Der Lehrermangel wird sich nach Expertenmeinung in den kommenden Jahren trotz aller Gegenmaßnahmen und des Geburtenrückgangs weiter verschärfen. „Das Problem wird sich nicht von selbst erledigen“, sagte Dagmar Wolf, Leiterin des Bildungsbereichs der Robert-Bosch-Stiftung, in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung.

Zwar könnte sich die Lage an den Grundschulen infolge der niedrigen Geburtenrate künftig etwas entspannen. Dafür werde sie sich in den Oberschulen aber verschärfen.

Eine generelle Besserung sei schon deshalb nicht in Sicht, weil die Schulen aufgrund der erwarteten Migrationsbewegungen mit steigenden oder zumindest gleichbleibenden Schülerzahlen rechnen müssten. „Wir vergessen leicht, dass wir allein in den letzten zwei Jahren bundesweit mehr als 400.000 Kinder in unser Bildungssystem integriert haben“, betont Wolf. Das seien nur zur Hälfte Kinder aus der Ukraine gewesen – fast ebenso viele Kinder kamen in diesem Zeitraum aus anderen Ländern.

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In Berlin fehlen nach jüngsten Angaben des Senats rund 700 Lehrer. Wie gut oder schlecht die Hauptstadt damit im Vergleich zu anderen Bundesländern dasteht, geht allerdings aus keiner Statistik zuverlässig hervor. In ihrem „Deutschen Schulportal“ sammelt die gemeinnützige Robert-Bosch-Stiftung Informationen zur Qualität von Schule und Unterricht und auch zum Lehrermangel, der in ganz Deutschland ein Thema ist. Die Frage, wo das Problem am größten ist, blieb dort unbeantwortet, denn vergleichbare Daten fehlen.

„Es gibt kein einheitliches Verfahren, wie die Bundesländer Zahlen erheben“, sagt Wolf. Sie schätzt die Lage in Berlin jedoch als besonders herausfordernd ein: „Es gibt einen extremen Zuzug von Menschen nach Berlin und nirgendwo so viele Neugründungen von Schulen wie hier.“ Der Lehrerbedarf wird damit in Zukunft eher noch schwieriger zu decken sein als bisher schon. Derzeit mangelt es vor allem an Grundschulen sowie in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) – und vor allem fehlen der Politik die Möglichkeiten, um kurzfristig gegenzusteuern.

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31.03.2024

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Berlin versucht es unter anderem damit, den Lehrerberuf attraktiver zu machen. Nach 20 Jahren werden erstmals wieder Lehrer verbeamtet. Zudem setzt die Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) darauf, den Quereinstieg ins Lehramt für mehr Berufsgruppen als bisher zu ermöglichen. An vielen Schulen übernehmen auch Studenten Unterricht, für den eigentlich ausgebildete Lehrer vorgesehen sind.

Bildungsexpertin Wolf stellt dem Senat unter den gegebenen Umständen ein durchaus gutes Zeugnis aus. „Berlin versucht, das Mögliche zu tun“, meint die Expertin. Im Vergleich zu anderen Bundesländern sei die Hauptstadt Vorreiter darin, unbesetzte Lehrerstellen umzuwidmen. Das bedeutet, dass anstelle von Lehrern an den Schulen beispielsweise Verwaltungskräfte eingestellt werden. Diese entlasten die Lehrer bei administrativen Aufgaben und können somit mehr Zeit für den Unterricht schaffen. Auch sei die Diskussion über eine leichtere Anerkennung ausländischer Lehrerexamen in Berlin weiter als anderswo, lobt Wolf. Dass sich die CDU von ihrem Wahlversprechen verabschiedet hat, kleinere Klassen durchzusetzen, hält sie überdies für richtig: „In Zeiten des Lehrermangels wäre das Harakiri. Und es gibt wissenschaftlich keinen Beleg dafür, dass kleinere Klassen zu einer höheren Unterrichtsqualität oder zu besseren Leistungen führen.“

Gleichwohl sind sich Bildungsexperten einig: Mehr als ein notdürftiges Lückenstopfen ist derzeit nicht drin. Dass Seiten- und Quereinsteiger Unterricht übernehmen, ist notwendig – führt aber zu neuen Problemen. „Das hat Auswirkungen auf die Qualität“, ist Wolf überzeugt. „Es ist schwierig, Menschen ohne Lehramtsstudium in die Schule zu schicken und Unterricht machen zu lassen.“ Bereits heute scheitere jeder dritte Achtklässler an Basiskompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen – die Situation werde sich tendenziell verschlechtern. Auch weil die Zeit für eine Vorbereitung und Qualifizierung fehle, würden viele Seiteneinsteiger nach kurzer Zeit wieder aus dem Schuldienst gehen.

Die Robert-Bosch-Stiftung wirbt deshalb für ein neues Denken. „In die Klassen 1 und 2 darf man nur die Besten lassen, um den späteren Bildungserfolg der Kinder nicht zu gefährden“, sagt Wolf. Später hingegen könnten beispielsweise „multiprofessionelle Teams“ den Unterricht abdecken. Bei solchen Tandems würde ein Seiteneinsteiger nicht gleich ein komplettes Fach in einer Klasse übernehmen. Stattdessen teilen sich ein Lehrer und ein Nicht-Lehrer aus einem relevanten Beruf den Unterricht auf, sodass die gelernte Lehrkraft auch anderen Klassen zur Verfügung steht. Um solche Modelle zu ermöglichen, spricht sich Wolf dafür aus, den Schulen größere Freiräume für flexible Modelle einzuräumen.

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Berlin: Maßnahmen gegen Lehrermangel verschlechtern Unterrichtsqualität

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02.04.2024

Der Lehrermangel wird sich nach Expertenmeinung in den kommenden Jahren trotz aller Gegenmaßnahmen und des Geburtenrückgangs weiter verschärfen. „Das Problem wird sich nicht von selbst erledigen“, sagte Dagmar Wolf, Leiterin des Bildungsbereichs der Robert-Bosch-Stiftung, in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung.

Zwar könnte sich die Lage an den Grundschulen infolge der niedrigen Geburtenrate künftig etwas entspannen. Dafür werde sie sich in den Oberschulen aber verschärfen.

Eine generelle Besserung sei schon deshalb nicht in Sicht, weil die Schulen aufgrund der erwarteten Migrationsbewegungen mit steigenden oder zumindest gleichbleibenden Schülerzahlen rechnen müssten. „Wir vergessen leicht, dass wir allein in den letzten zwei Jahren bundesweit mehr als 400.000 Kinder in unser Bildungssystem integriert haben“, betont Wolf. Das seien nur zur Hälfte Kinder aus der Ukraine gewesen – fast ebenso viele Kinder kamen in diesem Zeitraum aus anderen Ländern.

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