Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Georgien in naher Zukunft der Europäischen Union beitreten wird. Das sagte der Vorsitzende der Regierungspartei Georgischer Traum und Ex-Premierminister Irakli Garibaschwili während einer Wahlkampfveranstaltung in Gori.

„Im Dezember wurden wir Kandidatenland. Als nächster Schritt ist der Beitritt geplant“, sagte Garibaschwili, „heute sind wir allerdings nicht bereit, Mitgliedsland zu werden.“ Auf dem EU-Gipfel im Dezember vergangenen Jahres haben die EU-Staaten beschlossen, Georgien den Kandidatenstatus zu verleihen. Daraufhin brach im Südkaukasus-Land – sowohl auf der Straße als auch unter Politikern aus Regierung und Opposition – großer Jubel aus; die Berliner Zeitung berichtete von vor Ort. Umfragen zufolge befürworten nämlich 80 Prozent der Georgier den Beitritt in die EU. Doch die politische Stimmung im Land hat sich seitdem massiv verändert.

Georgien habe „das Maximum“ in ihren Anstrengungen für den EU-Beitritt erreicht, so Garibaschwili. Er sagt, dass es innerhalb der georgischen Gesellschaft keinen Konsens mehr darüber gebe, zeitnah EU-Mitglied zu werden. Eine rhetorische 180-Grad-Wende der Regierungspartei im Vergleich zum Dezember.

Hintergrund der innenpolitischen Spannungen in der Ex-Sowjet-Republik ist das sogenannte Agentengesetz. Das Gesetz verpflichtet zivilgesellschaftliche Gruppen, Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Medien, sich bei den Behörden zu registrieren, falls diese zu mindestens 20 Prozent aus dem Ausland finanziert werden. Bekäme beispielsweise eine NGO in Tiflis ein Drittel ihres Budgets aus Deutschland, müsse sie als „Organisation, die Interessen einer ausländischen Macht vertritt“ eingestuft werden. Gegner eines solchen Gesetzes ziehen Analogien zu einem ähnlichen Gesetz in Russland – dort wurden mithilfe des Gesetzes über „ausländische Agenten“ kremlkritische Medien und NGOs in den vergangenen 15 Jahren ausgeschaltet.

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•gestern

24.04.2024

Darüber hinaus ist die Idee eines solchen Agentengesetzes auch in Georgien nicht neu. Erst vor einem Jahr kam es infolge des ersten Gesetzentwurfes zu Massenprotesten in den georgischen Großstädten. Tausende Georgier forderten die Regierung auf, das „russische“ Gesetz zurückzunehmen und die EU-Zukunft des Landes nicht aufs Spiel zu setzen. Die Polizei setzte daraufhin Wasserwerfer und Tränengas gegen die Demonstranten ein, die Regierungspartei beugte sich allerdings nach mehreren Protestwochen der Macht der Straße.

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Trotz weit verbreiteter Proteste in den vergangenen Tagen verteidigten Regierungsvertreter den neuen Gesetzentwurf vehement. „Ich habe unseren Partnern mehrmals gesagt, dass es mir überhaupt nicht gefällt, dass ihre staatlichen Organisationen und Stiftungen eine regierungsfeindliche Agenda verbreiten“, argumentierte Garibaschwili. Er macht NGOs in Georgien für „destruktive, anarchische und extremistische Aktionen“ verantwortlich; die Organisationen würden, so der Parteivorsitzende, Unruhe und Chaos stiften. Außerdem behauptet er, hinter den Protesten in diesen Tagen stünden Aktivisten der Oppositionspartei unter Ex-Präsident Michail Saakaschwili.

„Wenn uns aber gesagt wird, dass wir morgen Mitglied der EU werden, dann wird es sehr leicht möglich sein, das Gesetz aufzuheben, zu überarbeiten oder umzuwandeln“, sagt Garibaschwili. Er beklagte aber auch, dass „Vertreter aus der EU und den USA“ derzeit versuchen, massiv an Einfluss in innenpolitische Angelegenheiten zu gewinnen. „Am Ende müssen wir uns an georgische Bedürfnisse orientieren“, so der Ex-Regierungschef.

Unbelievable scenes from Tbilisi, Georgia. Determination of the youngsters in defending Georgia’s democracy and European future is unwavering. Long live free Georgia 🇬🇪🇪🇺

Video: Tabula pic.twitter.com/4xBV1Yg0yi

Derweil sorgt in Brüssel die angespannte Lage in Georgien für Kopfzerbrechen. Mehrere Vertreter der EU teilten mit, dass ein solches Agentengesetz mit den europäischen Werten unvereinbar sei. „Das Gesetz widerspricht dem erklärten Ziel von Georgien, der EU beizutreten“, schrieb Josep Borell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, auf X, vormals Twitter. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hoffe, das Gesetz werde wieder zurückgenommen. „Solche Gesetze braucht es nicht“, sagte er während einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem aktuellen georgischen Premierminister Irakli Kobachidse. Auch in Washington ist der Ton zur Lage in Georgien derbe: Das Agentengesetz sei „vom Kreml inspiriert“ und ein Angriff auf die georgische Zivilgesellschaft.

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In den vergangenen Tagen führten insbesondere junge Menschen und Studenten der großen Universitäten in der Hauptstadt Tiflis die Proteste an. Sie trafen sich an verschiedenen neuralgischen Punkten der Millionenstadt und marschierten während der Abendstunden ins Stadtzentrum. Georgische Sicherheitsbehörden wendeten auch Gewalt an, um die Demonstrationen zu beenden. In den sozialen Medien gingen Videos zu den Gewaltszenen viral.

QOSHE - „Georgien ist nicht bereit, EU-Mitglied zu werden“: Proteste nach Agentengesetz dauern an - Nicolas Butylin
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„Georgien ist nicht bereit, EU-Mitglied zu werden“: Proteste nach Agentengesetz dauern an

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26.04.2024

Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Georgien in naher Zukunft der Europäischen Union beitreten wird. Das sagte der Vorsitzende der Regierungspartei Georgischer Traum und Ex-Premierminister Irakli Garibaschwili während einer Wahlkampfveranstaltung in Gori.

„Im Dezember wurden wir Kandidatenland. Als nächster Schritt ist der Beitritt geplant“, sagte Garibaschwili, „heute sind wir allerdings nicht bereit, Mitgliedsland zu werden.“ Auf dem EU-Gipfel im Dezember vergangenen Jahres haben die EU-Staaten beschlossen, Georgien den Kandidatenstatus zu verleihen. Daraufhin brach im Südkaukasus-Land – sowohl auf der Straße als auch unter Politikern aus Regierung und Opposition – großer Jubel aus; die Berliner Zeitung berichtete von vor Ort. Umfragen zufolge befürworten nämlich 80 Prozent der Georgier den Beitritt in die EU. Doch die politische Stimmung im Land hat sich seitdem massiv verändert.

Georgien habe „das Maximum“ in ihren Anstrengungen für den EU-Beitritt erreicht, so Garibaschwili. Er sagt, dass es innerhalb der georgischen Gesellschaft keinen Konsens mehr darüber gebe, zeitnah EU-Mitglied zu werden. Eine rhetorische 180-Grad-Wende der Regierungspartei im Vergleich zum Dezember.

Hintergrund der innenpolitischen Spannungen in der Ex-Sowjet-Republik ist das sogenannte Agentengesetz. Das Gesetz verpflichtet........

© Berliner Zeitung


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