Die Züge der Mitteldeutschen Regiobahn (MRB), die durch Sachsens malerische Dorflandschaften rollen, sind für ihre besondere Osttraditionspflege berühmt. Wo sonst lassen sich geschundene Pendlerkörper so weich in die Abteilpolstersitze fallen wie in einem leicht umgebauten Reisezugwagen aus den Restrestbeständen der Deutschen Reichsbahn? Wo sonst gibt es dieses DDR-Reisegefühl, das weder durch Klimaanlagen noch durch eine funktionierende Internetverbindung gestört wird? Berüchtigt ist die MRB hingegen für ihre frühkindliche Schienenersatzverkehrserziehung.

Vor allem auf der Dieselloklinie RE6 zwischen Chemnitz und Leipzig, wo der Bahnfrust gerade einen neuen Höhepunkt erreicht hat, nachdem die Verbindung „aus betrieblichen und personellen“ Gründen 28-mal ausgefallen war seit Beginn des Monats, 67-mal sogar, rechnet man die „baustellenbedingten“ Ausfälle hinzu. Funfact: Die Elektrifizierung der Strecke wird, nein, sollte, nein, könnte vielleicht bis 2030 abgeschlossen sein, für einen durchgehend zweigleisigen Ausbau reicht das Geld leider nicht.

Die Verschwörungstheorien nicht abgeneigten Chemnitzer glauben bereits, dass sie bewusst vom echten Großstadtleben in Leipzig ausgeschlossen werden sollen. Alle anderen wissen: Das sind die Spätfolgen der vielen Gleisstilllegungen nach der Wende.

An Verspätungen hat man sich in Chemnitz zwar seit Jahrzehnten gewöhnt, Zugausfälle werden hier routiniert weggeschimpft, und in den Ersatzzügen mit weniger als der Hälfte der gewohnten Sitzkapazität findet sich manchmal ja noch ein halber Stehplatz. Die Hoffnung, dass eines Tages ein ICE in Chemnitz halten könnte, ist ohnehin abgefahren. Nun reicht es aber wirklich. So kann man doch nicht Europas Kulturhauptstadt 2025 behandeln! Bange Frage: Hallo, weiß das niemand da draußen? Und: Können Bahnkunden nicht auch mal zu einem Warmstreik aufrufen?

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Die Lage ist so verzweifelt, dass man sogar ohne Schaum vor dem Mund nach Berlin schaut und dort auf die für Chemnitz plus Umland zuständigen Bundestagsabgeordneten Detlef Müller (SPD) und Bernhard Herrmann (Grüne). Die haben in einer gemeinsamen Mitteilung die häufigen Zugausfälle beklagt. Herrmann sagte zudem: „Der unhaltbare Zustand, dass Fahrgäste regelmäßig dicht gedrängt im Zug stehen müssen, muss zügig ein Ende haben.“ Zügig, haha, wurden dann immerhin Ersatzbusse eingerichtet, die laut MRB aber „mit bis zu 20 Minuten Verspätung starten“ sollen in Chemnitz. Man versteht nicht mal mehr den eigenen Bahnhof.

Die Personenbeförderungsprobleme bei der Mitteldeutschen Regiobahn sind vielschichtig. Die vielen Krankheitsfälle, die technischen Unzulänglichkeiten bei den Waggons und Triebfahrzeugen sind schlimm genug. Auch die fünf Lokführer, die – tja, warum wohl? – neulich zur Erzgebirgsbahn gewechselt sind, tun der MRB richtig weh. Schmerzhafter könnten jedoch die Vertragsstrafen werden, die dem Privatunternehmen nun drohen. Müller und Herrmann fordern bereits, „ein anderes Eisenbahnunternehmen zu beauftragen, das den Betrieb RE6 teilweise oder ganz übernimmt“.

Wer übrigens noch die das große Glück hatte, mit der DDR-MRB zu fahren, dem sei ein Musikvideo („Ein Song reicht“) der Band Kraftklub empfohlen. Kein Chemnitzer kann sich so prollig aus dem Zugfenster lehnen und wird dann trotzdem so begeistert in Leipzig empfangen wie der Frontmann Felix Kummer.

In der Kolumne „Ostbesuch“ berichtet Paul Linke alle zwei Wochen aus seinem Zwischenleben in Chemnitz und Umgebung. Sachsen sucks? Von wegen!

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Verspätung, Zugausfall und DDR-Reisegefühl: Das ist Deutschlands nervigste Bahnstrecke

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20.11.2023

Die Züge der Mitteldeutschen Regiobahn (MRB), die durch Sachsens malerische Dorflandschaften rollen, sind für ihre besondere Osttraditionspflege berühmt. Wo sonst lassen sich geschundene Pendlerkörper so weich in die Abteilpolstersitze fallen wie in einem leicht umgebauten Reisezugwagen aus den Restrestbeständen der Deutschen Reichsbahn? Wo sonst gibt es dieses DDR-Reisegefühl, das weder durch Klimaanlagen noch durch eine funktionierende Internetverbindung gestört wird? Berüchtigt ist die MRB hingegen für ihre frühkindliche Schienenersatzverkehrserziehung.

Vor allem auf der Dieselloklinie RE6 zwischen Chemnitz und Leipzig, wo der Bahnfrust gerade einen neuen Höhepunkt erreicht hat, nachdem die Verbindung „aus betrieblichen und personellen“ Gründen 28-mal ausgefallen war seit Beginn des Monats, 67-mal sogar, rechnet man die „baustellenbedingten“ Ausfälle hinzu. Funfact: Die Elektrifizierung der Strecke wird, nein,........

© Berliner Zeitung


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