Sie kamen zu spät, und das Leben bestrafte sie hart. Die Regierenden in der DDR hatten zu lange gezögert, ihren Bürgern zuzugestehen, wonach diese vehement verlangten: freies Reisen in den Westen. Als am Montag, dem 6. November 1989 der Ministerrat der Bevölkerung ein neues Reisegesetz vorlegte und zur Diskussion aufrief, stand diese Nachricht auf den ersten Seiten der Zeitungen nur noch auf Platz 2. Es dominierte die Großdemonstration vom 4. November, als Hunderttausende auf dem Alexanderplatz Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit gefordert hatten.

Das Gesetz kam zu spät. Ein paar Monate früher – und die Aussicht auf erleichtertes Reisen wäre eine Sensation gewesen. Jetzt bot das Gesetz viel zu wenig. Es war am Tag der Veröffentlichung überholt. Die Ereignisse überschlugen sich in jenen Tagen vor 34 Jahren, die Verhältnisse tanzten der Grenzöffnung und schließlich dem Abgang der DDR entgegen. Heute erscheint die Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 als ein wie aus dem Nichts entstandener historischer Moment. Doch im luftleeren Raum geschah auch damals nichts.

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Viele Details sind derart verblasst, vergessen oder medial überlagert, dass im Rückblick sogar die Legende umherwabert, die SED-Führung habe den „Mauerfall“ am 9. November selbst inszeniert, um die sich anbahnende Revolution auf der Straße zu beenden, indem man ein neues Thema setzte: offene Grenzen, Westreisen! Aber ach, die Mächtigen hatten ihre Macht ja schon verloren. Sie waren sich nur noch nicht ganz klar darüber.

Der zentrale Punkt des den DDR-Bürgern am 6. November 1989 mit großer Geste vorgelegten Entwurfs einer neuen Reiseregelung gestand das Recht zu, ins Ausland zu reisen – unabhängig von Alter oder Reisegrund. Jeder sollte einen Pass erwerben und ein Visum für die Ausreise beantragen können.

DDR-Innenminister Friedrich Dickel erläuterte am Abend in der „Aktuellen Kamera“, den Hauptnachrichten des DDR-Fernsehens, wie bei der zuständigen Volkspolizei-Meldestelle ein Antrag auf Pass und Visum zu stellen sei. Dazu seien zwei Passbilder mitzubringen, das Ausreisevisum für Dienst- und Privatreisen werde in der Regel auf 30 Tage im Jahr befristet. Die Anträge sollten innerhalb von 30 Tagen entschieden werden.

Während der Chef der Volkspolizei im Range eines Armeegeneral im Fernsehen sprach, fanden sich in Leipzig Hunderttausende zur bis dahin größten Montagsdemonstration ein. Auf ihren Transparenten reagierten sie direkt auf das Angebot – und zwar mit Ablehnung. Sie verlangten ein „Reisegesetz ohne Einschränkungen“. Die Regierung der BRD erklärte am selben Tag, die neue Regelung sei ein „klarer Fortschritt gegenüber der bisherigen Praxis“.

In der Berliner Zeitung veröffentlichten Leserbriefen ist zu entnehmen, was die Leute am meisten störte: Alles viel zu kompliziert. Warum soll man ein Ausreisevisum beantragen? Warum so lange Bearbeitungsfristen? Unter den Briefen hatte die Chefredaktion mit Lupe und Pinzette die milderen ausgewählt. In der Erinnerung der Autorin hatten viele Leute den Entwurf empört als bevormundende bürokratische Zumutung zurückgewiesen.

Auch der Rechtsanwalt Gregor Gysi trat im Interview mit der Berliner Zeitung vor allem die vorgesehenen Ausreisevisa in die Tonne. Mit heute unvorstellbarer medialer Langsamkeit der Vorcomputerzeit erschien das Interview am 11. November. Da stand die Grenze schon offen, und auch das eilends überarbeitete Reisegesetz, das eigentlich am Morgen des 10. November hatte in Kraft treten sollen, war von den Ost-Berlinern an der Bornholmer Straße in der Nacht zuvor über den Haufen geworfen worden. Die DDR-Führung brauchte noch eine Weile, um zu begreifen, dass ihr die Kontrolle über die Dynamik der Ereignisse entglitten war. Am 9. November, in den Stunden vor dem historischen Moment, handelte sie noch strikt nach den alten Routinen.

Ein Hauptgrund für das lange Zögern der DDR-Führung steckt in einem Satz des ersten Reisegesetzentwurfs: „Die Genehmigung einer Privatreise begründet keinen Anspruch auf den Erwerb von Reisezahlungsmitteln.“ Da lag der Hund begraben. Die DDR hatte erhebliche Kosten für jeden Reisenden, der bis dahin in den Westen hatte fahren dürfen. Immerhin sechs Millionen DDR-Bürger waren 1988 im Westen gewesen.

Egon Krenz, seit 18. Oktober 1989 Nachfolger Erich Honeckers als SED-Generalsekretär und seit 24. Oktober auch Staatsratsvorsitzender, schreibt in seinem 2019 erschienenen Buch „Wir und die Russen“: „Die Bundesrepublik stellte uns jeden mit der Bundesbahn gefahrenen Kilometer in Rechnung – und zwar in Devisen.“ Man habe deshalb vor einer Reiseregelung darüber verhandeln müssen, wie sich die Bundesregierung an den gewünschten Erleichterungen im Reiseverkehr beteiligen könnte.

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Der DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski war beauftragt, in Bonn entsprechende Verhandlungen zu führen – und meldete „große Zurückhaltung seitens der verantwortlichen Politiker“. Wolfgang Schäuble, damals Innenminister im Kabinett Helmut Kohl, habe ihm mitgeteilt, „für die Bundesregierung sei die Veränderung der Verfassung der DDR das Grundproblem“, schreibt Krenz. Das hieß im Klartext: Verfassungsänderung gegen Valuta.

Krenz empfand das als „nackte Erpressung“. Diesem Druck habe er sich nicht beugen wollen. Seine Reaktion beschreibt er in dem Buch so: „Ich schloss daher nicht mehr aus, eine sofortige Lösung für das Reisen zu finden, ohne jedoch einen Vorschlag für den Umtausch von Mark der DDR in Deutsche Mark anbieten zu können. So entstand die Idee, bis zur gesetzlichen Regelung eine sofortige Reiseverordnung zu erlassen.“

Die wurde in Verantwortung des DDR-Innenministeriums eilends erarbeitet – und lag Krenz am 9. November gegen Mittag vor, abgestimmt per Umlaufverfahren im Ministerrat. An jenem Freitag tagte das Zentralkomitee der SED und beriet über die Zukunft der Partei, über einen „erneuerten Sozialismus“, über Wahlen, Personalien. Es sollte die letzte ZK-Tagung werden, die nach alten Regeln stattfand. In der Mittagspause, so schreibt Egon Krenz, habe er die neue Reiseregelung dem Politbüro, also dem engsten Machtzirkel, vorgetragen.

Um 15.30 Uhr empfing der Staatsratsvorsitzende einen wichtigen Gast: den stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Johannes Rau. Der hatte ein solches Treffen zu jenem Zeitpunkt noch für imagefördernd gehalten. Als NRW-Ministerpräsident stand er im Wahlkampf für die Landtagswahlen im Mai 1990. Die Herren sprachen auch über den Reiseverkehr, über möglicherweise 13 Millionen DDR-Reisende, über die Milliarden D-Mark, die das kosten würde und die die DDR nicht alleine aufbringen könne. Krenz bat Rau, sich für eine Beteiligung der BRD-Regierung einzusetzen.

Über die für den Morgen des Folgetages vorgesehene Grenzöffnung informierte Krenz den Gast nicht – er fürchtete, Rau würde die Sensation brühwarm den Westmedien zukommen lassen. Die Nachricht von diesem historischen Vorgang wollte man selber verbreiten, und zwar in einem kontrollierten Verfahren.

Zurück in der Tagung des Zentralkomitees informierte Krenz auch dieses größere Gremium über die inzwischen endredigierte neue Reiseverordnung. Deren Titel erhellt einen weiteren Hintergrund, vor dem die Regelung entstanden war: „Beschluss zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die ČSSR“. In der Prager Botschaft der BRD sammelten sich in jenen Tagen schon wieder Tausende Ausreisewillige. In den Wochen zuvor waren Züge aus Prag über DDR-Territorium in die Bundesrepublik geleitet worden – ein politisch nicht durchzuhaltendes Verfahren. Auch die Genossen im Nachbarland drängten auf eine dauerhafte Lösung der unhaltbaren Situation.

Gegen 17.15 Uhr traf Krenz den Sprecher der DDR-Regierung, Günter Schabowski. Der war auf dem Weg in die um 18 Uhr beginnende internationale Pressekonferenz. Krenz gab ihm mit: „Du musst unbedingt über den Reisebeschluss informieren. Das ist die Weltnachricht!“ Er überließ Schabowski sein Exemplar der Verordnung.

Dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Vor der Weltpresse spulte der betont lässig auftretende, medienerfahrene SED-Funktionär fast eine Stunde lang sein Programm ab. Ausführlich sprach er über die Erneuerung der Partei und die Konzeption für einen modernen Sozialismus in der DDR. Aber das in seinen Augen Wichtige war Minuten später nicht mehr von Belang.

Handschriftlich und offenbar in Eile hatte Schabowski seine Agenda für die Pressekonferenz auf einem Zettel notiert: im DIN-A4-Format, liniert, herausgerissen aus einem großen Notizbuch. Um 19 Uhr, also pünktlich für die „Aktuelle Kamera “ um 19.30 Uhr, wollte er fertig sein, wie er sich rechts oben auf dem Blatt selbst mahnte. Ganz unten stand: „Verlesen Text Reiseregelung“. Er hatte dessen Brisanz noch immer nicht erkannt.

Um 18.53 Uhr, Schabowski hatte in der live übertragenen Pressekonferenz bislang nichts über das Reisen gesagt, fragte Riccardo Ehrman, Journalist von der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, in leicht gebrochenem Deutsch (Wortlaut): „Herr Schabowski, Sie haben von Fehler gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben jetzt vorgestellt vor wenige Tagen?“

Schabowski reagierte irritiert, glaubte offenbar, die neue Verordnung sei schon bekannt gegeben worden, und kramte den Text hervor, wahrscheinlich jenen, den ihm Krenz mitgegeben hatte, und las hastig vor: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu West-Berlin erfolgen.“

Als der Bild-Reporter Peter Brinkmann nachfragte: „Wann tritt das in Kraft?“, suchte Schabowski auf seinem handschriftlichen Notizzettel nach einem Hinweis – da stand aber nichts. Statt korrekt zu informieren: „Morgen früh“, stotterte er die schicksalhaften Worte: „Das tritt nach meiner Erkenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“

Der Reporter der Berliner Zeitung vermerkte: „Erregte Fragen und Zurufe unter den etwa 200 Journalisten aus dem In- und Ausland.“ Egon Krenz schrieb später: „Schabowski löste durch seine Unkonzentriertheit Verwirrung aus.“ Mit Abstand betrachtet konnte man – nach Jahrzehnten des Wartens auf die Reisefreiheit – „sofort, unverzüglich“ durchaus als „morgen früh“ verstehen.

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Schabowski holte nach der PK in der Mohrenstraße noch seine Tasche aus dem nahen ZK-Gebäude, fuhr nach Hause in die Politbürosiedlung Wandlitz und gab später zu Protokoll, er habe „keinen Moment daran gezweifelt, dass alles so laufen werde wie beschlossen, also die Bürokratie funktioniert, die Grenzöffnung wird am 10. November wirksam“.

Doch nun setzte sich eine mächtige Maschinerie in Gang, die auch ohne steuernde allgewaltige Hand im Hintergrund funktioniert: Um 19.04 Uhr hatte Reuters als Erste die „Weltnachricht“ verbreitet; in derselben Minute lief der vollständige Text der offiziellen Pressemitteilung mitsamt korrektem Datum des Inkrafttretens über die offizielle DDR-Agentur ADN. Um 19.05 Uhr sprach AP von „Grenzöffnung“, 19.17 Uhr zeigte das ZDF die heißen Schabowski-Passagen. ANSA meldete 19.31 Uhr „den Fall der Berliner Mauer“. Um 20 Uhr hatten sich etwa hundert Leute an Grenzübergängen in Berlin versammelt. Da meldete die Tagesschau: „Reiseverkehr frei. Tore in der Mauer weit offen. Völlig komplikationslos nach West-Berlin.“ Das war falsch, doch es wirkte: Tausende machten sich nun auf den Weg.

Egon Krenz erinnert sich an den Fortgang seiner „schwersten Nacht“: Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, habe gegen 21 Uhr telefonisch gefragt: „Was sollen wir machen?“ Nach vergeblichen Versuchen, Verteidigungsminister Heinz Keßler zu konsultieren, entschied Krenz: „Wir werden ja wegen der paar Stunden bis zum 10. November nicht noch eine Konfrontation mit der Bevölkerung riskieren“ und ordnete an: „Hoch mit den Schlagbäumen.“ Um 23.29 Uhr war der Weg nach West-Berlin an der Bornholmer Straße frei, kurz nach Mitternacht öffneten auch Grenzübergänge in die Bundesrepublik – und die Leute riefen: „Waaahnsinn!“

In jener Nacht fiel nicht die Berliner Mauer, aber die Grenze war offen. In der Redaktion der Berliner Zeitung ging am späten Abend des 9. November der Telefonanruf eines Mitarbeiters ein, der an der Bornholmer Straße die Vorgänge beobachtet hatte. Eine Nachricht von der Grenzöffnung zu bringen, wäre also zumindest für einen großen Teil der Auflage bis 24 Uhr möglich gewesen. Der Diensthabende verzichtete, es lag ja nichts Amtliches vor. Erst am nächsten Tag stand dann die Nachricht auf Seite 1 unter der denkwürdigen Schlagzeile: „Aus Worten werden Taten: Hunderttausende DDR-Bürger schauten sich Westberlin an“. Unterzeile: „Die meisten kommen zurück / Vertrauen wächst wieder“.

Die kurze Amtszeit von Egon Krenz endete am 6. Dezember. Zwei seiner Entscheidungen werden vor der Geschichte bestehen: Am 3. November 1989, da war er seit kaum zwei Wochen der mächtigste DDR-Politiker, unterschrieb er den Befehl 11/89, in dem ein für den Verlauf der friedlichen Revolution entscheidender Satz steht: „Die Anwendung der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.“

Aus den vielen Demonstrationen jener Tage, auch am 4. November in Berlin, war immer wieder der Ruf gekommen: „Keine Gewalt!“ So versicherten die Teilnehmer einander ihre Friedfertigkeit. Die Millionen Gestalter der friedlichen Revolution auf den Straßen der DDR – Demokraten, Nationalisten, Sozialisten, Rassisten, Dableiber, Ausreisewillige, Bürgerrechtler diverser Gesinnung, SED-Genossen und SED-Hasser, also der Querschnitt des Volkes - wussten ja nichts von der höchsten Rückendeckung.

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Und in der Nacht des 9. November entschied sich Egon Krenz, ganz im Sinne seines Nichtschieß-Befehls, gegen ein robustes Auftreten der Staatsmacht. Er gab damit zugleich die Mittel aus der Hand, mit der sich Mächtige in aller Regel gegen Machtverlust zu Wehr setzen, wenn sonst nichts mehr hilft. Ein Satz, den er seinen ZK-Genossen nach dem Verlesen der neuen Reiseregelung mitgegeben hatte, lautete: „Wie wir es machen, machen wir es verkehrt.“ So klingt Kontrollverzicht.

Was hernach geschah, ist allbekannt: Immer mehr Grenzübergänge öffneten, die Massen strömten rüber und zurück, freuten sich an jeweils 100 Mark Begrüßungsgeld. Die SED benannte sich am 16. Dezember in SED-PDS um, Rechtsanwalt Gregor Gysi erhielt nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden einen Saalbesen in Überbreite überreicht. Helmut Kohl hatte am 28. November ohne Ankündigung im Deutschen Bundestag ein „Zehn-Punkte-Programm“ für die deutsche Einheit präsentiert und damit das Thema gesetzt, das zuvor in den Debatten über die Erneuerung der DDR keine Rolle gespielt hatte.

Jetzt nahm die „Lokomotive“ Richtung Deutsche Einheit, wie man damals häufig schrieb, Fahrt unter Volldampf auf. Die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 brachte der CDU mit 40,8 Prozent einen Triumph. Am 1. Juli gab es Westgeld und am 3. Oktober den Beitritt zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes. Zwei Jahre später wurde den DDR-Bürgern allmählich klar, welche Landschaften da für wen erblühten. Die Treuhand tat ihr Werk, die Arbeitslosigkeit im Osten stieg auf mehr als 20 Prozent. Damals entstand das Gefühl, das heute die Ost-Gesellschaft umtreibt: das Gefühl, kolonisiert zu werden.

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QOSHE - Weltnachricht vor dem Mauerfall: Wie das erste Reisegesetz unter die Räder der Geschichte kam - Maritta Adam-Tkalec
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Weltnachricht vor dem Mauerfall: Wie das erste Reisegesetz unter die Räder der Geschichte kam

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08.11.2023

Sie kamen zu spät, und das Leben bestrafte sie hart. Die Regierenden in der DDR hatten zu lange gezögert, ihren Bürgern zuzugestehen, wonach diese vehement verlangten: freies Reisen in den Westen. Als am Montag, dem 6. November 1989 der Ministerrat der Bevölkerung ein neues Reisegesetz vorlegte und zur Diskussion aufrief, stand diese Nachricht auf den ersten Seiten der Zeitungen nur noch auf Platz 2. Es dominierte die Großdemonstration vom 4. November, als Hunderttausende auf dem Alexanderplatz Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit gefordert hatten.

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Der zentrale Punkt des den DDR-Bürgern am 6. November 1989 mit großer Geste vorgelegten Entwurfs einer neuen Reiseregelung gestand das Recht zu, ins Ausland zu reisen – unabhängig von Alter oder Reisegrund. Jeder sollte einen Pass erwerben und ein Visum für die Ausreise beantragen können.

DDR-Innenminister Friedrich Dickel erläuterte am Abend in der „Aktuellen Kamera“, den Hauptnachrichten des DDR-Fernsehens, wie bei der zuständigen Volkspolizei-Meldestelle ein Antrag auf Pass und Visum zu stellen sei. Dazu seien zwei Passbilder mitzubringen, das Ausreisevisum für Dienst- und Privatreisen werde in der Regel auf 30 Tage im Jahr befristet. Die Anträge sollten innerhalb von 30 Tagen entschieden werden.

Während der Chef der Volkspolizei im Range eines Armeegeneral im Fernsehen sprach, fanden sich in Leipzig Hunderttausende zur bis dahin größten Montagsdemonstration ein. Auf ihren Transparenten reagierten sie direkt auf das Angebot – und zwar mit Ablehnung. Sie verlangten ein „Reisegesetz ohne Einschränkungen“. Die Regierung der BRD erklärte am selben Tag, die neue Regelung sei ein „klarer Fortschritt gegenüber der bisherigen Praxis“.

In der Berliner Zeitung veröffentlichten Leserbriefen ist zu entnehmen, was die Leute am meisten störte: Alles viel zu kompliziert. Warum soll man ein Ausreisevisum beantragen? Warum so lange Bearbeitungsfristen? Unter den Briefen hatte die Chefredaktion mit Lupe und Pinzette die milderen ausgewählt. In der Erinnerung der Autorin hatten viele Leute den Entwurf empört als bevormundende bürokratische Zumutung zurückgewiesen.

Auch der Rechtsanwalt Gregor Gysi trat im Interview mit der Berliner Zeitung vor allem die vorgesehenen Ausreisevisa in die Tonne. Mit heute unvorstellbarer medialer Langsamkeit der Vorcomputerzeit erschien das Interview am 11. November. Da stand die Grenze schon offen, und auch das eilends überarbeitete Reisegesetz, das eigentlich am Morgen des 10. November hatte in Kraft treten sollen, war von den Ost-Berlinern an der Bornholmer Straße in der Nacht zuvor über den Haufen geworfen worden. Die DDR-Führung brauchte noch eine Weile, um zu begreifen, dass ihr die Kontrolle über die Dynamik der Ereignisse entglitten war. Am 9. November, in den Stunden vor dem historischen Moment, handelte sie noch strikt nach den alten........

© Berliner Zeitung


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