Gut 600.000 Unterrichtsstunden stehen jede Woche auf dem Plan der rund 700 öffentlichen Schulen in Berlin – etwa 20.000 davon fallen durchschnittlich aus. Genau 3,1 Prozent der Stunden, so die offizielle Statistik der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie für das Schuljahr 2022/2023.

An den Integrierten Gesamtschulen sind es etwas mehr (3,9 Prozent) als an den Gymnasien (3,2 Prozent) und an den Grundschulen (2,7 Prozent), und insgesamt nimmt der Unterrichtsausfall deutlich zu: Er lag für das vergangene Schuljahr 50 Prozent höher als noch vor fünf Jahren. Doch immer noch erscheinen die Werte auf den ersten Blick relativ gering.

Bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stößt dies auf Skepsis. „Beschönigt“ seien die Zahlen, sagt deren Landeschef Tom Erdmann.

Tatsächlich weist die Statistik der Senatsverwaltung einige Merkwürdigkeiten auf. 14 Grundschulen, zwei Gymnasien, eine Oberschule sowie die staatlich-internationale Wangari-Maathai-Schule kamen dort im Schuljahr 2022/2023 auf den Traumwert: null Prozent Unterrichtsausfall. Um das zu erreichen, muss es gelingen, für jeden Ausfall eines Lehrers – im Behördensprech „Vertretungsanfall“ – Ersatz zu finden. Ein oder zwei Schulen schaffen das vielleicht, aber 18?

15.11.2023

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Unter den Schulen ohne Ausfall führt die amtliche Statistik beispielsweise die Grundschule am Teutoburger Platz (Prenzlauer Berg). Bei näherer Betrachtung fällt auf: Sie gehört auch zu den immerhin neun staatlichen Schulen, bei denen der „Vertretungsanfall“ mit unter einem Prozent angegeben ist. Das heißt: Nur in 0,0596 Prozent der Unterrichtsstunden – so der genaue offizielle Wert – fehlte der eingeplante Lehrer.

Doch kann das sein? An jeder Schule werden schließlich Lehrer krank, gehen auf Klassenfahrt oder können aus anderen Gründen nicht in ihrer Klasse sein. Im Mittel sind es der Statistik zufolge an den öffentlichen Schulen mehr als 13 Prozent der Unterrichtsstunden, in denen der „Stamm“-Lehrer fehlt. An manchen Schulen sogar deutlich über 30 Prozent. Aber null Prozent Ausfall bei gerade einmal 0,0596 Prozent „Vertretungsanfall“?

„Leider stimmen Ihre Zahlen nicht“, teilt die Leiterin der Grundschule am Teutoburger Platz, Katrin Kosmata, per E-Mail mit. „Natürlich gibt es bei uns Ausfall.“ Man habe dem Senat einen Ausfall von 1,8 Prozent mitgeteilt. Die Senatsverwaltung widerspricht auf Nachfrage, die Schule habe einen Ausfall von „0 Stunden“ gemeldet. Grundsätzlich prüfe man die übermittelten Werte auf Plausibilität, verantwortlich für „die Authentizität der Angaben“ seien aber die Schulleitungen.

Nun kann es vielleicht passieren, dass Statistiken mitunter kleinere Fehler enthalten. Doch bei den Angaben, die die Senatsverwaltung für jede Schule in den sogenannten Schulporträts im Internet veröffentlicht hat, kommt es auch zu größeren Verzerrungen. Das beginnt bei der Erhebungsmethode. Zwar weist die Senatsverwaltung die Daten zum Unterrichtsausfall immer für ein ganzes Schuljahr aus – tatsächlich beziehen sie sich jedoch nur auf das erste Halbjahr. Ist das vorbei, fragt die Senatsverwaltung die Daten bei den Schulen ab und veröffentlicht sie – Monate später – als Angabe für das gesamte Schuljahr. Lediglich in der „Vorbemerkung“ zu einem gesonderten „Bericht zum Unterrichtsausfall und Vertretungsunterricht an öffentlichen Schulen“ wird darauf hingewiesen, heißt es: „Der Erhebungszeitraum für das Schuljahr 2022/2023 ist wie im Vorjahr das erste Schulhalbjahr. Berichtet wird über das gesamte Schuljahr.“ Ein Widerspruch in sich.

Wie kam es zu der Erhebungsmethodik?

„Vorrangig, um die Schulen nicht unnötig mit Meldevorgängen zu belasten, ohne gleichzeitig signifikante zusätzliche Erkenntnisse zu generieren“, erklärt Martin Klesmann, der Sprecher der Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch. Er betont, dass Berlin viele Daten transparent mache, die andere Bundesländer gar nicht erst veröffentlichten.

Doch warum steht bei den Schulporträts im Internet kein Hinweis, dass sich die Werte nur auf ein Halbjahr beziehen?

„Bedauerlicherweise lassen die Schulporträts keine umfassenden Fußnoten zu, in denen Platz für derartige Erläuterungen wäre“, so Klesmann.

Selbst Bildungsexperten wie dem GEW-Chef Erdmann ist nicht bekannt, dass die Statistik nur Halbjahreswerte für das gesamte Schuljahr ausweise. „Sehr seltsam“ sei das – und „nicht seriös“, sagt er. Schließlich seien die Halbjahre nicht vergleichbar, allein witterungsbedingt gebe es unterschiedlich viele Krankheitsausfälle, zudem ist das zweite Halbjahr in den Abschlussjahrgängen verkürzt. „Das ergibt so keine verlässliche Zahl“, kritisiert Erdmann.

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Ob der Unterrichtsausfall im Gesamtjahr höher oder niedriger liegt als die veröffentlichten Angaben, die nur das erste Halbjahr abbilden, lässt sich nicht sagen. Dass die Unterschiede signifikant sein können, zeigt ein Beispiel: das Friedrich-Ebert-Gymnasium am Volkspark Wilmersdorf.

Nach den Daten der Senatsverwaltung fielen dort im vergangenen Schuljahr 25,4 Prozent der Stunden aus, so viele wie an keiner anderen öffentlichen Schule der Stadt. Doch auch dieser Wert beschreibt eben nur das erste Halbjahr – für das gesamte Schuljahr nennt die Schule einen Ausfall von 16,9 Prozent. Das ist immer noch sehr viel, aber zumindest deutlich weniger als in der offiziellen Statistik der Senatsverwaltung. Diese weist den Ganzjahreswert nicht aus. Er liegt der Schule vor, wird von den Statistikern aber nicht abgefragt.

In einer anderen Wertung stand das Friedrich-Ebert-Gymnasium groteskerweise als besonders komfortabel ausgestattet da – was die statistischen Angaben weiter ad absurdum führt. In einer Tagesspiegel-Auswertung zum Lehrermangel war es als Schule mit besonders guter Personalausstattung gelistet. Die Redaktion bezog sich dabei auf einen anderen, von der Senatsverwaltung veröffentlichten Wert: den der „Unterrichtsversorgung“. Er setzt die Zahl der Stunden, die die Lehrer der Schule abdecken können, ins Verhältnis zum Stundenbedarf der Schule. Das Friedrich-Ebert-Gymnasium lag hier bei luxuriösen 106 Prozent – es hat also eigentlich so viele Lehrerstellen, dass „Vertretungsanfälle“ gut abgedeckt sein sollten.

Aber eben nur in der Theorie. Denn offenbar enthalten die Daten zum Personalstand auch Lehrer, die zwar formal der Schule zugewiesen sind – aber dort gar nicht zur Verfügung stehen. Aus verschiedenen Schulen wird berichtet, dass Lehrer, die zum Beispiel seit vielen Monaten oder gar Jahren erkrankt sind, in Fortbildungen oder für andere Aufgaben in die Verwaltung abgeordnet wurden, statistisch weiter der Schule zugeordnet sind. Die Senatsverwaltung stellt dies anders dar. Demnach werden zumindest erkrankte Lehrer nicht mehr dem Personalbestand ihrer Schule zugerechnet, wenn sie zusätzliche Lehrer als Ersatz bekommt. Wie es sich bei den etwa in die Verwaltung abgeordneten Lehrern verhält, auf die Frage ging die Behörde nicht ein.

Fest steht: Die Angaben für die „Unterrichtsversorgung“ oder Lehrerausstattung sagen wenig darüber aus, wie viel Unterricht an einer Schule ausfällt. Dennoch spielen sie politisch eine große Rolle. Gerade erst gab die Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch die berlinweite Unterrichtsversorgung mit 97 Prozent an. Ohne die Information, wie viele Lehrer an einer Schule tatsächlich für den Unterricht zur Verfügung stehen, verrät diese Zahl allerdings wenig.

Aussagekräftiger sind die Daten zum Unterrichtsausfall – eigentlich. Denn bei der GEW geht man davon aus, dass die Angaben systematisch zu niedrig sind, weil sie von den Schulen selbst benannt werden. „Es steht nur das als Ausfall in der Statistik, was von der Schulleitung auch als Ausfall deklariert wird“, so der Gewerkschaftschef Erdmann. Fällt ein Lehrer aus, komme es regelmäßig dazu, dass fachfremde Lehrer in die Klasse geschickt würden oder Erzieher die Kinder lediglich betreuten. Das alles sei kein adäquater Ersatz für den planmäßigen Unterricht – werde von vielen Schulleitungen aber als Vertretung gewertet. Auch wenn eigentlich vorgesehene Stunden zur Sprachförderung oder sogenannte Teilungsstunden, in denen eine Klasse zur gezielteren Förderung in kleinere Gruppen aufgeteilt wird, wegfielen, tauche dies nicht zwingend in der Ausfallstatistik auf. Die Statistiker der Senatsverwaltung würden demnach frisierte Daten veröffentlichen, ohne dafür verantwortlich zu sein.

Ein erfahrener Schulleiter bestätigt die Vorwürfe gegenüber der Berliner Zeitung. „Die Statistik stimmt hinten und vorne nicht“, sagt er, der bereits an mehreren Schulen in unterschiedlichen Bezirken tätig war. Dass nur 3,1 Prozent der Stunden ausfielen, hält er für vollkommen unrealistisch. „Aus der Praxis weiß ich: Diese Werte können nicht richtig sein. Normal sind zehn Prozent Ausfall.“

Laut dem GEW-Chef Erdmann laste ein „immenser Druck“ auf den Schulleitungen, möglichst niedrige Ausfallwerte zu präsentieren. Auch dies bestätigt der Schulleiter: Ziel vieler Schulen sei es, ihre Unterrichtsausfallzahlen auf keinen Fall exorbitant hoch erscheinen zu lassen. „Dann fängt man eben an, die Statistik so zu machen, wie sie sein sollte.“

Mal erschienen Stunden, in denen Kinder lediglich betreut statt unterrichtet würden, nicht in der Ausfallstatistik – mal würden auch komplett ausgefallene Stunden schlichtweg nicht mitgezählt, sagt er. Ein Grundschullehrer berichtet von Vertretungsstunden, in denen die Kinder einfach nur auf dem Hof spielten. Die Mathestunde müsse schon mal die Kunstlehrerin übernehmen, die die Schüler Mandalas malen lasse. In anderen Fällen würden Kinder der höheren Grundschulklassen beim Ausfall ihres Lehrers gruppenweise auf andere Klassenstufen verteilt, wo sie die Aufgabe bekämen, Texte abzuschreiben. Das alles könne die Schule dann als erfolgten Vertretungsunterricht in der Statistik ausweisen.

Der Grundschullehrer teilt die Einschätzung, dass die veröffentlichten Angaben nicht der Wirklichkeit entsprechen.

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Die Senatsverwaltung beantwortet die Anfrage zu dieser Einschätzung nicht. Aus den Angaben des Behördensprechers Klesmann geht hervor, dass die Schulen nichts zur Art der Vertretung erklären müssen, dass eine bloße Betreuung spielender Kinder jedoch nicht als Unterrichtsvertretung ausgewiesen werden soll. Inwieweit dies dennoch geschieht, dazu sagt der Sprecher nichts. „In der Regel wird der Unterricht pädagogisch wertvoll vertreten, aber nicht immer fachgerecht“, so Klesmann. Derartige Stunden als Unterrichtsausfall zu werten, wäre aus seiner Sicht „den Lehrkräften gegenüber, die hier zusätzlichen Unterricht anbieten, schlicht unfair“.

Sicher scheint vor allem: Die Daten der offiziellen Berliner Schulporträts zur Lehrerausstattung sind wenig aussagekräftig. Und: Kleingerechnete Halbjahreswerte zum Unterrichtsausfall ergeben keinen Sinn – weder für Lehrer noch für Eltern.

Unterrichtsausfall in Berlin: Für eine größere Darstellung der Visualisierung klicken Sie bitte hier.

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Schulausfälle in Berlin: „Die Statistik stimmt hinten und vorne nicht“

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19.11.2023

Gut 600.000 Unterrichtsstunden stehen jede Woche auf dem Plan der rund 700 öffentlichen Schulen in Berlin – etwa 20.000 davon fallen durchschnittlich aus. Genau 3,1 Prozent der Stunden, so die offizielle Statistik der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie für das Schuljahr 2022/2023.

An den Integrierten Gesamtschulen sind es etwas mehr (3,9 Prozent) als an den Gymnasien (3,2 Prozent) und an den Grundschulen (2,7 Prozent), und insgesamt nimmt der Unterrichtsausfall deutlich zu: Er lag für das vergangene Schuljahr 50 Prozent höher als noch vor fünf Jahren. Doch immer noch erscheinen die Werte auf den ersten Blick relativ gering.

Bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stößt dies auf Skepsis. „Beschönigt“ seien die Zahlen, sagt deren Landeschef Tom Erdmann.

Tatsächlich weist die Statistik der Senatsverwaltung einige Merkwürdigkeiten auf. 14 Grundschulen, zwei Gymnasien, eine Oberschule sowie die staatlich-internationale Wangari-Maathai-Schule kamen dort im Schuljahr 2022/2023 auf den Traumwert: null Prozent Unterrichtsausfall. Um das zu erreichen, muss es gelingen, für jeden Ausfall eines Lehrers – im Behördensprech „Vertretungsanfall“ – Ersatz zu finden. Ein oder zwei Schulen schaffen das vielleicht, aber 18?

15.11.2023

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Unter den Schulen ohne Ausfall führt die amtliche Statistik beispielsweise die Grundschule am Teutoburger Platz (Prenzlauer Berg). Bei näherer Betrachtung fällt auf: Sie gehört auch zu den immerhin neun staatlichen Schulen, bei denen der „Vertretungsanfall“ mit unter einem Prozent angegeben ist. Das heißt: Nur in 0,0596 Prozent der Unterrichtsstunden – so der genaue offizielle Wert – fehlte der eingeplante Lehrer.

Doch kann das sein? An jeder Schule werden schließlich Lehrer krank, gehen auf Klassenfahrt oder können aus anderen Gründen nicht in ihrer Klasse sein. Im Mittel sind es der Statistik zufolge an den öffentlichen Schulen mehr als 13 Prozent der Unterrichtsstunden, in denen der „Stamm“-Lehrer fehlt. An manchen Schulen sogar deutlich über 30 Prozent. Aber null Prozent Ausfall bei gerade einmal 0,0596 Prozent „Vertretungsanfall“?

„Leider stimmen Ihre Zahlen nicht“, teilt die Leiterin der Grundschule am Teutoburger Platz, Katrin Kosmata, per E-Mail mit. „Natürlich gibt es bei uns Ausfall.“ Man habe dem Senat einen Ausfall von 1,8 Prozent mitgeteilt. Die Senatsverwaltung widerspricht auf Nachfrage, die Schule habe einen Ausfall von „0 Stunden“ gemeldet. Grundsätzlich prüfe man die übermittelten Werte auf Plausibilität, verantwortlich für „die Authentizität der Angaben“ seien aber die Schulleitungen.

Nun kann es vielleicht passieren, dass Statistiken mitunter kleinere Fehler enthalten. Doch bei den Angaben, die die Senatsverwaltung für jede Schule in den sogenannten Schulporträts im........

© Berliner Zeitung


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