Russland und die Ukraine haben nur wenige Wochen nach Beginn der russischen Invasion ernsthaft über ein Ende des Krieges verhandelt.

Dabei hätten die Istanbul-Gespräche im Frühjahr 2022 als mitunter wichtigste Friedensverhandlungen der Geschichte eingehen können. Doch sie scheiterten.

Das New Yorker Politmagazin Foreign Affairs versuchte nun die gescheiterten Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau in einem langen Artikel zu rekonstruieren: Die Autoren untersuchten Vertragsentwürfe, sprachen mit Verhandlungsmitgliedern beider Seiten und analysierten zahlreiche öffentlich zugängliche Interviews. Der Text kommt zu dem Schluss: Einem Frieden Ende April 2022 war man näher, als viele denken wollen.

Russische Truppen griffen die Ukraine am Morgen des 24. Februar vor über zwei Jahren über Luft, Land und Wasser an. Nicht wenige vermuteten, Kiew werde bald fallen – allen voran der russische Präsident Wladimir Putin. Allerdings konnten die Ukrainer ihre Hauptstadt erfolgreich verteidigen; die eminent wichtige Schlacht um den Flughafen Hostomel nahe der ukrainischen Hauptstadt spielte hierfür eine entscheidende Rolle.

Während der Kriegsverlauf in TV-Schalten, Zeitungsartikeln und sozialen Medien offen und breit behandelt wurde, verstanden nur wenige, dass zur selben Zeit Moskau und Kiew intensive diplomatische Bemühungen hegten, die Kämpfe bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn zu beenden und über einen Frieden zu verhandeln.

16.04.2024

15.04.2024

•gestern

Die ersten und bisher auch letzten Gespräche zwischen Vertretern aus Russland und der Ukraine fanden in Belarus und der Türkei statt. Schon Ende Februar, vier Tage nach dem russischen Angriff, trafen sich Unterhändler in einem Dorf nahe der belarussisch-ukrainischen Grenze. Russland, so schreiben die Autoren, habe mit harten Bedingungen die Gespräche eröffnet. Die Unterhändler sollen die Kapitulation der ukrainischen Führung gefordert haben.

Allerdings hat sich die russische Position mit jedem Kriegstag zunehmend verschlechtert. In Moskau soll man ernsthaft geglaubt haben, die Ukraine innerhalb weniger Tage militärisch zu besiegen – eine für Moskau gravierende Fehlkalkulation. Die Ukraine konnte, während der nächsten zwei Treffen in Belarus – diesmal in der Nähe der polnischen Grenze –, aus einer besseren Position verhandeln. Russland soll hingegen weniger anspruchsvoll gewesen sein als am ersten Verhandlungstag.

Und so begannen Russen und Ukrainer Fortschritte am Verhandlungstisch zu machen: Die Ukraine forderte einen sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Korridore, die es Zivilisten ermöglichen, das Kriegsgebiet sicher zu verlassen. Russland beharrte auf einem neutralen Status für die Ukraine – also keine Nato-Mitgliedschaft Kiews. Beide Seiten begannen daraufhin mit der Ausarbeitung eines Vertragstextes. Die Mitschriften wurden sowohl in Kiew als auch im Kreml geprüft. Damals eine Art Quantensprung in den gegenseitigen diplomatischen Bemühungen.

Die persönlichen Treffen, in der Welt der Diplomatie ein fundamentaler Baustein für Verhandlungen, wurden jedoch abrupt unterbrochen. Die Delegationen aus Moskau und Kiew schalteten sich jedoch weiterhin über Zoom zu. Ab diesem Zeitpunkt wurden auch die „großen, weitreichenden“ Fragen diskutiert: Die Ukraine pochte auf Sicherheitsgarantien, die andere Staaten dazu verpflichten würden, der Ukraine bei einem erneuerten Angriff zur Seite zu stehen. Die russischen Vertreter hätten sich „in allen Fragen gesprächsbereit“ präsentiert, so der Moskauer Verhandlungsführer Wladimir Medinski.

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Beide Seiten, die bis 1991 noch Teil eines Imperiums waren, kamen sich in den darauffolgenden Tagen noch näher. Am 10. März trafen sich im türkischen Antalya erstmals die beiden Außenminister Dmytro Kuleba und Sergej Lawrow. Kuleba sprach von einer „systematischen und nachhaltigen Lösung“ für die Ukraine, die „noch besprochen werden müsste“. Er erhoffte sich einen zuverlässigen Sicherheitsmechanismus für sein Land, da die ukrainische Führung das Budapester Memorandum von 1994 als gescheitert betrachtete und nicht allein auf den „guten Willen Russlands“ vertrauen wollte.

In diplomatischen Kreisen war damals schon klar: Die Gespräche zwischen Kiew und Moskau sind überaus weit fortgeschritten – sonst wäre es niemals nur Wochen nach Kriegsbeginn zum Tête-à-Tête zwischen Kuleba und Lawrow in der Türkei gekommen.

Ende März, ein abermaliges Treffen zwischen russischen und ukrainischen Verhandlungsführern, dieses Mal am Bosporus in Istanbul: Und es schien ein Durchbruch gelungen zu sein, so steht es jedenfalls im Text bei Foreign Affairs. Denn nach dem Treffen gaben beide Seiten bekannt, dass sie sich auf ein gemeinsames Kommuniqué geeinigt hätten. Das Beschlusspapier mit dem Titel „Wichtige Bestimmungen des Vertrags über die Sicherheitsgarantien der Ukraine“ wurde in Kiew ausgearbeitet; Russland akzeptierte die vorläufige Idee.

Der im Kommuniqué vorgesehene Vertrag würde die Ukraine als dauerhaft neutralen, nichtnuklearen Staat proklamieren. Kiew würde auf den Beitritt in westliche Militärbündnisse verzichten und keine ausländischen Stützpunkte oder Truppen auf ukrainischem Boden zulassen. Als mögliche Garanten nannte das Kommuniqué die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – darunter auch Russland – sowie Deutschland, Italien, Polen, Israel, Kanada und die Türkei.

Außerdem hieß es in dem Kommuniqué, dass alle Garanten im Falle eines Angriffs auf die Ukraine verpflichtet seien, Hilfe bei der Wiederherstellung ihrer Sicherheit zu leisten. Bemerkenswerterweise wurden diese Verpflichtungen sogar präziser formuliert als der ominöse Artikel 5 der Nato: die Einführung einer Flugverbotszone, die Lieferung von Waffen oder die direkte Intervention mit den eigenen Streitkräften.

Das Kommuniqué enthielt noch eine weitere, im Nachhinein, so heißt es im Artikel, verblüffende Nachricht: Beide Seiten wollten innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre den Streit um die Krim friedlich lösen. Es ist in der Hinsicht bemerkenswert, da Russland seit der Annexion 2014 immer wieder behauptet, die Krim sei final und unumstößlich russisch. Hat Moskau mit einer möglichen „Lösung“ der Krim-Frage, die Tatsache anerkannt, dass dies vielleicht doch nicht der Fall sei?

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Medinski, der russische Delegationsführer, klang jedenfalls optimistisch und erklärte, die Diskussionen über die Neutralität in der Ukraine würden in die „praktische Phase“ eintreten. Er sprach über „wichtige Bedingungen für den Aufbau künftiger normaler und gutnachbarlicher Beziehungen mit Russland“ und „Grundsätze einer möglichen künftigen Einigung“, die schriftlich fixiert wurden. Ein nächster Quantensprung?

Russische Truppen hatten währenddessen die Bemühungen, die ukrainische Hauptstadt einzunehmen, aufgegeben. Alexander Fomin, Russlands stellvertretender Verteidigungsminister, hatte die Entscheidung am 29. März in Istanbul bekannt gegeben und sie als einen Versuch bezeichnet, „gegenseitiges Vertrauen aufzubauen“. Allerdings war laut Foreign Affairs der Rückzug der Russen eine militärisch erzwungene Räumung. Moskau habe die eigenen militärischen Fähigkeiten in den ersten Kriegswochen überschätzt und den ukrainischen Widerstand unterschätzt. Das russische Scheitern wurde nun als gnädige diplomatische Maßnahme zur Erleichterung von Friedensgesprächen dargestellt.

Dann kam Butscha. Die Kleinstadt vor den Toren Kiews wurde zum Synonym russischer Kriegsverbrechen. Die ukrainischen Behörden fanden über 450 Leichen auf offener Straße vor, wobei die meisten Opfer erschossen, gefoltert oder erschlagen worden waren. Zudem handelte es sich bei den Opfern fast ausschließlich um Zivilisten. Der Ort, den vor dem Krieg kaum jemand außerhalb der Ukraine kannte, machte weltweit Schlagzeilen.

Und er veränderte auch die Statik der bisherigen Verhandlungsgespräche. Präsident Wolodymyr Selenskyj wirkte nach dem Butscha-Schock entschlossener als je zuvor, die russischen Truppen noch weiter zurückzudrängen – vielleicht sogar gänzlich zu besiegen. Er setzte die russischen Truppen mit dem „Islamischen Staat“ gleich und forderte vom UN-Sicherheitsrat, Russland als ständiges Mitglied auszuschließen. Außerdem nahm nach dem russischen Rückzug aus der Nordukraine auch die westliche Militärunterstützung für Kiew an Fahrt auf.

Bemerkenswerterweise arbeiteten beide Seiten jedoch weiterhin rund um die Uhr an einem Vertrag, den Putin und Selenskyj während eines in nicht allzu ferner Zukunft stattfindenden Gipfels unterzeichnen sollten. „Wir waren Mitte April 2022 kurz davor, den Krieg mit einer Friedensregelung abzuschließen“, erzählte einer der ukrainischen Unterhändler, Oleksandr Chalyi, bei einem öffentlichen Auftritt im Dezember 2023.

Doch zu einer solchen Friedensregelung kam es bekanntermaßen nie. In Kremlkreisen wird wiederholt behauptet, dass ein Deal auf dem Tisch lag, der den Krieg hätte beenden können. Die Ukraine habe jedoch aufgrund des Drucks ihrer westlichen Partner – besonders der britische Premier Boris Johnson wird im russischen Narrativ gerne genannt – davon Abstand genommen. Ukraine-Unterstützer minimieren hingegen immer wieder die Bedeutung der Istanbul-Gespräche und behaupten, dass die Parteien lediglich die gegenseitigen Anträge durchgingen und Zeit für Neuausrichtungen auf dem Schlachtfeld gewinnen wollten. Liegt die Wahrheit vielleicht in der Mitte?

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Außerdem sollen die USA, der mit Abstand wichtigste Verbündete Kiews, zutiefst skeptisch gegenüber den Aussichten der Istanbul-Gespräche gewesen sein. Schließlich wurde der „Elefant im Raum“ – nämlich zentrale Fragen zur territorialen Integrität und zur Grenzziehung – während der Verhandlungsrunden nicht besprochen. Sie hätten die Gespräche zwischen Kiew und Moskau wohl von vornherein torpediert, so der Tenor.

Zudem hat sich die öffentliche Stimmung in der Ukraine nach den Entdeckungen der Gräueltaten in Butscha und Irpin verhärtet. Selenskyj hätte im Frühjahr 2022 vor allem im Inland keine Mehrheit gehabt, die Verhandlungen zu Ende zu führen. Später im Jahr, nach der Annexion der vier Gebiete im Osten und Süden der Ukraine, verbot Selenskyj per Dekret jedwede Gespräche mit Putin persönlich. Da war der Verhandlungszug aber schon längst abgefahren.

Die Autoren im Text deuten trotzdem eine außergewöhnliche Kompromissbereitschaft beider Seiten. Es sei eine Erinnerung, dass Putin und Selenskyj mit ihrer ursprünglichen Bereitschaft, weitreichende Zugeständnisse zu machen, viele überrascht haben. Ob sie in Zukunft wieder viele überraschen werden, bleibt jedoch fraglich.

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Frieden in der Ukraine: Hätten die Istanbul-Verhandlungen den Krieg beenden können?

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18.04.2024

Russland und die Ukraine haben nur wenige Wochen nach Beginn der russischen Invasion ernsthaft über ein Ende des Krieges verhandelt.

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Und so begannen Russen und Ukrainer Fortschritte am Verhandlungstisch zu machen: Die Ukraine forderte einen sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Korridore, die es Zivilisten ermöglichen, das Kriegsgebiet sicher zu verlassen. Russland beharrte auf einem neutralen Status für die Ukraine – also keine Nato-Mitgliedschaft Kiews. Beide Seiten begannen daraufhin........

© Berliner Zeitung


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