Nikolai Rimski-Korsakow, ich muss es gestehen, ist bislang für mich der Name einer Bildungslücke. Dass er die öde „Scheherazade“ geschrieben, die Werke Mussorgskis glättender Bearbeitung unterzogen und lebenslang als Kompositionslehrer gewirkt hat, genügte, um ihn als akademischen, altmodischen Langweiler abzustempeln. Wenn das Berliner Musikleben den seltenen Versuch unternahm, solchen Vorurteilen entgegenzutreten, etwa mit der „Zarenbraut“ 2013 an der Staatsoper, hielt ich mein Erscheinen für entbehrlich. Entsprechend waren die Erwartungen an die Premiere des „Goldenen Hahns“ am Sonntag an der Komischen Oper im Schillertheater; sie lassen sich so zusammenfassen: Muss das sein?

Der Leser ahnt es: Ich bin nun als Ignorant blamiert. „Der goldene Hahn“ ist ein bestürzend schönes und geheimnisvolles Stück. Der neue Generalmusikdirektor der Komischen Oper, James Gaffigan, debütiert mit ihm als Operndirigent des Hauses, und es gelingt ihm ein wunderbarer Einstand. Dass Rimski-Korsakow instrumentieren kann wie kaum einer, war nicht einmal an mir vorübergegangen, aber wie Gaffigan dieses Farbspektrum realisiert, das enthüllt eine weitere Facette am Orchester der Komischen Oper – man bemerkt in keinem Moment, dass der große romantische Klang eher selten auf dem Spielplan steht.

27.01.2024

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Alles klingt zugleich enorm leuchtend und präzise, nichts entläuft da strikter dramaturgischer Kontrolle. Und das enthüllt eine weitere Stärke der Partitur: ihr souveränes Bewusstsein hinsichtlich der angewandten Mittel. Der erwähnte „große romantische Klang“ ist eines davon, aber Rimski-Korsakows Palette ist schier unerschöpflich, vom satirischen Parlando bis zur orientalischen Phantasmagorie, deren harmonische Ausgestaltung weit über bekannte Klischees mit alterierten Skalen hinausgeht.

„Der goldene Hahn“, Rimski-Korsakows letzte Oper von 1907, ist eine Märchenoper, aber keine des treuherzig-deutschen und hinterrücks freudianischen Typs à la „Hänsel und Gretel“, sondern eine ätzend direkte Kritik an Herrscherwillkür, zu der auch ein erstaunlich offener Umgang mit Sexualität gehört. Ein König namens Dodon will seine Ruhe haben – und hat doch ständig Ärger mit den Nachbarstaaten. Um sich gegen deren Angriffe rechtzeitig wappnen zu können, kauft er einem Astrologen das titelgebende Geflügel ab, das auf einem Baum sitzt und warnt, falls fremde Truppen sich der Grenze nähern. Der Kaufpreis für das Tier bleibt vorerst offen.

Nachdem Dodons zwei Söhne getötet wurden, weil sie sich um die Königin von Schemacha gestritten hatten, kommt diese nun auch zu Dodon und verführt ihn dazu – das ist die orientalische Phantasmagorie –, ihr sein Land zu überlassen und sich mit einem Tanz vor ihr lächerlich zu machen. Angesichts eines derart unzurechnungsfähigen Herrschers ist dem Volk nicht wohl. Dodons Zugehfrau Amelfa schwingt öffentlich lose Reden. Und der Astrologe hat sich nun überlegt, was er von Dodon für den goldenen Hahn möchte: die Königin von Schemacha. Die lässt Dodon sich natürlich nicht mehr wegnehmen, er erschlägt den Astrologen, und der goldene Hahn tötet daraufhin den König.

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Im Interview bekennt der Regisseur Barrie Kosky mehrfach, er wisse auch nicht, „was das bedeutet“. Er nimmt dennoch eine entschlossene szenische Umwertung vor: Statt König, statt Märchen, statt Orient, statt Farbe gibt es auf dieser Bühne von Rufus Didwiszus braune Heide in trübem Licht und einen kahlen Baum als Wachturm für den calibanartigen Hahn. Der Astrologe mag mit langem weißem Bart noch der Aufführungstradition entsprechen, die Königin von Schemacha jedoch prangt im Kostüm von Victoria Behr nicht in bunten Orientalismen, sondern entspricht dem zeitgenössischen Typus der Femme fatale oder Kindfrau des Salome-Typs.

Dodon schließlich gibt in seinem verdreckten Unterhemd und mit seinen dünnen langen Haaren herrscherliche Ambitionen nicht einmal vor, sondern zeigt nur noch, dass die Krone ihn belastet. Die Armee besteht aus Pferdeköpfen über Männerbeinen in Strapsen. Dodons schneidige Söhne im Anzug sind leider zu dämlich, um ihn zu beerben – gut, dass sie den ersten Akt nicht überleben und im zweiten enthauptet und verkehrt herum aufgehängt vom Baum hängen.

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Das Märchen wird damit zum Endspiel beckettscher Art. Die reduzierte Farbpalette, der eine ebenso stark reduzierte Aktionspalette entspricht, wird nur zweimal aufgebrochen für ein plötzlich bunt-punkiges Volk und für einige Tänze von knackigen Jungs in knappen Palettenkleidern – um Kosky zu zitieren: Was das bedeutet, weiß ich nicht. Gleichwohl ist der Abend aufgrund der Musikalität seiner Personenführung und einer Inszenierung, die den Zuschauer zu Deutung animiert, statt ihn mit Deutung zuzuschütten, niemals eintönig.

Den zwischen King Lear und Clown delirierenden Dodon gibt Dmitry Ulyanov mit jovialem Dröhnen und Spaß am Durchdrehen, am Zusammensacken, am Herumfläzen und was an königlichem Verhalten noch so denkbar ist – ein großartiges, wild-freies und die Bühne nahezu einsam dominierendes Rollenporträt. Nach anfänglichen Intonationsproblemen ist Kseniia Proshina eine Königin von Schemacha, die mit präzisem Strahl und sicherer Höhe Kälte und Verführung schlüssig engführt. James Kryshak gibt dem Astrologen bis zum hohen E eine zynische Greisenstimme. Kurzer, begeisterter Applaus.

QOSHE - „Der goldene Hahn“ von Rimski-Korsakow an der Komischen Oper: Endspiel im Farbrausch - Peter Uehling
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„Der goldene Hahn“ von Rimski-Korsakow an der Komischen Oper: Endspiel im Farbrausch

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29.01.2024

Nikolai Rimski-Korsakow, ich muss es gestehen, ist bislang für mich der Name einer Bildungslücke. Dass er die öde „Scheherazade“ geschrieben, die Werke Mussorgskis glättender Bearbeitung unterzogen und lebenslang als Kompositionslehrer gewirkt hat, genügte, um ihn als akademischen, altmodischen Langweiler abzustempeln. Wenn das Berliner Musikleben den seltenen Versuch unternahm, solchen Vorurteilen entgegenzutreten, etwa mit der „Zarenbraut“ 2013 an der Staatsoper, hielt ich mein Erscheinen für entbehrlich. Entsprechend waren die Erwartungen an die Premiere des „Goldenen Hahns“ am Sonntag an der Komischen Oper im Schillertheater; sie lassen sich so zusammenfassen: Muss das sein?

Der Leser ahnt es: Ich bin nun als Ignorant blamiert. „Der goldene Hahn“ ist ein bestürzend schönes und geheimnisvolles Stück. Der neue Generalmusikdirektor der Komischen Oper, James Gaffigan, debütiert mit ihm als Operndirigent des Hauses, und es gelingt ihm ein wunderbarer Einstand. Dass Rimski-Korsakow instrumentieren kann wie kaum einer, war nicht einmal an mir vorübergegangen, aber wie Gaffigan dieses Farbspektrum realisiert, das enthüllt eine weitere Facette am Orchester der Komischen Oper – man bemerkt in keinem Moment, dass der große romantische Klang eher selten auf dem Spielplan steht.

27.01.2024

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Alles klingt zugleich enorm leuchtend und präzise, nichts........

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