Lech Wałęsa war ein Mann des Aufbruchs, ein Revolutionär, ein Held von Weltformat. Das darf man, egal was passiert, nicht vergessen. Er war mutig, entschlossen und bedingungslos im Einsatz für die Leninwerftarbeiter in Danzig, für Demokratie und Freiheit. Er war wie geschaffen für einen politischen Systemübergang im kommunistischen Polen. Dem gesellschaftlichen Fortschritt hingegen, na ja, dem stand er mehr hinderlich im Weg, als dass er ihn hätte ebnen können. Zu Recht selbstverliebt war er zunächst, dann wurde er selbstherrlich zuweilen.

Der große polnische Regisseur Andrzej Wajda lag einerseits richtig damit, seinen Biopic über den Gründer der Solidarność, den Freiheitskämpfer, Friedensnobelpreisträger und Schnauzbartträger Lech Wałęsa mit „Ein Mann der Hoffnung“ zu untertiteln, 2013 war das.

Anderseits hatte Wajda viele gute Gründe dafür, das Leben, das öffentliche Wirken und Wüten Wałęsas vorzeitig 1989 enden zu lassen, auf dem Höhepunkt seiner Popularität und Macht. Danach wurde der erste demokratisch gewählte Präsident Polens eine, sagen wir mal, illustre Figur der Zeitgeschichte. Über Wajdas Film sagte Wałęsa übrigens: „So ein aufgeblasener Wichtigtuer war ich aber wirklich nicht.“

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Die Frage, die man sich vor diesem Hintergrund stellen kann: Was hat dieser Lech Wałęsa, der kürzlich 80 Jahre alt geworden ist, eigentlich noch zu sagen? Und was könnten seine Worte einer von Krieg und Terror verunsicherten bis verängstigten Welt noch geben? Ein bisschen Hoffnung wäre ja nicht schlecht zurzeit. Wie man Konflikte am Verhandlungstisch löst und nicht auf dem Schlachtfeld zum Beispiel.

Am Donnerstagabend im schönen Halle an der Saale tritt Lech Wałęsa, weißer Schnurbart, weißes Hemd, ein Button mit den Farben der Ukraine, vor den Altar, richtet das Mikrofon, etwa vierhundert Zuhörer haben sich in der Marktkirche versammelt; darunter Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Halles Oberbürgermeister Egbert Geier (SPD) und Cornelia Pieper (FDP), die Generalkonsulin der Bundesrepublik in Polen.

Alle meine Erfolge basieren darauf, dass ich die Dinge praktisch sehe – wie ein Elektriker“

Viele im Publikum wechseln mühelos vom Deutschen ins Polnische und umgekehrt. Die Stimmung: vorfreudig. Und amüsiert, als Wałęsa zur Begrüßung sagt: „Alle meine Erfolge basieren darauf, dass ich die Dinge praktisch sehe – wie ein Elektriker.“ Mit praktischen Lösungen könne man alles erreichen. Da klingt er zum ersten Mal, als hätte er einen Glückskeks zu viel verschluckt.

In den vergangenen Jahrzehnten war Wałęsa ein weltweit gern gehörter Gast, ein Zeitzeuge des Friedenkampfes und Historiker seiner selbst. Häufig reiste er in die USA, wo man nie genug bekommt von heroischen Aufsteigergeschichten: vom Elektriker zum Präsidenten.

In Halle soll Wałęsa über Europa und den Zustand der Demokratie sprechen. Er betont dann – ohne sie zu benennen – gemeinsame Werte, die wichtiger seien als ein gemeinsamer Markt. Er schlägt eine neue Europäische Union vor, für die man aber erst die alte zerstören müsste. Er kritisiert – ohne genauer zu werden – die jungen Leute, die den Kommunismus wollen, weil sie nicht wissen, dass dieser nicht funktionieren könne. Und er thematisiert den Krieg gegen die Ukraine, eine neue Weltordnung, den Kampf der Systeme, wie soll es anders gehen. „Es gibt zwei Länder“, sagt Wałęsa, „die sich heute noch territorial ausbreiten wollen: China und Russland.“ Er fragt: „Welches System soll gewinnen?“ Und antwortet: „Meine Solidarność hat gezeigt, wie man kämpft.“

Letztlich wird es ein seltsamer Vortrag, wirr an manchen Stellen. Nach über zwei Stunden kann man sich nicht sicher sein: Schaute man da gerade einem Denkmal bei der Selbstdemontage zu? Hat Wałęsa das wirklich gesagt, meint er das ernst, ist das womöglich alles Satire? Oder hat man es einfach nur verlernt, die einfachen Lösungen zu sehen, weil die Komplexität die Sicht verstellt?

Im Laufe des Abends wird Wałęsa sich immer wieder als Revolutionär bezeichnen und immer wieder auch Gott einstreuen. Etwa, als er seine ganz persönliche Schöpfungsgeschichte vorstellt, mit der sich ein neues Europa erzählen ließe, eine neue europäische Wirtschaftsordnung schaffen sogar. Aber vielleicht ist das ja nur ein Witz.

Der liebe Gott, so sieht es Wałęsa jedenfalls, habe Frankreich die „besten Trauben der Welt“ geschenkt und Italien „die schönsten Bauwerke“. Also sollten die Franzosen in Zukunft vor allem Wein machen und die Italiener vom Tourismus leben. „Den Polen hat der liebe Gott leider nicht so viel gegeben“, sagt Wałęsa. „Drei Monate Sommer, schlechte Erde.“

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Doch Gott sei gerecht, und eine Sache habe sein Land nämlich doch noch bekommen: die geografische Mitte Europas. „Das ist unser Reichtum.“ Gerade, als man erleichtert nicken will, und vermutet, dass Wałęsa sein Land in die Rolle eines Chefdiplomaten erhebt, stellt er sich eine „fünfzehngleisige Bahnstrecke“ von Norden nach Süden und von Osten (beginnend im Moskau) nach Westen vor, mit Polen als Knotenpunkt. Niemand lacht. „Haben sie keine Fragen? Dann werde ich weiter monologisieren.“

Gott hat natürlich die Deutschen nicht vergessen. Überhaupt die Deutschen, die scheinen ihm sehr wichtig zu sein, ihnen traut er viel zu, viel mehr, als die Deutschen es anscheinend selbst tun oder aus Gründen wollen. Denn „so praktisch als Elektriker betrachtet“, sagt Wałęsa, gab es da ein großes Versäumnis nach 1989: „Deutschland hat nicht die Führungsrolle in Europa übernommen. Die Deutschen haben keine Lösungen vorbereitet, um Europa zu vereinen. Ihr hattet die Möglichkeit dazu. Ihr solltet jetzt an die Arbeit gehen.“ Und dann kommt der größte Coup des Abends: „Gebt mir eure Möglichkeiten und ich übernehme das für euch.“

Bereits 1980, „das weiß außer euch bislang keiner“, so erzählt es Wałęsa, habe er den damaligen bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher „inkognito“ in Paris getroffen und ihm gesagt: „Meine Bewegung wird zur deutschen Wiedervereinigung führen und dafür sorgen, dass die Sowjetunion zerfällt.“ Das sei der polnische Beitrag, erstes Kapitel. Im zweiten würden die Polen keine große Rolle spielen. „Das zweite Kapitel gehört den Deutschen.“ Genscher, so Wałęsa, habe gelacht.

Vor seiner Rede in Halle hatte Wałęsa der Mitteldeutschen Zeitung ein Interview gegeben, und in der ersten Antwort wurde klar, was man in der Marktkirche erwarten konnte. Wałęsa erzählte von einem anderen geheimen Treffen mit Genscher im polnischen Wendejahr 1989 und dass er dabei das gesagt haben will: „Die Berliner Mauer wird bald fallen.“ Genschers Antwort soll gewesen sein: „Die Mauer wird noch stehen, wenn die Bäume schon hoch über unseren Gräbern gewachsen sind.“

Für Wałęsa ist Genscher einer der „klügsten Politiker des 20. Jahrhunderts“. Und jetzt kann man sich natürlich selbst ausrechnen, wie klug Wałęsa sich selbst findet im Vergleich – der Sohn einfacher Bauern, der eine Berufsschule absolviert hatte und trotzdem Weltpolitik machte.

Liebe Russen, wir sind nicht gegen euch. Aber ihr habt ein schlechtes politisches System. Euer Präsident sollte nicht mehr als zwei Amtszeiten haben“

Könnte er immer noch, wenn man ihn ließe. Wałęsa hat nämlich einen Vorschlag mitgebracht, wie sich der Krieg in der Ukraine vielleicht beenden ließe. „Man muss jeden Russen überzeugen, über Medien, Radio, Flugblätter: ‚Liebe Russen, wir sind nicht gegen euch. Aber ihr habt ein schlechtes politisches System. Euer Präsident sollte nicht mehr als zwei Amtszeiten haben.‘“ Überhaupt sollte kein Politiker mehr als ein Mal wiedergewählt werden.

Eine Stunde vor seiner Rede, bei der Begrüßung im Stadthaus, hatte Wałęsa bereits seinen zentralen Gedanken ins Goldene Buch der Stadt Halle geschrieben: „Das Schicksal gab unserer Generation die Chance für ein klug vereintes Europa. Verspielen wir diese Chance nicht.“ Wer will da widersprechen. Recht hat er, verdammt! Niemand konnte sich einen Krieg in Europa vorstellen. Aber was kann man konkret tun? „Jemand muss das vorbereiten und klug umsetzten.“ Aber was genau? Man erfährt es nicht an diesem Abend. Oder versteht es nicht. Es sind solche Sätze, die Wałęsa zu bieten hat: „Man muss einfach die Interessen von Europa und der ganzen Welt zusammenfassen.“

Wałęsa ist ein Botschafter aus der Vergangenheit, so viel ist zumindest klar, und aus seinen Verdiensten leitet er seine Verantwortung für die Gegenwart ab. Und eine durchaus humorvolle Geringschätzung auch: „Heutige Politiker reden viel, machen wenig. Bei mir war es umgekehrt.“ Der gewaltlose Friedenskampf scheint irgendwie immer noch sein Thema zu sein. Sein Vermächtnis, und er wähnt es in Gefahr. In Halle war er aber auch aus anderen Gründen.

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Die Stadt hat im vergangenen Februar den Zuschlag bekommen, sie wird bis 2028 und für 200 Millionen Euro ein „Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation“ bauen lassen. Klingt eher so, als würde die Zukunft in der Vergangenheit liegen. Was dieses Zentrum, eine Mischung aus Kultur-, Begegnungs- und Forschungsstätte genau leisten soll, ist noch sehr vage formuliert. Die Geschichte der DDR soll neu und anders erzählt werden. Stichwort: Lebensleistungen. Es ist aber kein Wendemuseum „für die ostdeutsche Seele“ geplant, wie die westdeutsche Süddeutsche Zeitung vermutete.

Orientieren will sich Halle am „Europäischen Zentrum der Solidarność“ in Wałęsas Heimatstadt Danzig. Der Austausch läuft, weitere gegenseitige Einladungen sind geplant. Und es letztlich ist eine hübsche europäische Vorstellung, dass die deutschen Vergangenheitsaufarbeiter und Erinnerungskulturschaffenden sich bei der Errichtung eines Zukunftszentrums ein Beispiel an Polen nehmen. Vor allem Dank Lech Wałęsa.

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Lech Wałęsa in Halle: „Ich sehe die Dinge praktisch – wie ein Elektriker“

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10.11.2023

Lech Wałęsa war ein Mann des Aufbruchs, ein Revolutionär, ein Held von Weltformat. Das darf man, egal was passiert, nicht vergessen. Er war mutig, entschlossen und bedingungslos im Einsatz für die Leninwerftarbeiter in Danzig, für Demokratie und Freiheit. Er war wie geschaffen für einen politischen Systemübergang im kommunistischen Polen. Dem gesellschaftlichen Fortschritt hingegen, na ja, dem stand er mehr hinderlich im Weg, als dass er ihn hätte ebnen können. Zu Recht selbstverliebt war er zunächst, dann wurde er selbstherrlich zuweilen.

Der große polnische Regisseur Andrzej Wajda lag einerseits richtig damit, seinen Biopic über den Gründer der Solidarność, den Freiheitskämpfer, Friedensnobelpreisträger und Schnauzbartträger Lech Wałęsa mit „Ein Mann der Hoffnung“ zu untertiteln, 2013 war das.

Anderseits hatte Wajda viele gute Gründe dafür, das Leben, das öffentliche Wirken und Wüten Wałęsas vorzeitig 1989 enden zu lassen, auf dem Höhepunkt seiner Popularität und Macht. Danach wurde der erste demokratisch gewählte Präsident Polens eine, sagen wir mal, illustre Figur der Zeitgeschichte. Über Wajdas Film sagte Wałęsa übrigens: „So ein aufgeblasener Wichtigtuer war ich aber wirklich nicht.“

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07.11.2023

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Am Donnerstagabend im schönen Halle an der Saale tritt Lech Wałęsa, weißer Schnurbart, weißes Hemd, ein Button mit den Farben der Ukraine, vor den Altar, richtet das Mikrofon, etwa vierhundert Zuhörer haben sich in der Marktkirche versammelt; darunter Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Halles Oberbürgermeister Egbert Geier (SPD) und Cornelia Pieper (FDP), die Generalkonsulin der Bundesrepublik in Polen.

Alle meine Erfolge basieren darauf, dass ich die Dinge praktisch sehe – wie ein Elektriker“

Viele im Publikum wechseln mühelos vom Deutschen ins Polnische und umgekehrt. Die Stimmung: vorfreudig. Und amüsiert, als Wałęsa zur Begrüßung sagt: „Alle meine........

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