Kurz vor Weihnachten kam ein Leserbrief, der ein ganzes Jahr der Beschäftigung mit DDR-Arbeitsbiografien auf den Punkt brachte – es waren Geschichten über Betriebsleiter, Trassenbauer, Diplomaten, Architekten, Außenhändler, eine Statikerin, einen Tragwerkskonstrukteur, eine Spitzenköchin, einen Windradbetreiber, einen Technikdirektor, eine Kombinatsdirektorin und so fort.

Alles Frauen und Männer aus der Praxis, hoch qualifiziert, engagiert und 1990 mit einem Bruch ihres Lebensweges konfrontiert – verbunden vor allem mit der Entwertung ihrer Lebensleistung.

In dem Brief hieß es: „Ehemalige DDR-Bürger gleich welcher Arbeits- und Gehaltskategorie wollen – wo sie Anspruch darauf fühlen – bestätigt werden: Mindestens in einem wichtigen Abschnitt unseres Lebens haben wir etwas Wichtiges gekonnt, beherrscht und uns angestrengt. Wir haben eine Lebensleistung. In einer wie auch immer zu bezeichnenden Weise haben wir gemeint, es auch für ein Vaterland zu tun“, so schreibt Dietrich Lemke. Man wolle ja nicht mehr, als das Eine sagen: „Wir haben mit dem Wasser gekocht, das wir hatten, und sind nicht, wie der Volksmund sagt, auf der Wurschtsuppe geschwommen.“

25.12.2023

•vor 7 Std.

•gestern

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Lemke reagierte speziell auf den Text über die DDR-Erbauer der Erdgastrassen in der Sowjetunion, auf die von ihnen unter großen Anstrengungen erschaffenen Werte und deren umstandslose Umwandlung von Volkseigentum Ost in hochprofitables Konzerneigentum West, der am Ende auch noch die ahistorische Diffamierung der Pipelines als Symbole einer energetischen Fehlentwicklung folgte.

Hans Sieber, der 1975 in der Ukraine unter anderem für Verdichterstationen an der Trasse zuständig war, schreibt: „Wir haben uns geopfert, aber aus der heutigen Sicht keinen Vorteil mehr!!“

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26.11.2023

In weiteren Texten, die im Lauf des Jahres in der Berliner Zeitung erschienen und die Lebensgeschichten von DDR-Akteuren erzählten, war es um den Betrieb als Lebensmittelpunkt gegangen; andere handelten vom Verramschen der Kirow-Werke Leipzig und des Kranbaus Eberswalde, vom Abriss und von der Verwahrlosung von DDR-Bauten, von der Missachtung von Qualifikationen, vom Verlachen kultureller Besonderheiten, von der Abwicklungen von Betrieben, Institutionen und Menschen.

Dank dafür, dass die Berliner Zeitung über „die Arbeit damaliger Werteschaffender realistisch informierte“ und diese „somit faktisch würdigte“, übermittelte Leser Rolf Schreiber. Leserin Barbara Natusch reagierte in einer Mail als Zeitzeugin „emotional sehr, sehr berührt“ auf die Erinnerungen an die Erbauer der Erdgastrassen. Wenn auch nicht selbst beteiligt, habe sie Anteil genommen „am Geschehen und die Berichterstattungen damals über ungeheure Leistungen vieler junger Männer und Frauen an der Trasse“. Sie erinnert an die „große Bedeutung dessen, was damals geschaffen wurde für uns Menschen/Nutzer von Gas“. Sie vermutet, dass diese Tatsachen „in Regierungskreisen und deren Zuständigen“ nicht bewusst sind.

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Anerkennung, ein Minimum an Respekt für die eigene Leistung – das ist der Punkt, in dem sich 33 Jahre nach der Wiedervereinigung das Unwohlsein angesichts der Ost-West-Verhältnisse bündelt. Das Defizit ist offenbar enorm, vor allem spürt es die Generation „Bau auf“, spüren es also jene Menschen, die in schwierigen Zeiten die Grundlagen für Wirtschaft und Gesellschaft schufen. In ihren Wortmeldungen geht es um weit mehr als um Einzelphänomene – auch um mehr als das Treiben der sogenannten Treuhand.

Ihre Herzen fließen über. Immer mehr Menschen mit Ost-Erfahrung schreiben und reden, auch weil sie beobachten, dass sich die offizielle Erzählung über die DDR immer stärker von ihrer Erinnerung entfernt. Sie wollen zumindest den eigenen Nachkommen ein anderes als das offiziell vermittelte, als verzerrt empfundene Bild hinterlassen.

Die Mitteilsamkeit unterscheidet sie fundamental von ihren Vätern und Müttern (in Ost und West). Diese schwiegen schamvoll über ihr Leben in Hitlerdeutschland. Dass in den 1990er-Jahren der Versuch unternommen wurde, die untergegangene DDR als „zweite deutsche Diktatur“ einzusortieren – nach der NS-Zeit –, brennt bis heute als Ungeheuerlichkeit in den Köpfen einstiger DDR-Bürger.

In der jüngeren Vergangenheit schrumpfte die monströse Einordnung der DDR in die Nähe von Hitlerdeutschland zum Gerede über den „Unrechtsstaat“ oder einfach über „die SED-Diktatur“. Der Kampf um die Deutungshoheit ist also noch lange nicht beendet, die Zeit für eine faire, differenzierte Bewertung der DDR mit all ihren Demokratie- und Menschenrechtsdefiziten einerseits und ihren sozialen und gesellschaftspolitischen Leistungen andererseits ist immer noch nicht reif. Menschen haben in der DDR Willkür, Unrecht und obsessive Spitzelei erfahren – aber weder hat die DDR einen Nachbarn überfallen und ausgeraubt, noch hatte sie den Plan, eine ganze Menschengruppe auszurotten, um nur die offenkundigsten Unterschiede zu nennen.

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Immerhin wehren sich Vertreter der einstigen, eilends ausgetauschten Ost-Eliten immer lauter hörbar gegen die Komplettentsorgung eines Teils der Geschichte. Sie wollen nicht länger das Feld jenen Interpreten überlassen, die viel Eifer darauf verwenden, diesen rabiaten Elitenaustausch zu rechtfertigen.

Der musste angeblich so rabiat sein, weil die bundesdeutschen Eliten ihr schlechtes Gewissen angesichts der nicht erfolgten Entnazifizierung abarbeiten wollten – das vertraute ein BRD-Spitzendiplomat einmal nach viel gutem galiläischem Rotwein der Autorin an. Das war 2016 – kurz nachdem das Bundesjustizministerium einem Untersuchungsbericht hatte entnehmen müssen, dass 1957 satte 77 Prozent der leitenden Beamten des Ministeriums ehemalige NSDAP-Mitglieder waren. „Das sollte uns mit den Kommunisten nicht noch einmal passieren“, sagte der überaus sympathische Herr.

Deutschland einig Vaterland bildete sich also ein, auf Hunderttausende Fachkräfte Ost verzichten zu können. Der heutige Zustand der Republik legt den Gedanken nahe, dass dieser Verzicht auf hohe berufliche Qualifikationen, Leistungsbereitschaft und Engagement ein verhängnisvoller Fehler war.

Die Häufung von Lebensberichten aus der Mitte der einstigen DDR-Gesellschaft gehört zu den durchaus positiven Besonderheiten des Jahres 2023. Mehr Medienecho bekamen jedoch das Wutbuch des Leipziger Literaturprofessors Dirk Oschmann und die vom Üblichen abweichende DDR-Geschichte von Katja Hoyer, einer in England lebenden, aus Guben stammenden Historikerin. Literarische Werke wie die von Anne Rabe oder Charlotte Gneuß, Vertreterinnen der nächsten Generation, setzten thematisch mit Stasi und Gewalt die Reihe der subjektiven Nachforschungen im Unterholz der DDR und der Nachwendezeit fort.

Allerdings: Diese wichtigen Werke entstanden nicht im luftleeren Raum – vielmehr lag etwas in der Luft, das bis dahin bestenfalls diffus artikuliert worden war. So war der DDR-Welle des ablaufenden Jahres der wunderbare Film „In einem Land, das es nicht mehr gibt“ vorausgegangen; er kam im Herbst 2022 in die Kinos.

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Aelrun Goette, die Regisseurin, lebte den ersten Teil ihres Lebens in jenem Land und bekam in der zweiten Hälfte erklärt, wie „das war“ – und zwar von Leuten, die dort nicht gelebt hatten. Keiner habe von ihr, einer Fachfrau in DDR-Angelegenheiten, wissen wollen, wie sie die DDR erlebt, gefühlt, erfahren habe. So hat sie in Interviews ihr Motiv beschrieben, diesen Film über eine besonders interessante Nische der DDR-Gesellschaft zu machen – die Mode- und Designerwelt.

Die Regisseurin berichtet davon, dass sie unter vielen, über die Jahre schichtenweise gewachsenen Ablagerungen erst wieder suchen musste, welches denn zwischen all den West-Erzählungen ihre eigenen Erfahrungen sind – eine Art Selbstvergewisserung. Darin erkannte ich mein eigenes Problem – das Bild der DDR wurde vernebelt durch all die Ost-Erklärer, die kein reales Bild beschreiben, sondern ein interressendienliches erzeugen wollten.

In der Süddeutschen Zeitung formulierte Aelrun Goette es so: „Die Menschen im Osten ringen vergeblich um den Zugang zu ihrer eigenen Identität, weil ihnen immer wieder eine Schablone übergestülpt wird, hinter der sie sich nicht wiederfinden.“ Man müsse deshalb „eine Bresche ins System schlagen“. Das ist Oschmann, Hoyer, aber auch den vielen Schreibenden aus der DDR-Praxis in diesem Jahr gelungen. Die Vielfalt der Perspektiven in der Ost-Debatte ist enorm gewachsen.

Udo Vetterlein meldete sich mit einem Leserbrief, als er den Bericht über das Nachwendeschicksal der DDR-Betriebe Takraf, Kranbau Eberswalde und Kirow-Werke Leipzig gelesen hatte. Ihn erschütterte die Erinnerung daran, wie die Treuhand „DDR-Vermögen verramscht und der Vernichtung preisgegeben“ hatte. „Meine Generation, Jahrgang 1936, hat wahrgenommen, dass vieles, was [seinerzeit] in Gegenwartskunde über die BRD gelehrt wurde, nach der Wiedervereinigung wahr geworden ist.“ In der DDR war man ja von den unangenehmen Seiten des Kapitalismus nicht betroffen. All das habe man erst für „unser weiteres Fortkommen lernen“ müssen.

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Peter Müller erinnerte der Artikel über den respektlosen Umgang mit der DDR-Architektur am Fuß des Fernsehturms an den schönen Ort, der dort einmal war, an das Ausstellungszentrum, wo Werke der bildenden Kunst, der Fotografie und des Kunsthandwerks bei freiem Eintritt viel Zulauf erfahren hatten. Laut seinen Tagebuchaufzeichnungen hat er dort zwischen 1975 und 1989 einundzwanzig Ausstellungen besucht. Nun schreibt er: „Wenn ich die heutigen Nutzungen dieser Räumlichkeiten sehe, wird mir übel.“

Was im Westen in den Einheitsjahren überwiegend als Gemecker und Genörgel undankbarer Ossis wahrgenommen wurde, hatte handfeste Gründe. Mit Verspätung, aber immerhin, werden diese Gründe nun besprochen, teilweise sogar verstanden und akzeptiert. Leider hat die Verspätung auch bewirkt, dass populistische Kräfte wie die AfD sich der vernachlässigten Themen bemächtigen und teilweise die Definitionshoheit erobern konnten. Man denke nur an die Losung vergangener Wahlen: „Vollende die Wende.“ 2024 werden wir nach Landtagswahlen in vier ostdeutschen Bundesländern wissen, ob die nächste Zeitenwende ansteht.

Zeitenwende – diesen Titel wählte die Berliner Zeitung für eine Serie von Texten, die sich von März 2020 an (das war kurz nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie) mit dem Zustand des Landes befassten. Da hatte noch kein Kanzler entdeckt, dass sich die Zeiten nach 30 Jahren gleichförmigen Dahingleitens mal wieder wendeten. Damals schrieb zum Beispiel Marion Diehr: „Bravo, Berliner Zeitung! Ihre Serie ‚Zeitenwende‘ ist der richtige Weg, um Pauschalisierungen und Vorurteile abzubauen.“

Auf diesem Weg geht es im Jahr 2024 weiter. Rolf Schreiber hat im ablaufenden Jahr beobachtet, dass das Thema Abwicklung von Ost-Kompetenz stärker im Fokus der Öffentlichkeit steht: „Das stimmt mich sehr zuversichtlich.“ Und Leser Ulrich Kaiser hofft auf mehr, wenn „langsam aber sicher die Leistungsträger – 30 plus von vor 89 – in Rente“ kommen: „Das kann noch spannend werden.“

QOSHE - Klare Worte aus dem Osten 2023: Wir wollen Anerkennung unserer Lebensleistung - Maritta Adam-Tkalec
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Klare Worte aus dem Osten 2023: Wir wollen Anerkennung unserer Lebensleistung

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27.12.2023

Kurz vor Weihnachten kam ein Leserbrief, der ein ganzes Jahr der Beschäftigung mit DDR-Arbeitsbiografien auf den Punkt brachte – es waren Geschichten über Betriebsleiter, Trassenbauer, Diplomaten, Architekten, Außenhändler, eine Statikerin, einen Tragwerkskonstrukteur, eine Spitzenköchin, einen Windradbetreiber, einen Technikdirektor, eine Kombinatsdirektorin und so fort.

Alles Frauen und Männer aus der Praxis, hoch qualifiziert, engagiert und 1990 mit einem Bruch ihres Lebensweges konfrontiert – verbunden vor allem mit der Entwertung ihrer Lebensleistung.

In dem Brief hieß es: „Ehemalige DDR-Bürger gleich welcher Arbeits- und Gehaltskategorie wollen – wo sie Anspruch darauf fühlen – bestätigt werden: Mindestens in einem wichtigen Abschnitt unseres Lebens haben wir etwas Wichtiges gekonnt, beherrscht und uns angestrengt. Wir haben eine Lebensleistung. In einer wie auch immer zu bezeichnenden Weise haben wir gemeint, es auch für ein Vaterland zu tun“, so schreibt Dietrich Lemke. Man wolle ja nicht mehr, als das Eine sagen: „Wir haben mit dem Wasser gekocht, das wir hatten, und sind nicht, wie der Volksmund sagt, auf der Wurschtsuppe geschwommen.“

25.12.2023

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Lemke reagierte speziell auf den Text über die DDR-Erbauer der Erdgastrassen in der Sowjetunion, auf die von ihnen unter großen Anstrengungen erschaffenen Werte und deren umstandslose Umwandlung von Volkseigentum Ost in hochprofitables Konzerneigentum West, der am Ende auch noch die ahistorische Diffamierung der Pipelines als Symbole einer energetischen Fehlentwicklung folgte.

Hans Sieber, der 1975 in der Ukraine unter anderem für Verdichterstationen an der Trasse zuständig war, schreibt: „Wir haben uns geopfert, aber aus der heutigen Sicht keinen Vorteil mehr!!“

Erdgas aus der Trasse: Die DDR schuf Milliardenwerte, Konzerne kassierten

10.12.2023

Lady-Boss: Wie Christa Bertag die ganze DDR mit Kosmetik versorgte

26.11.2023

In weiteren Texten, die im Lauf des Jahres in der Berliner Zeitung erschienen und die Lebensgeschichten von DDR-Akteuren erzählten, war es um den Betrieb als Lebensmittelpunkt gegangen; andere handelten vom Verramschen der Kirow-Werke Leipzig und des Kranbaus Eberswalde, vom Abriss und von der Verwahrlosung von DDR-Bauten, von der Missachtung von Qualifikationen, vom Verlachen kultureller Besonderheiten, von der Abwicklungen von Betrieben, Institutionen und Menschen.

Dank dafür, dass die Berliner Zeitung über „die Arbeit damaliger Werteschaffender realistisch informierte“ und diese „somit faktisch würdigte“, übermittelte Leser Rolf Schreiber. Leserin Barbara Natusch reagierte in einer Mail als Zeitzeugin „emotional sehr, sehr berührt“ auf die Erinnerungen an die Erbauer der Erdgastrassen. Wenn auch nicht selbst beteiligt, habe sie Anteil genommen „am Geschehen und die Berichterstattungen damals über ungeheure Leistungen vieler junger Männer und Frauen an der Trasse“. Sie........

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