Ich darf nicht die Nationalhymne rülpsen. Spucken hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. Ich darf keine Revolution anzetteln. Ich darf nicht eigenständig Probealarm auslösen. Ein trainierter Affe kann keinen Sportunterricht geben.

Manchmal komme ich mir wie Bart Simpson vor. Als wäre ich zum Nachsitzen verdonnert worden, so wie er zu Beginn (fast) jeder Folge. Auch ich stehe dann an der Tafel und muss immer wieder irgendeinen – siehe oben – Satz schreiben. Bart in Staffel 2: „Mit dieser Einstellung komme ich nicht weiter.“ Bart in Staffel 28: „Recht zu haben ist scheiße.“

Mein Satz würde eher lauten: „Ich werde nicht behaupten, dass alle Sachsen Nazis sind.“

Habe ich auch nie behauptet. Weil es nicht stimmt. Niemals stimmen kann. Weil Schublade auf, Stempel drauf ohnehin nicht hilft. Aber andere tun das schon. Drüben im Westen. Oder in Berlin. Überall, wo man über jeden Selbstzweifel erhaben ist und eine schier unzerstörbare Arroganz pflegt.

Rechtsextremer „Widerstand“ getarnt als Bauernprotest: „Das ist erst der Anfang!“

09.01.2024

Wer die AfD stoppen will, sollte Parteimitglied werden

18.12.2023

13.01.2024

12.01.2024

13.01.2024

gestern

gestern

Scheint so ein über drei Jahrzehnte antrainierter Kniesehnenreflex zu sein, nur eben im Kopf: Ossis, zack, Nazis! Wählen die AfD oder noch weiter draußen am extrem rechten Rand. Sind abgedriftet in eine patriotische Parallelgesellschaft. Als wäre Rechtsextremismus ein Ostprodukt. Ein Chemnitzer Synapsensalat etwa und keine gesamtdeutsche Spezialität, die auch in Dortmund auf den Stammtisch kommt.

Und dann fängt jede Nachwendedebatte nicht bei null an, sondern bei minus drei. Ein Wettstreit der Empfindlichkeiten. Politisches Bullshitbingo inklusive. Dabei ist es doch so: Die reale Spaltung der Gesellschaft ist die Folge einer gefühlten, arglos dahingeraunten Spaltungsmache. Nicht umgekehrt.

In der vergangenen Woche waren die Bauern auf der Straße. An ihrer Seite Handwerker, Gastronomen, Lehrer. Ganz normale Leute, die keinen Bock mehr haben auf eine zuweilen wirr blinkende Regierungsampelanlage. Die enttäuscht sind, gefrustet bis wütend – und jetzt einfach mal ihre Fahnen in den Treckerfahrtwind hielten.

Unter ihnen als Bauernversteher getarnte Demokratiefeinde, die Spucken für Meinungsfreiheit halten. Nazis, die wahrscheinlich die Nationalhymne rückwärtsrülpsen könnten. Und in revolutionäre Probealarmbereitschaft versetzte Reichsbürger­:innen. Vor allem in Sachsen. Wieder Sachsen.

Ich lebe hier. (Alles gut, danke der Nachfrage.) Ich lebe gern hier. Im September sind meine ersten Landtagswahlen. Und es sieht zurzeit so aus, als würde die jüngst vom sächsischen Verfassungsschutz als rechtsextremistisch gelabelte AfD gewinnen, mit 30 Prozent plus X. In der Partei feuchtträumen sie schon von der absoluten Mehrheit. Aus Gründen.

Katarina Witt nimmt Abschied von Jutta Müller: „Bringen Sie den Engeln das Schlittschuhlaufen bei“

13.12.2023

Glauben im Osten: „Der einzige Erfolg der DDR war, die Kirche zu ruinieren“

04.12.2023

In Sachsen ist die AfD erstmals in ein deutsches Parlament gewählt worden. Zehn Jahre ist das her. Hier will sie den ersten Ministerpräsidenten stellen. Was durchaus passieren könnte, sollten mehrere Kleinparteien die Fünfprozenthürde mit einer Limbostange verwechseln. Die linke Resterampe. Die grüne Baerbock-Habeck-Werteunion. Die Lindner-Schuldenbremsklotz-am-Bein-FDP. Oder die Zufallskanzlerpartei SPD von Olaf-ohne-Land.

Besorgte Freunde fragen mich: Was ist da los bei euch? Alles Nazis in Sachsen? Oder einfach nur: Warum, verdammt?! Und was soll ich sagen: Früher „Ausländer raus“, heute „Remigration“. Moderat ist das neue radikal. Man will hier die AfD wählen, weil man es kann. Weil man nichts muss. Außer mit den Konsequenzen leben.

In Staffel 24 schreibt Bart Simpson an die Tafel: „Ich akzeptiere das Wahlergebnis erst, wenn die Republikaner es mir erlauben.“ Und ich muss jetzt zum Sport. Der Affe wartet schon.

In der Kolumne „Ostbesuch“ berichtet Paul Linke alle zwei Wochen aus seinem Zwischenleben in Chemnitz und Umgebung. Sachsen sucks? Von wegen!

QOSHE - „Remigration“ ist das neue „Ausländer raus!“ - Paul Linke
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

„Remigration“ ist das neue „Ausländer raus!“

15 8
15.01.2024

Ich darf nicht die Nationalhymne rülpsen. Spucken hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. Ich darf keine Revolution anzetteln. Ich darf nicht eigenständig Probealarm auslösen. Ein trainierter Affe kann keinen Sportunterricht geben.

Manchmal komme ich mir wie Bart Simpson vor. Als wäre ich zum Nachsitzen verdonnert worden, so wie er zu Beginn (fast) jeder Folge. Auch ich stehe dann an der Tafel und muss immer wieder irgendeinen – siehe oben – Satz schreiben. Bart in Staffel 2: „Mit dieser Einstellung komme ich nicht weiter.“ Bart in Staffel 28: „Recht zu haben ist scheiße.“

Mein Satz würde eher lauten: „Ich werde nicht behaupten, dass alle Sachsen Nazis sind.“

Habe ich auch nie behauptet. Weil es nicht stimmt. Niemals stimmen kann. Weil Schublade auf, Stempel drauf ohnehin nicht hilft. Aber andere tun das schon. Drüben im Westen. Oder in Berlin. Überall, wo man über jeden Selbstzweifel erhaben ist und eine schier unzerstörbare Arroganz pflegt.

Rechtsextremer „Widerstand“ getarnt als Bauernprotest: „Das ist erst der........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play