Wer gafft, also an Unfallstellen das Geschehen beobachtet und sogar Fotos macht, ist ein potenzieller Mörder. Das ist ein harter Vorwurf. Genau damit konfrontierte eine Imageaktion der Johanniter-Unfallhilfe und der Werbeagentur Scholz & Friends jene Leute, die an einem Einsatzort ihre Smartphone-Kamera auf einen Rettungswagen oder die Ausrüstung von Einsatzkräften richteten – und prompt damit konfrontiert wurden: „Gaffen tötet!“

Auslöser der postwendenden Anklage war die ebenso schlichte wie innovative Idee der Werbeleute, Autos oder Rucksäcke der Helfer mit QR-Codes zu versehen. Sobald jemand die Kamera des Mobiltelefons darauf richtete, öffnete sich eine Website, die eben jenen kritischen Slogan anzeigte.

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Für die Aktion wurden mehr als 30 Rettungswagen der Johanniter in zehn Bundesländern mit diesem listigen Design ausgestattet. Und weil es so experimentell war, bekam ein Forschungsteam der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin den Auftrag, das Projekt wissenschaftlich zu begleiten.

Zum Glück, denn nach 24 Monaten präsentierte das Team um Marisa Przyrembel während eines Symposiums die Forschungsergebnisse. Diese setzen der Behauptung, Zuschauermassen behinderten die Arbeit der Rettungskräfte, reale Daten entgegen. Schon mal vorweg: Der Alarm kann abgesagt werden.

Ein dramatisch inszenierter Kurzfilm von Scholz & Friends hatte im Jahr 2021 behauptet, im Durchschnitt belagerten 26 Schaulustige jeden Einsatz; zudringliche Leute fotografierten sogar über die Schultern der Rettungskräfte hinweg. Als Ziele des Projekts wurden formuliert: Rettungseinsätze sicherer machen, die Gesellschaft sensibilisieren.

Medien griffen die Aktion auf und fungierten wie üblich als Empörungsverstärker: Schlimmes Fehlverhalten nehme zu, die Gesellschaft verrohe. Fortan musste die Öffentlichkeit glauben, die Helfer erlebten quasi täglich unerhörte Zumutungen, Störungen, Belästigungen durch Gaffer. Gefahr.

Eine Gesetzesverschärfung schien die Schwere des Problems zu unterstreichen: Seit 2021 stellt Paragraf 201a des Strafgesetzbuches das Fotografieren und Filmen von hilflosen, verletzten oder toten Personen unter Strafe (bis zwei Jahre Gefängnis); die Behinderung von Menschen, die Hilfe leisten, ist laut Paragraf 323 ebenfalls strafbewehrt.

Die von Marisa Przyrembel, einer Professorin für klinische Psychologie und quantitative Methoden, vorgestellten Forschungsergebnisse beruhen auf der Auswertung von 281 Einsatzprotokollen sowie 48 Interviews und holen das Problem auf den Boden der Tatsachen: Die Zahl von 26 Schaulustigen pro Einsatz nennt die Wissenschaftlerin „eine Chimäre“. In der großen Mehrzahl der Fälle seien ein bis fünf Zuschauende protokolliert worden. In den Wochendokumentationen von 39 Rettungswachen aus zehn Bundesländern habe es bei knapp der Hälfte überhaupt keine Einsätze mit störenden Zuschauern gegeben. Von Fotografierenden sei noch seltener berichtet worden.

Bei gut 90 Prozent der Einsätze gab es zudem keinerlei Probleme, die durch Zuschauende entstanden. Für die restlichen zehn Prozent ergaben die empirischen Erhebungen wenige Fälle von fotografierten Einsatzkräften und Bilder vom Abtransport der Unfallopfer. Ganze sieben Mal – bei fast 300 Protokollen – wurde von verbaler Aggression, einmal von körperlicher Aggression berichtet. Das Argument für die Gesetzesverschärfung –„die Lage sei zunehmend schlimm“ – entbehre der empirischen Basis. Und das Wort „Gaffen“ sei auch „kein wissenschaftlicher Begriff“. Statt das negativ aufgeladene Wort zu benutzen, spricht die Wissenschaftlerin von „störendem Zuschauen“.

Rettungseinsätze sind also mitnichten Schauplätze von exzessiv schlechtem menschlichen Verhalten. In den wissenschaftlichen Interviews wurde von den Retterinnen und Rettern explizit auch korrektes Verhalten von Menschen an Unglücksorten gelobt. Marisa Przyrembel bezieht sich auf eine interviewte Notfallsanitäterin: Diese sieht die im Weg stehenden Augenzeugen eher „gefangen in der Situation“, aus der sie sich offenkundig nicht von allein lösen können.

Zudem herrsche laut repräsentativen Befragungen des Forschungsteams ein hohes Problembewusstsein über das Stören an Einsatzorten in der Bevölkerung. Stellt sich die Frage, ob das Problem tatsächlich immer größer wird. Die Forscherin sagt: „Tendenziell bejahen die Rettenden dies, weil es durch Smartphones digitaler und damit verstärkt wahrgenommen wird: Die Qualität des Zuschauens hat sich verändert.“ Zuschauerinnen und Zuschauer teilen und posten, aber das sagt nichts über Häufigkeit und Dimension der Störungen.

Jörg Lüssem, Mitglied des Johanniter-Bundesvorstandes, bleibt trotz des korrigierten Lagebildes bei der positiven Einschätzung der Imageaktion: „Auch wenn es nicht viele Störfälle gibt – jeder Fall ist zu viel.“ Die Zahl sei nicht relevant, denn es gehe jedes Mal um „mittelbares Töten“. Ihn freut, dass das Thema Schaulust aufgegriffen wurde: „Auch wenn wir es nicht mit einem Massenphänomen zu tun haben, muss die Öffentlichkeit sensibilisiert werden.“

Und was ist mit den Rettungskräften selber? Bleiben die Frauen und Männer in ihrem körperlich wie mental belastenden Job ohne Fehlverhalten, greifen sie niemals zum Smartphone, um Bilder zu machen, zu zeigen oder über soziale Medien zu teilen? Spannende Frage – womöglich eine unangenehme. Dennis Wengenroth, der an der Akkon-Hochschule Global Health studiert und durch die eigene Arbeit als Rettungskraft und Feuerwehrmann mit Praxiserfahrung ausgestattet ist, stellte sie sich und entdeckte: Damit hat sich noch niemand beschäftigt; Datengrundlage gleich null. In seiner soeben veröffentlichten Bachelorarbeit liefert er erste Fakten, und die Fachleute staunen.

Dennis Wengenroth befragte zwölf Feuerwehrleute und Rettungsdienstler ausführlich in anonymisierten Interviews. Zehn der zwölf sagten, dass sie selber fotografieren. Und alle zwölf berichten, dass sie Kollegen beim Fotografieren beobachtet haben. Sie machen Selfies, knipsen Kollegen, die Unfallsituation und Verletzte, für dienstliche, aber auch für private Zwecke. Meistgenutztes Gerät ist das private Mobiltelefon. Beliebtes Motiv ist die Anfahrt unter Blaulicht zum Einsatzort.

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Der junge Forscher berichtet von einem krassen Fall: Feuerwehrleute löschen einen Innenbrand. Draußen vor der Tür steht in voller Einsatzmontur der Sicherheitstrupp, der im Notfall den Kollegen drinnen zu Hilfe eilen kann. Einer zieht den schweren, wie aus einer Kosmonautenausrüstung entliehenen Handschuh aus, greift zum Handy, fotografiert in die Rauchschwaden hinein die dramatische Szenerie. Dennis Wengenroth sagt: „Wäre in diesem Moment der Ernstfall eingetreten, wäre der Mann nicht sofort einsatzfähig gewesen.“ Überhaupt: Das Handy sei bekanntermaßen ein nicht feuersicheres, potenziell explosionsfähiges Gerät. Muss man das bei einem solchen Einsatz bei sich tragen?

Einen online gestellten Fragenkatalog, der sich an Profis richtet, beantworteten 296 Fachleute aus dem Rettungsdienst und der Feuerwehr. Eine erstaunlich hohe Zahl, wie Dennis Wengenroth einschätzt. Die Suche nach den Motiven für das Fotografieren ergibt bei den zwölf Experten wie in der Online-Befragung allzu Menschliches: Man ist stolz auf die Arbeit, die bewältigten Einsätze, das Team, die Gemeinschaftsfähigkeit. Man möchte das Erlebte festhalten, sich selbst in einer interessanten Situation darstellen, die Teil eines spannenden Berufs mit faszinierenden Seiten ist, auch um sich zu profilieren.

Andere Erklärungen für das Fotografieren lauten: Man brauche die Bilder zur Dokumentation, für Aus- und Fortbildungszwecke, zur Beschreibung der Unfallsituation, was später in der Klinik womöglich bei der Behandlung helfe. Man wolle das eigene Team im Fall von Konflikten schützen und brauche die Bilder für die Stressbewältigung im Gespräch mit Kollegen, Freunden oder der Familie. Dass Rettungskräfte Fotos an Unglücksstellen machen, finden die meisten Befragten legitim, anders als das Fotografieren durch Laien – wobei viele Befragte auch ein Gefühl der Doppelmoral einräumten.

Der Strafrechtler Prof. Dr. Lucian Krawczyk kommentierte dieses Resultat mit Überraschung: „Die Leute stehen mit einem Bein in der Strafrechtszone.“ Sanitäter als potenzielle Straftäter – dieses Resultat habe ihn überrascht. Er bezweifelt allerdings, dass sich dieses Problem (wie viele andere) mit den Mitteln des Strafrechts lösen lasse, und nennt eine Zahl: In Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern und einer riesigen Zahl von Rettungseinsätzen (Statistiken gehen von 14 Millionen Noteinsätzen pro Jahr aus) habe es im Jahr 2021 ganze neun gerichtliche Verfahren in einer solchen Frage gegeben, acht endeten mit der Verurteilung. Was solle man mehr sagen zur „Bekämpfung von Gaffern“?

Zum „Normalisieren“ eines „medial hochgekochten Phänomens“ von angeblich massenhaften aggressiven Gaffern rät auch Harald Karutz, Professor für Psychosoziales Medienmanagement und selbst Notfallsanitäter. Er kann kein akutes Problem mit Zuschauenden an Einsatzorten erkennen und mahnt eine nüchterne Betrachtung (kein Gutheißen) an sowie professionelle Vorbereitung.

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Zuschauer gehörten dazu. Menschen seien eben neugierig, nähmen betroffen Anteil, wollten wissen, was los ist, sich orientieren, Gefahren erkennen, Informationen sammeln, um sie weiterzugeben – alles völlig normal und evolutionär von Bedeutung. Er erinnert an die faszinierten Massen, die Boxern zusehen, wenn „einer dem anderen eine reinhaut“.

Auch die medial behauptete fortschreitenden „Verrohung“ mag er nicht erkennen und verweist auf Gladiatorenkämpfe oder mittelalterliche Folter- und Hinrichtungsspektakel. Er rät Einsatzkräften, mit Zuschauern gelassen umzugehen und nur bei ernsthaften Zwischenfällen einzugreifen, zum Beispiel wenn diese Spuren verwischten.

Doppelmoral sieht Harald Karutz nicht nur da, wo sich Rettungskräfte „an die eigene Nase“ fassen sollten, sondern auch, wenn die Polizei für die Täterermittlung auffordert, Bilder oder Videos einzusenden. Mit interessanter Kreativität tritt schon mal die Mainzer Polizei auf: Sie hat ein Merkblatt entworfen mit dem Titel: „Gaffen? Klaro, aber richtig.“ Manchmal reicht es, einen halben Meter mehr Abstand zu halten.

QOSHE - Gaffen tötet! Oder doch nicht? Eine wissenschaftliche Studie untersucht die Frage - Maritta Adam-Tkalec
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Gaffen tötet! Oder doch nicht? Eine wissenschaftliche Studie untersucht die Frage

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06.12.2023

Wer gafft, also an Unfallstellen das Geschehen beobachtet und sogar Fotos macht, ist ein potenzieller Mörder. Das ist ein harter Vorwurf. Genau damit konfrontierte eine Imageaktion der Johanniter-Unfallhilfe und der Werbeagentur Scholz & Friends jene Leute, die an einem Einsatzort ihre Smartphone-Kamera auf einen Rettungswagen oder die Ausrüstung von Einsatzkräften richteten – und prompt damit konfrontiert wurden: „Gaffen tötet!“

Auslöser der postwendenden Anklage war die ebenso schlichte wie innovative Idee der Werbeleute, Autos oder Rucksäcke der Helfer mit QR-Codes zu versehen. Sobald jemand die Kamera des Mobiltelefons darauf richtete, öffnete sich eine Website, die eben jenen kritischen Slogan anzeigte.

Tempelhof: 50 Gaffer behindern Rettungseinsatz – Ersthelfer geschlagen

10.09.2023

Wie Screenshots gescheiterter Gedanken zum Gaffen verleiten

30.01.2019

gestern

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gestern

Für die Aktion wurden mehr als 30 Rettungswagen der Johanniter in zehn Bundesländern mit diesem listigen Design ausgestattet. Und weil es so experimentell war, bekam ein Forschungsteam der Akkon-Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin den Auftrag, das Projekt wissenschaftlich zu begleiten.

Zum Glück, denn nach 24 Monaten präsentierte das Team um Marisa Przyrembel während eines Symposiums die Forschungsergebnisse. Diese setzen der Behauptung, Zuschauermassen behinderten die Arbeit der Rettungskräfte, reale Daten entgegen. Schon mal vorweg: Der Alarm kann abgesagt werden.

Ein dramatisch inszenierter Kurzfilm von Scholz & Friends hatte im Jahr 2021 behauptet, im Durchschnitt belagerten 26 Schaulustige jeden Einsatz; zudringliche Leute fotografierten sogar über die Schultern der Rettungskräfte hinweg. Als Ziele des Projekts wurden formuliert: Rettungseinsätze sicherer machen, die Gesellschaft sensibilisieren.

Medien griffen die Aktion auf und fungierten wie üblich als Empörungsverstärker: Schlimmes Fehlverhalten nehme zu, die Gesellschaft verrohe. Fortan musste die Öffentlichkeit glauben, die Helfer erlebten quasi täglich unerhörte Zumutungen, Störungen, Belästigungen durch Gaffer. Gefahr.

Eine Gesetzesverschärfung schien die Schwere des Problems zu unterstreichen: Seit 2021 stellt Paragraf 201a des Strafgesetzbuches das Fotografieren und Filmen von hilflosen, verletzten oder toten Personen unter Strafe (bis zwei Jahre Gefängnis); die Behinderung von Menschen, die Hilfe leisten, ist laut Paragraf 323 ebenfalls strafbewehrt.

Die von Marisa Przyrembel, einer Professorin für klinische Psychologie und quantitative Methoden, vorgestellten Forschungsergebnisse beruhen auf der Auswertung von 281........

© Berliner Zeitung


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