Über eine Million Menschen starben während der 872 Tage langen Blockade Leningrads, die von September 1942 bis Januar 1944 andauerte. Ein Verbrechen, das auch 80 Jahre später im Zentrum geschichtspolitischer Debatten in Deutschland und Russland steht.

Denn das russische Außenministerium fordert vom politischen Berlin auf, die Belagerung Leningrads (heute Sankt Petersburg) als Völkermord anzuerkennen. Die Berliner Zeitung berichtete darüber Mitte März. Die Bundesregierung und deutsche Diplomaten sprechen stets von einem „grausamen Kriegsverbrechen“ – ein Genozid sei es nach ihrer Lesart jedoch nicht gewesen. Wie schaut der Historiker Götz Aly auf den Völkermord-Diskurs? Wir haben ihn in seinem Büro in Berlin-Mitte getroffen.

Herr Aly, russische Behörden haben in den vergangenen Jahren wiederholt gefordert, Deutschland solle die Blockade von Leningrad als Völkermord anerkennen. Wie schauen Sie als Historiker und Politikwissenschaftler auf solche Forderungen?

Ich halte die Forderung für historisch legitim. Die deutschen Aggressoren planten 1941 die vollständige Belagerung Leningrads mit dem Ziel, dass dort ungefähr fünf Millionen Menschen hätten verhungern und erfrieren sollen. Hitler sagte, er wolle „Leningrad dem Erdboden gleichmachen“. Auch über ein vollständig zerstörtes und entvölkertes Moskau sollte nach den deutschen Plänen möglichst bald, so wörtlich, „der Pflug gehen“. Diese Pläne speisten sich aus eindeutig völkermörderischen Absichten.

Bezieht sich der russische Völkermord-Vorwurf nur auf die Blockade von Leningrad?

Der Krieg gegen Polen und später gegen die Sowjetunion waren mit Völkermordplänen verbunden. Durch die Blockade und Vernichtung sowjetischer Großstädte, durch das Abschneiden der Getreideversorgung des Nordens von den Getreideüberschussgebieten der Ukraine und des russischen Südens, sollte die sowjetische Bevölkerung nach den Plänen des deutschen Ernährungsministeriums um 30 bis 50 Millionen Menschen „reduziert“ werden – das heißt: sowjetische Kinder, Frauen und Männer sollten von ihrer Lebensbasis abgeschnitten werden und möglichst bald verhungern und erfrieren. An diesen Plänen haben ziemlich viele deutsche Intellektuelle, Bürokraten, Ernährungsfachleute, Wirtschaftswissenschaftler mitgewirkt. Sie wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mitfinanziert.

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27.03.2024

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Inwieweit unterscheidet sich denn die Belagerung von Leningrad mit anderen kriegerischen Blockaden?

Es gab auch im Mittelalter Städte, die belagert und angezündet wurden. Dabei ist immer wieder ein Großteil der Menschen umgekommen – eine Stadt mit 6000 Einwohnern war damals schon sehr groß. In Kriegen sterben immer wieder sehr viele Menschen durch die indirekten Folgen von Hunger und Seuchen. Im Fall von Leningrad geht es aber um die vorsätzliche und gewollte Zerstörung der zweitgrößten und zweitwichtigsten Stadt eines Landes und um den von vornherein gewollten Hungertod von fünf Millionen Kindern, Frauen und Männern.

Allerdings ist ja gerade in den westdeutschen Bundesländern immer noch ein Narrativ weitverbreitet, es handele sich bei der Blockade von Leningrad um eine militärische Belagerung, die „tragischerweise“ viele Opfer gefordert hätte, aber im Grundgedanken militärischen Operationen im Mittelalter ähnelt.

Ich komme aus Westdeutschland. Uns hat man lange gar nichts über den Zweiten Weltkrieg und den einzelnen Menschheitsverbrechen gesagt. Erst durch die staatliche Aufklärung, nicht durch die elterliche, erfuhren wir etwas über den Mord an den europäischen Juden. Später dann vielleicht auch etwas über die Verbrechen der Wehrmacht und die Kriegsführung in Osteuropa. Unter Historikern war das seit 1960er Jahren auch in Westdeutschland wenig umstritten. Ernst Nolte bezeichnete den deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1963 als „den ungeheuerlichsten Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg“ der Neuzeit; Andreas Hillgruber stellte 1965 fest, es sei das Ziel der deutschen Wehrmacht gewesen, „jede Erinnerung an einen russischen Großstaat zu beseitigen“. Beide Historiker gehörten durchaus konservativen Schulen an. Das sehr präzise Buch über das beabsichtigte Hungersterben von zwei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern veröffentlichte Christian Streit 1978 in Westdeutschland.

Der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) war als 22-Jähriger mit einer Panzerdivision an der Belagerung von Leningrad beteiligt. Zeigt das nicht exemplarisch, dass Deutschland eine besondere Verantwortung trägt?

In welcher Form sich Helmut Schmidt daran beteiligt und was er sich dabei gedacht hat, weiß ich nicht. Fest steht aber, dass Millionen deutscher Soldaten die Bevölkerung der Sowjetunion als „Untermenschen“ angesehen haben, für die die völkerrechtlichen Regeln der Haager Landkriegsordnung nicht gelten würden.

Welches politische Ziel verfolgt die russische Führung mit der Forderung, Deutschland solle die Leningrad-Blockade als Genozid anerkennen?

Die Forderung wird nicht frei von der aktuellen politischen Lage erhoben worden sein. Das nimmt ihr etwas von der notwendigen Ernsthaftigkeit. Im Übrigen ist zu beachten, dass der Völkermord dank der sowjetischen Verteidigung nur zum kleineren Teil vollzogen werden konnte. Ich plädiere dafür, auf die russische Forderung mit Verständnis zu reagieren und angemessene Formen des Gedenkens zu finden. Insbesondere Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat noch im Juni 2021 anlässlich des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion in vielfältiger Weise an die damit verbundenen deutschen Verbrechen erinnert. Ich fand das sehr wichtig. Das war in dieser Ernsthaftigkeit und trotz der bereits vollzogenen Annexion der Krim eine völlig neue intensive Form des Gedenkens.

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Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dominiert die öffentliche Debatte. Droht das Unrecht, das Nazideutschland dem Sowjet-Volk angetan hat, in Vergessenheit zu geraten?

Dazu habe ich ein gutes Beispiel im Kontext der Befreiung von Auschwitz: Ich erlebte selbst, so vor einigen Jahren, das plötzlich immer betont wurde, Auschwitz sei von der Ersten Ukrainischen Front befreit worden. Das Wort Ukrainisch wurde plötzlich stark betont. Die Befreiung hat jedoch nichts mit explizit ukrainischen Soldaten zu tun. Die Bezeichnung bezeichnete die Gegenden, in der die Einheiten der Roten Armee aufgestellt worden waren. Berlin wurde unter anderem von der ersten Weißrussischen Front befreit. Derzeit haben wir es infolge des russischen Aggressionskriegs leider mit einem Riss in der gegenseitigen Verständigung zu tun. Wir sollten aber über die Gegenwart hinausdenken: Versöhnung zwischen Völkern ist eine langwierige Angelegenheit. Wir müssen weiterhin und deutlich an die Millionen russischer Familien erinnern, die fast alle Angehörige im Verteidigungskrieg gegen Deutschland verloren haben und um ihr Lebensglück gebracht wurden.

Der russische Präsident Wladimir Putin verglich während einer Pressekonferenz die Blockade von Leningrad mit der Abriegelung des Gazastreifens durch die israelischen Streitkräfte. Sind solche Vergleiche legitim?

Nein, der Vergleich ist nicht im entferntesten Sinne legitim. Ich halte ihn für widerwärtig. Er verrät viel über das verquaste, seinem jeweiligen Machtgelüsten untergeordnete historische Denken Putins. Erstens: Im Fall des Gazastreifens waren die Hamas die Aggressoren. Im Fall von Leningrad war Deutschland der Aggressor. Israel führt einen Verteidigungskrieg gegen die Hamas. Außerdem hat niemand in der israelischen Regierung bisher erklärt, dass die Menschen im Gazastreifen ausgerottet werden sollen. Das sind gewaltige Unterschiede. Ich lese gerade viele Hitler-Reden. Sie erinnern mich leider in ihrem inhaltlichen und formalen Aufbau an Putin: die völlig wahnwitzigen Ausflüge in angeblich geschichtliche Tatsachen, die ständigen Wiederholungen, die Hasstiraden gegen angebliche ausländische Verschwörer, die ordinäre Ausdrucksweise und auch die unglaubliche Härte gegen vermeintliche innere Feinde und angebliche Verräter.

Stichwort Vergleichbarkeit: Die diplomatische Note aus Moskau griff die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika auf. Die Bundesregierung hatte das Verbrechen im heutigen Namibia als Genozid anerkannt. Russland wirft Deutschland nun einen „widersprüchlichen“ Umgang im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Leningrad-Blockade vor.

Das sehe ich anders als die derzeitigen Herren im Kreml. Die Menschen in Südwestafrika waren den deutschen Kolonialherren fast wehrlos ausgeliefert. Von deutscher Seite bestand kein Plan, die Menschen dort auszurotten. Es sollte ein Aufstand mit drakonischen Mitteln niedergeworfen werden, so wie es Putin in Tschetschenien für richtig hielt. Im Fall von Leningrad bestand ein von Deutschen verfasster Plan, die zivilen Einwohner der Stadt auszurotten. Aber anders als südwestafrikanischen Herero und Nam konnte sich die Rote Armee effizient zur Wehr setzen und das Schlimmste verhindern. Diese Helden und die vielen Gefallenen der Roten Armee sind auch meine Helden. Deshalb meine ich, die deutsche Belagerung von Leningrad und die damit verbundenen Ziele passen sogar viel eher mit der Vokabel Völkermord zusammen.

Naher Osten, Afrika, Bergkarabach, jetzt Russland: Genozid-Debatten erleben eine Konjunktur. Wird mit der Definition zu unscharf umgegangen?

Ursprünglich sind wir Deutschen – indirekt – dafür verantwortlich. Der Völkermord-Begriff ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts des Holocausts Gegenstand internationalen Rechts geworden. Der Völkermordbegriff wurde allerdings relativ weich formuliert: Zwangssterilisationen, Deportationen, kulturelle Zerstörungen, noch vieles mehr fließt in den Begriff mit ein. Ich werbe dafür, etwas zurückhaltender damit umzugehen. Der Holocaust war zweifelsohne ein Völkermord. Die Blockade von Leningrad, das gewollte Verhungern- und Erfrierenlassen von mehr als zwei Millionen sowjetischen Kriegsfangenen in deutschen Lagern und die Behandlung der Zivilbevölkerungen in Polen, in der Ukraine, in Belarus und in den besetzten Teilen Russlands hatten zweifellos genozidale Züge. Sie waren Teil weit größerer genozidaler Pläne, die dank der Alliierten Armeen verhindert werden konnten. Der Krieg gegen Polen hatten in ihren Plänen, Ausführungen und Ergebnissen einen genozidalen Charakter. Diese drei waren die größten Verbrechen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg.

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Auch Reparationsforderungen werden immer wieder gefordert: Ob sie jetzt aus Polen, Griechenland oder Russland kommen. Bundesregierungen jedweder Färbungen lehnen solche Ansprüche jedoch stets ab. Wieso?

Was Deutschland an Raub, Zerstörung und millionenfachem Tod und menschlichem Unglück im Zweiten Weltkrieg angerichtet hat, ist derart schwerwiegend, dass wir es unmöglich bezahlen und materiell begleichen können. Das haben auch die alliierten Sieger 1945 so gesehen. Als Historiker dokumentiere ich alle Untaten, Verbrechen und Raubaktionen die Deutsche damals begangen haben. Ich berechne sie auch. Aber als Bürger der Bundesrepublik Deutschland muss ich auch die kleinsten Reparationsforderungen, die heute noch gestellt werden, ablehnen – weil sie insgesamt viel zu groß sind. Genauso und noch viel engherziger hat es übrigens schon die DDR gehalten.

Die deutsche Seite hat auf die diplomatische Note aus Moskau noch nicht reagiert. Glauben Sie, es wird zu einem Kniefall von Olaf Scholz im Zentrum von Sankt Petersburg kommen?

Es gibt derzeit keine Möglichkeit, dass deutsche und russische Repräsentanten derzeit auf dem Piskarjowskoje-Friedhof in Sankt Petersburg an den Massengräbern der Hunderttausenden infolge der deutschen Belagerung umgekommenen Bürger von Sankt Petersburg Kränze niederlegen und den Nachkommen der Toten ihr Mitgefühl ausdrücken. Es bleibt jedoch wichtig, dass wir an einem angemessenen Gedenken auch an die vielen russischen Toten festhalten und dieses Gedenken auch und trotz aktuellen Überfalls Russlands auf die Ukraine pflegen. Gesten, wie die Anerkennung der Belagerung Leningrads als völkermörderischen Akt, können eine Botschaft an das russische Volk sein. Wir sollten das auch im Hinblick auf eine Zeit nach Putin tun. Wissen Sie, geschichtliche Wellen sind lang, und wir sollten stets die Hoffnung behalten, dass Russland zu Europa gehört. Das würde allerdings auch bedeuten, dass wir nicht kopflos nur an den totalen Sieg der Ukraine denken dürfen.

Vielen Dank für das Gespräch.

QOSHE - Historiker Götz Aly: Deutschland soll Leningrad-Blockade als Völkermord anerkennen - Nicolas Butylin
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Historiker Götz Aly: Deutschland soll Leningrad-Blockade als Völkermord anerkennen

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Über eine Million Menschen starben während der 872 Tage langen Blockade Leningrads, die von September 1942 bis Januar 1944 andauerte. Ein Verbrechen, das auch 80 Jahre später im Zentrum geschichtspolitischer Debatten in Deutschland und Russland steht.

Denn das russische Außenministerium fordert vom politischen Berlin auf, die Belagerung Leningrads (heute Sankt Petersburg) als Völkermord anzuerkennen. Die Berliner Zeitung berichtete darüber Mitte März. Die Bundesregierung und deutsche Diplomaten sprechen stets von einem „grausamen Kriegsverbrechen“ – ein Genozid sei es nach ihrer Lesart jedoch nicht gewesen. Wie schaut der Historiker Götz Aly auf den Völkermord-Diskurs? Wir haben ihn in seinem Büro in Berlin-Mitte getroffen.

Herr Aly, russische Behörden haben in den vergangenen Jahren wiederholt gefordert, Deutschland solle die Blockade von Leningrad als Völkermord anerkennen. Wie schauen Sie als Historiker und Politikwissenschaftler auf solche Forderungen?

Ich halte die Forderung für historisch legitim. Die deutschen Aggressoren planten 1941 die vollständige Belagerung Leningrads mit dem Ziel, dass dort ungefähr fünf Millionen Menschen hätten verhungern und erfrieren sollen. Hitler sagte, er wolle „Leningrad dem Erdboden gleichmachen“. Auch über ein vollständig zerstörtes und entvölkertes Moskau sollte nach den deutschen Plänen möglichst bald, so wörtlich, „der Pflug gehen“. Diese Pläne speisten sich aus eindeutig völkermörderischen Absichten.

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Der Krieg gegen Polen und später gegen die Sowjetunion waren mit Völkermordplänen verbunden. Durch die Blockade und Vernichtung sowjetischer Großstädte, durch das Abschneiden der Getreideversorgung des Nordens von den Getreideüberschussgebieten der Ukraine und des russischen Südens, sollte die sowjetische Bevölkerung nach den Plänen des deutschen Ernährungsministeriums um 30 bis 50 Millionen Menschen „reduziert“ werden – das heißt: sowjetische Kinder, Frauen und Männer sollten von ihrer Lebensbasis abgeschnitten werden und möglichst bald verhungern und erfrieren. An diesen Plänen haben ziemlich viele deutsche Intellektuelle, Bürokraten, Ernährungsfachleute, Wirtschaftswissenschaftler mitgewirkt. Sie wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mitfinanziert.

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Allerdings ist ja gerade in den westdeutschen Bundesländern immer noch ein Narrativ weitverbreitet, es handele sich bei der........

© Berliner Zeitung


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