Milliardeninvestitionen in die Zukunftssicherung oder soziale Wohltaten? Darüber wird Deutschland 2024 entscheiden müssen. Der Kampfplatz heißt Bundeshaushalt. Woher kommt das Geld für die Transformation? Verteidigung, Klima, Energie, Künstliche Intelligenz – jeder Bereich verlangt Multi-Mega-Milliarden.

Die DDR-Führung stand in den 1970ern vor eben dieser Frage: Hunderttausende Wohnungen zur Freude der DDR-Bürger bauen oder mit Milliardenaufwand eine eigene Mikroelektronik aus dem Boden stampfen, eigene Chips entwickeln und produzieren, um die wichtigste Branche der Wirtschaft, den Maschinenbau, weltmarktfähig zu halten? Alle wussten, dass bald niemand mehr Maschinen und Anlagen der traditionsreichen DDR-Industrie kaufen würde, sollten sie nicht mit elektronischen Steuerelementen arbeiten. Es ging also ums wirtschaftliche Überleben.

„Wir wussten, dass wir Rinde essen müssen, wenn das Mikroelektronikprogramm durchgesetzt würde, aber ohne ging eben gar nichts“, sagte der Physiker Prof. Richard Schimko, vor der Wende Forschungsdirektor im Berliner Werk für Fernsehelektronik, vor ein paar Jahren bei einer Veranstaltung. Mit auf dem Podium saß damals der inzwischen verstorbene Karl Nendel, „General der Mikroelektronik“ der DDR, korrekt: Regierungsbeauftragter für die Mikroelektronik. Der schrieb in seiner 2018 erschienenen Autobiografie: „Beides – der umfangreiche Wohnungsneubau und die aufwendige Förderung der neuen Technologien – konnte nicht gleichzeitig bewältigt werden.“

Die SED-Führung entschied sich für das Sozialprogramm und gegen Investitionen in die Modernisierung der Wirtschaft. Wohnungen statt Computer und Steuerelemente, Konsumgüter statt Investitionen in wissenschaftlich-technischen Fortschritt lautete die neue Losung des seit 1971 neuen Mannes an der Spitze, Erich Honecker. Sein Vorgänger Walter Ulbricht war ein glühender Verfechter der Mikroelektronik gewesen, aber die Bevölkerung klagte über Versorgungsmängel. Und im Westfernsehen sahen die DDR-Bürger täglich das vermeintliche Konsumparadies West.

Honeckers neuer Kurs ließ nun aber die Entwicklung neuer Technologien stagnieren. Projekte für Schlüsseltechnologien wurden gestoppt oder reduziert – bis der Schaden nicht mehr zu ignorieren war. Selbst das Ministerium für Staatssicherheit, Hauptabteilung Aufklärung, warnte die SED-Führung, die DDR werde „komplett abgehängt“, wenn nicht endlich etwas geschehe. 1977 schwenke Honecker wieder zurück auf Ulbricht-Kurs. Jetzt hatten die Forschungsinstitute und Elektronikkombinate schleunigst aufzuholen und sich „schonungslos mit dem fortgeschrittenen internationalen Stand zu vergleichen“.

•gestern

•gestern

22.03.2024

22.03.2024

22.03.2024

Plötzlich scheint der Osten auf der Überholspur

17.03.2022

„Hammer der Zerstörung“: Wie Weltspitze-Firmen für ’ne Mark verramscht wurden

15.05.2023

Weltspitzenprodukte gab es ja durchaus, zum Beispiel Hafenkrane, DDR-Exportschlager aus dem Kombinat Takraf in Eberswalde und Leipzig. So machten 1979 in Mexiko zwei Containerladebrücken dem Panamakanal Konkurrenz – eine stand am Pazifik, eine am Atlantik, dazwischen etwa 400 Kilometer Bahngleise.

Detlef Jank, 1977 bis 1983 stellvertretender Takraf-Generaldirektor (danach Generaldirektor Kombinat Schienenfahrzeugbau), berichtete: „Da stieg ein Kranfahrer auf seine Containerladebrücke, schaltete auf Betrieb und konnte den Rest der Schicht Zeitung lesen, während Container um Container von Mikroelektronik gesteuert von Takraf-Technik aus dem Schiff gehoben und auf einen Eisenbahnwagen gesetzt wurde. Der Zug schob sich mit 6,4 Kilometer pro Stunde voran, bis er beladen war und sich auf seinen Weg zum anderen Ozean machte, wo ein ebensolcher Kran die Fracht wie mit Zauberhand wieder in ein Schiff hineinhievte.“

Während des jüngsten Generaldirektorensalons der Verlegerin Katrin Rohnstock in Pankow erzählte der inzwischen 85-Jährige noch immer begeistert von dem ehrgeizigen Projekt der Mexikaner, den teuren und überlasteten Panamakanal zu umgehen – und die DDR war mit traditioneller Qualität aus dem Maschinenbau plus Mikroelektronik dabei. Das hätte die Zukunft des Industrieländchens DDR werden sollen.

Doch die 1977 gestartete „Offensive Mikroelektronik“ überforderte gleich mehrere Systeme – allerdings nicht die Ingenieure, die Bastler und Tüftler. So könnte man das Fazit des Treffens ehemaliger Wirtschaftslenker im Rohnstock-Salon zusammenfassen. Erstaunlich, wie sehr die Probleme den heutigen ähneln: Wie kann man mit den großen Mikroelektronikproduzenten mithalten oder zu ihnen aufschließen? Wie überwindet man den Kapitalmangel? Wie geht man mit politischen Zwängen um – und so fort? Im Falle der DDR erschwerten zwei Faktoren die Lage zusätzlich: das Technologie-Embargo im Ost-West-Handel und der Mangel an Partnern.

Dr. Reinhard Schiffel konnte als ehemaliger Leiter für Elektronik/Elektrotechnik des Operativ-Technischen Sektors im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) hohe Sachkenntnis beitragen. In den Werkstätten dieses Sektors entstand spezielle Technik, unter anderem zur Überwachung: „Wir hatten auf dem Brocken Technik, die 300 Kilometer in die Bundesrepublik hineinhören konnte“, sagt er. Technisch betrachtet eine Höchstleistung.

Microchips als Öl des 21. Jahrhunderts: Kann sich Deutschland ein China-Embargo leisten?

23.11.2023

„Gebaute Qualität wurde ohne Not weggeworfen“

13.09.2020

Seine rückblickende Diagnose zur Entwicklung der Mikroelektronik weltweit: Die wesentlichen Fortschritte in der Rechentechnik und Datenverarbeitung kamen aus dem Militärbereich – weit überwiegend aus den USA. Dort konzentrierte sich das Kapital der Rüstungsindustrie. Dort entwickelte man die ersten Halbleiter (ab 1947) und immer leistungsfähigere Mikroprozessoren. Auch das Internet entstand als Militärkommunikationssystem. Es wurde in gewissermaßen abgerüsteter, also weniger leistungsfähiger Form schrittweise an die Industrie übergeben – ebenso das Positionsbestimmungssystem GPS, „mit Abstrichen an der Genauigkeit“. Im Vergleich zu den USA sei auch die Bundesrepublik immer weiter zurückgefallen.

Die DDR, so berichtet Schiffel, stand vor der strategischen Frage, ob man die elektronischen Bauteile kopieren und nachbauen oder eine eigene Entwicklung in Gang setzen sollte. Man entschied sich für Nachentwicklung, mit dem Gedanken: „Wir kopieren so lange, bis eine Eigenentwicklung gelingt.“ Das Verfahren habe dann alle Kapazitäten gebunden und sei volkswirtschaftlich ungünstig gewesen. „Was haben wir geschafft?“, fragt Schiffel.

Der im Wesentlichen nachgebaute 1-Mbit-DRAM-Schaltkreis U61000, auch 1-Megabit-Chip genannt, wurde am 12. September 1988 mit viel Trara an Erich Honecker übergeben. Man habe, so Schiffel, damit nichts weiter nachgewiesen, als „dass wir die Technologie einigermaßen im Griff hatten“. 1990 sollte der Chip in Serienproduktion gehen, doch dann fiel erst die Mauer und danach das CoCom-Embargo. Nun waren preisgünstige West-Chips aus Massenproduktion leicht zugänglich.

Von Anfang an war klar, erklärt Schiffel, dass die DDR allein zu klein war für eine selbstständige Mikroelektronik: „Aber wir hatten keine Partner – weder im RGW, auch nicht in der Sowjetunion.“ Die habe lieber Raketentechnik gebaut, sich vollständig auf militärische Interessen konzentriert und alles Wissen für sich behalten. Karl Nendel sah die Möglichkeiten im RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe), dem Zusammenschluss der sozialistischen Staaten, illusionslos: „Kann man vergessen“, urteilte er angesichts des beobachteten Chaos.

Die ersten Veröffentlichungen zum Thema Mikroelektronik in der DDR gab es in den 1950er-Jahren, vor allem der Physiker Matthias Falter präsentierte mit seinem Forschungsteam Spitzentechnik, ab 1960 konzentrierte sich dessen Arbeit im Institut für Halbleitertechnik Teltow. Seit 1961 existierte die Arbeitsstelle für Molekularelektronik in Dresden. 1970 gab es erste integrierte Schaltkreise made in DDR.

Nach der Weichenstellung zugunsten der Sozialprogramme wuchs der Rückstand zum Westen. Der Hauptstandort wechselte von Teltow nach Erfurt, im dort angesiedelten Kombinat Mikroelektronik (KME) wurden Halbleiter und Prozessoren entwickelt. Der Standort Teltow ist heute fast vergessen, obwohl das volkseigene Werk für Bauelemente der Nachrichtentechnik Halbleiter für Radios, Baumaschinen, Loks, S-Bahnen und Haushaltsgeräte baute. Nach 1992 zerlegte die Treuhand die Branche.

Dresden sei knapp davongekommen, sagt Reinhard Schiffel, und bilde heute den Kristallisationspunkt für Forschung, Entwicklung und Produktion. Dieter Altmann, ehemals Betriebsdirektor im VEB Schott & Gen. in Jena, erinnert daran, dass im Forschungszentrum Dresden 3000 Wissenschaftler daran arbeiteten, für die DDR Geräte zur Herstellung von Chips zu entwickeln – beteiligt war auch die legendäre Präzision von Zeiss, zum Beispiel bei der Herstellung superdünner Schichten oder bei der Eigenzucht von Kristallen.

Jens Knobloch, als Chefkonstrukteur in Dresden einst maßgeblich an der Entwicklung des famosen DDR-Megabit-Chips beteiligt, hatte bei einem früheren Treffen auf die Frage, ob das alles für die Katz war, eindeutig geantwortet: „Nö.“ Die Arbeit der DDR-Mikroelektroniker, ihre bewiesene Leistungsstärke, hätten den Ruf Dresdens langfristig gestärkt.

Firmen wie Infineon, AMD, Bosch, Fraunhofer-Institut siedelten sich an. Silicon Saxony war schon bisher mit seinen Halbleiter-, Fotovoltaik- und Software-Betrieben das größte Mikroelektronikzentrum Europas. Nun will der Chiphersteller TSMC zehn Milliarden Euro investieren, und Intel plant eine Fabrik bei Magdeburg. Beide nennen als einen Standortvorteil für Ostdeutschland die traditionell vorhandene Expertise.

Chefkonstrukteur des DDR-Megabit-Chips: Komplexe Mikroelektronik braucht Planung

07.10.2022

Dresden ist ein gefragtes Zentrum der Digitalisierung, wie früher in der DDR

06.04.2021

„Da war doch eine ganze Menge“, sagten auch die ehemaligen DDR-Wirtschaftslenker im Rohnstock-Salon voller Stolz. 14 Milliarden Mark hatte der chronisch klamme Staat DDR in die Mikroelektronik investiert. Die Ernte wird jetzt eingefahren.

Der Sozialstaat Bundesrepublik macht – wie einst die Honecker-DDR – keine Anstalten, die Bevölkerung auf die Härten im Kampf um Weltmarktpositionen einzuschwören. Und der nächste Technologieschub verlangt nach immer neuen Investitionen in Forschung und Entwicklung – auch in Deutschland, wenn man bei der Nutzung der Künstlichen Intelligenz nicht aus der Spitzengruppe nach hinten durchgereicht werden will.

„Hier wird es eine wahnsinnige Rationalisierung durch Akkumulation von Wissen geben“, ist Alexander Schmejkal, Ingenieur und in den 1970ern Vizebürgermeister von Prenzlauer Berg, überzeugt. Er sieht „fantastische Möglichkeiten“. Allerdings: „Wenn Maschinen selber Algorithmen entwickeln, wird’s gefährlich.“ Chancen und Gefahren liegen nah beieinander, doch bei den mit Jahrzehnten einschlägiger Erfahrung Ausgestatteten überwiegt der Optimismus. Schmejkal sagt: „Ist es nicht herrlich, dass wir das noch erleben!“

QOSHE - DDR-Mikroelektronik: Wie die Basis für heutige Ost-Hightech-Zentren geschaffen wurde - Maritta Adam-Tkalec
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

DDR-Mikroelektronik: Wie die Basis für heutige Ost-Hightech-Zentren geschaffen wurde

10 15
24.03.2024

Milliardeninvestitionen in die Zukunftssicherung oder soziale Wohltaten? Darüber wird Deutschland 2024 entscheiden müssen. Der Kampfplatz heißt Bundeshaushalt. Woher kommt das Geld für die Transformation? Verteidigung, Klima, Energie, Künstliche Intelligenz – jeder Bereich verlangt Multi-Mega-Milliarden.

Die DDR-Führung stand in den 1970ern vor eben dieser Frage: Hunderttausende Wohnungen zur Freude der DDR-Bürger bauen oder mit Milliardenaufwand eine eigene Mikroelektronik aus dem Boden stampfen, eigene Chips entwickeln und produzieren, um die wichtigste Branche der Wirtschaft, den Maschinenbau, weltmarktfähig zu halten? Alle wussten, dass bald niemand mehr Maschinen und Anlagen der traditionsreichen DDR-Industrie kaufen würde, sollten sie nicht mit elektronischen Steuerelementen arbeiten. Es ging also ums wirtschaftliche Überleben.

„Wir wussten, dass wir Rinde essen müssen, wenn das Mikroelektronikprogramm durchgesetzt würde, aber ohne ging eben gar nichts“, sagte der Physiker Prof. Richard Schimko, vor der Wende Forschungsdirektor im Berliner Werk für Fernsehelektronik, vor ein paar Jahren bei einer Veranstaltung. Mit auf dem Podium saß damals der inzwischen verstorbene Karl Nendel, „General der Mikroelektronik“ der DDR, korrekt: Regierungsbeauftragter für die Mikroelektronik. Der schrieb in seiner 2018 erschienenen Autobiografie: „Beides – der umfangreiche Wohnungsneubau und die aufwendige Förderung der neuen Technologien – konnte nicht gleichzeitig bewältigt werden.“

Die SED-Führung entschied sich für das Sozialprogramm und gegen Investitionen in die Modernisierung der Wirtschaft. Wohnungen statt Computer und Steuerelemente, Konsumgüter statt Investitionen in wissenschaftlich-technischen Fortschritt lautete die neue Losung des seit 1971 neuen Mannes an der Spitze, Erich Honecker. Sein Vorgänger Walter Ulbricht war ein glühender Verfechter der Mikroelektronik gewesen, aber die Bevölkerung klagte über Versorgungsmängel. Und im Westfernsehen sahen die DDR-Bürger täglich das vermeintliche Konsumparadies West.

Honeckers neuer Kurs ließ nun aber die Entwicklung neuer Technologien stagnieren. Projekte für Schlüsseltechnologien wurden gestoppt oder reduziert – bis der Schaden nicht mehr zu ignorieren war. Selbst das Ministerium für Staatssicherheit, Hauptabteilung Aufklärung, warnte die SED-Führung, die DDR werde „komplett abgehängt“, wenn nicht endlich etwas geschehe. 1977 schwenke Honecker wieder zurück auf Ulbricht-Kurs. Jetzt hatten die Forschungsinstitute und Elektronikkombinate schleunigst aufzuholen und sich „schonungslos mit dem fortgeschrittenen internationalen Stand zu vergleichen“.

•gestern

•gestern

22.03.2024

22.03.2024

22.03.2024

Plötzlich scheint der Osten auf der........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play