Letztlich waren es vier Worte: „Die Vorwürfe treffen zu.“ Und dann noch mal sechs hinterher: „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.“ Viel mehr musste Gil Ofarim am fünften Prozesstag nicht sagen, Landgericht Leipzig, Saal 115, wie immer trug der Musiker und Schauspieler Schwarz. Und wie immer für alle Prozessbeobachter sichtbar sein Markenzeichen, eine Silberkette mit dem Davidstern. Und um die ging es doch die ganze Zeit, oder?

Vier plus sechs Worte, das macht ein Geständnis. Und dieses markiert schon ein überraschendes Ende für einen Gerichtsprozess, der Anfang November begonnen hatte, öffentlich aber schon seit über zwei Jahren verhandelt wird. In den sozialen Medien vor allem, also dort, wo man sich in Echtzeit eine Meinung bildet, vorverurteilt, eine Schuld vermutet, eine Wahrheit, die passt oder erst passend gemacht werden muss, etwa so: ein deutscher Jude, ein rassistischer Deutscher, Sachsen, typisch Osten, klarer Fall von Antisemitismus.

Gil Ofarim gesteht: Antisemitismus-Vorwürfe waren erfunden

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Eben nicht. Jedenfalls nicht so, wie Ofarim es behauptete und wie viele es ihm glaubten. Weil seine Vorwürfe ja sehr plausibel klangen. Weil es so hätte passieren können. Weil es so oder so ähnlich passiert, auch im Westen. Und weil man den Opfern erst mal glauben sollte, ihre Perspektive einnehmen muss. Empathie ist kein farnzösischer Stürmerstar, sondern eine im besten Falle absichtslose Nähe, die gut tut, hilft, wenn viele auf Distanz gehen.

Am 5. Oktober 2012 hatte Gil Ofarim ein Video auf Instagram gepostet, es ging viral, über vier Millionen Views, bis es in dieser Woche gelöscht wurde. Man sah einen Mann, der draußen auf einem Bordstein sitzend nach Worten suchte, mit sich und seinen Emotionen rang, um das beschreiben zu können, was ihm drinnen, in der Lobby des Hotels The Westin Leipzig angeblich widerfahren war.

„Pack deinen Stern ein“, soll der Hotelmanager Marcus W. zu ihm gesagt haben, dann dürfe er einchecken. „Wirklich?“, fragte Ofarim in seinem Video. Und endete mit: „Deutschland 2021.“ Wer wollte, kannte sofort verstehen. Das deutsche Internet explodierte an diesem Tag. Und die Solidaritätswelle, die Ofarim entgegenschwappte, spülte alles weg, was nach Zweifel klang, das vermeintliche Opfer zum potenziellen Täter machte.

Gut zwei Jahre stand das Kartenhaus, das Ofarim sich gebaut hatte. Das er in zahlreichen Interviews verteidigte, selbst dann noch, als der Verdacht aufkam, dass er gelogen haben könnte, den Stern gar nicht getragen hatte in der Hotellobby. Doch als er vor drei Wochen erstmals den Gerichtssaal betrat, war dieses Kartenhaus bereits halb eingestürzt. Ofarim war nicht der Ankläger, nicht das Antisemitismusopfer. Er war als Angeklagter nach Leipzig gekommen. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft: Verleumdung, falsche Verdächtigung sowie Betrug und falsche Versicherung an Eides statt.

Nach Ofarims Geständnis schlug der vorsitzende Richter Andreas Stadler vor, das Verfahren vorläufig gegen eine Geldauflage in Höhe von 10.000 Euro einzustellen. Die jüdische Gemeinde zu Leipzig und der Trägerverein des Hauses der Wannseekonferenz sollen jeweils die Hälfte bekommen. Dann sagte Stadler noch: „Ja, er hat einen Fehler gemacht. Aber er hat sich dazu bekannt, er hat um Entschuldigung gebeten und hat sie erhalten. Damit ist die Sache vom Tisch. Unsere Gesellschaft kennt keine ewige Verdammnis. Eines bleibt, wie es war: Antisemitismus ist eine Tatsache, der Kampf dagegen ist eine Aufgabe. Die Sitzung ist geschlossen.“

Zuletzt hatte sich eine Meinung herausgebildet, wonach dieser Prozess lediglich Verlierer haben wird. Doch als Gewinner hat nicht nur der von Ofarim zu Unrecht beschuldigte Hotelmanager das Gerichtsgebäude verlassen.

Gewonnen haben auch alle, die etwas für die Zukunft lernen können. Dass man nämlich der Versuchung widerstehen sollte, Indizien als Beweise zu gewichten. Dass man dort ein paar Schattierungen von Grau zulassen muss, wo scheinbar nur Schwarz und Weiß dominieren. Dass man seine Wahrnehmung auf Privilegien und Klischees abklopft. Und dass man sich gedulden muss mit einem Urteil, bis ein Gericht die Wahrheit herausfindet.

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Überraschendes Geständnis: Was wir aus dem Fall Gil Ofarim lernen sollten

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28.11.2023

Letztlich waren es vier Worte: „Die Vorwürfe treffen zu.“ Und dann noch mal sechs hinterher: „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.“ Viel mehr musste Gil Ofarim am fünften Prozesstag nicht sagen, Landgericht Leipzig, Saal 115, wie immer trug der Musiker und Schauspieler Schwarz. Und wie immer für alle Prozessbeobachter sichtbar sein Markenzeichen, eine Silberkette mit dem Davidstern. Und um die ging es doch die ganze Zeit, oder?

Vier plus sechs Worte, das macht ein Geständnis. Und dieses markiert schon ein überraschendes Ende für einen Gerichtsprozess, der Anfang November begonnen hatte, öffentlich aber schon seit über zwei Jahren verhandelt wird. In den sozialen Medien vor allem, also dort, wo man sich in Echtzeit eine Meinung bildet, vorverurteilt, eine Schuld vermutet, eine Wahrheit, die passt oder erst passend gemacht werden muss, etwa so: ein deutscher Jude, ein rassistischer Deutscher, Sachsen, typisch Osten, klarer Fall von Antisemitismus.

Gil Ofarim gesteht: Antisemitismus-Vorwürfe waren erfunden

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