdramen zerrüttete Armenien unter sich auf, die Arsakiden dienten fortan den Römern und Persern als Statthalter.

Noch einmal bäumte sich Armenien gegen die Fremdherrschaft auf: Als der persische Großkönig im fünften Jahrhundert von ihnen den Glaubensabfall vom Christentum verlangte, erhielt er postwendend aus Armenien die Antwort: „Von diesem Glauben kann uns niemand abbringen, weder Engel noch Menschen, weder Schwert noch Feuer, noch Wasser, noch irgendeine Art grausamer Folter“. Das Land erhob sich unter dem nationalheldenhaften Herzog Wardan Mamikonjan (387-451). Nach gemeinsamem Empfang der Kommunion am 26. Mai 451 zogen die Armenier unter seinem Befehl in die Schlacht von Awarajr gegen eine dreifache persische Übermacht ins Feld, gegen Kriegselefanten, gegen die Reiterei der Neuen Unsterblichen, gegen glaubensschwache armenische Überläufer unter Befehl des ruchlosen Wassak Sjuni. Ein von Kaiser Theodosius entsandtes römisches Hilfsheer kam zu spät, Wardan fiel als Blutzeuge. Die Schlacht ist für das armenische Gedächtnis so bedeutsam wie für das serbische Selbstverständnis die Schlacht auf dem Amselfeld.

Vor den siegreichen Persern flohen viele Adlige und Geistliche und freiheitsliebende Bauern ins Bergland von Arzach, das sich zur........

© Berliner Zeitung


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