Der Sachse Erich Kästner hat Berlin reich beschenkt, sein 125. Geburtstag soll gefeiert werden! Von 1927 bis 1933 arbeitete er in der Stadt. Sie fütterte seine Spottlust und Beobachterfreude. Er schrieb Kinderbücher, Romane, Gedichte, Reportagen, Glossen, Rezensionen. 350 Texte konnten für diese Zeit nachgewiesen werden, tatsächlich waren es mehr. Es war seine produktivste Zeit.

Die Nationalsozialisten warfen die hellsichtigen, lebensnahen Texte des „Asphaltliteraten“ und „Kulturbolschewisten“ 1933 auf ihre Bücherscheiterhaufen. Er ging trotz mehrfacher Verhaftungen nicht ins Exil, blieb in Berlin, arbeitete unter Pseudonym (auch für die Ufa), fühlte sich in der Pflicht als Chronist der Zeit. 1944 brannte seine Wohnung in der Charlottenburger Roscherstraße nach einem Bombenangriff aus, seine Notizen aus dem Dritten Reich konnte er retten.

Es kommentiert der am 23. Februar 1899 geborene Dichter:

„Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen.
Mich lässt die Heimat nicht fort.
Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen –
wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.“

„Emil und die Detektive“, sein erster weltberühmter, in 59 Sprachen übersetzter, mehrfach verfilmter Roman entstand 1928 in Berlin. Seine Figuren lebten gewissermaßen vor seiner Haustür, damals in der Prager Straße in Wilmersdorf; heute kann man Führungen zu den Originalschauplätzen erleben. „Pünktchen und Anton“, nach den Hauptfiguren des gleichnamigen Buches, heißen heute Berliner Kindergärten. Auch für dieses Buch über die Freundschaft zwischen einem wohlversorgten Mädchen und einem Jungen aus armer Familie fand Kästner 1931 in Berlin seine Vorlage.

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„Das Doppelte Lottchen“ entstand 1949 dann schon in München. In der DDR waren seine Bücher sehr populär, aber ständig vergriffen – für die Werke des (nunmehr) Westautors hatte der Osten Tantiemen in Devisen zu zahlen. Aber die Bücher kursierten.

Wie dicht dran Erich Kästner am Berliner Leben war, zeigt sein 1930 geschriebenes Gedicht „Berlin in Zahlen“. Gedichtete Statistik! Darauf muss man kommen – und es dann auch noch können. Kästners Verse haben ihre Frische und Gültigkeit vollständig erhalten, sie lesen sich wie gestern geschrieben. Wie treffend er die Stadt in den wenigen Zeilen – dazu flott gereimt – erfasste, zeigt der Versuch, die angeführten Zahlen zu aktualisieren.

Als er „Berlin in Zahlen“ schrieb, hatte die Stadt 4,5 Millionen Einwohner und wankte unter der Weltwirtschaftskrise und politischer Labilität. Er blickt auf die brüchige Kulisse einer Millionenstadt in der Multikrise:

Berlin in Zahlen

Lasst uns Berlin statistisch erfassen!
Berlin ist eine ausführliche Stadt,
die 190 Krankenkassen
und 916 ha Friedhöfe hat.

53.000 Berliner sterben im Jahr,
und nur 43.000 kommen zur Welt.
Die Differenz bringt der Stadt aber keine Gefahr,
weil sie 60.000 Berliner durch Zuzug erhält.
Hurra!

Berlin besitzt ziemlich 900 Brücken
und verbraucht an Fleisch 303.000.000 Kilogramm.
Berlin hat pro Jahr rund 40 Morde, die glücken.
Und seine breiteste Straße heißt Kurfürstendamm.

Berlin hat jährlich 27.600 Unfälle.
Und 57.600 Bewohner verlassen Kirche und Glauben.
Berlin hat 606 Konkurse, reelle und unreelle,
und 700.000 Hühner, Gänse und Tauben.
Halleluja!

Berlin hat 20.100 Schank- und Gaststätten,
6300 Ärzte und 8400 Damenschneider
und 117.000 Familien, die gerne eine Wohnung hätten.
Aber sie haben keine. Leider.

Ob sich das Lesen solcher Zahlen auch lohnt?
Oder ob sie nicht aufschlussreich sind und nur scheinen?
Berlin wird von 4½.000.000 Menschen bewohnt
und nur, laut Statistik, von 32.600 Schweinen.
Wie meinen?

Erich Kästner, 1930

Und heute? Es gibt weniger Krankenkassen, die Friedhofsfläche ist fast gleich groß. Die Sterbezahlen liegen nach wie vor über denen der Geburten (35.729/39.572 im Jahr 2022), der Zuzug gleicht den Verlust mehr als aus. Wir haben 65 Brücken weniger als damals und fast so viele „Morde, die glücken“, nämlich 38 (2022). Den Rang breiteste Straße hat der Kudamm an die Straße des 17. Juni (85,2 Meter) abgegeben. Damenschneider muss man inzwischen (leider) mit der Lupe suchen.

Die Zahl der Ärzte hat sich auf 35.000 fast versechsfacht, die der Gaststätten auf etwa 5000 geviertelt. Rund 130.000 Sozialwohnungen fehlen in Berlin – und das, obwohl trotz allen Zuzugs die 4,5-Millionen-Einwohner-Zahl noch lange nicht erreicht ist. 3.780.579 Leute sind statistisch als Einwohner erfasst – das geht glatt als „erhebliche Stadt“ durch. 76,9 Prozent sind Deutsche, fast ein Viertel Ausländer. So waren die Verhältnisse 1930 nicht.

Zum Schluss noch eine ergänzende Lebensweisheit aus Kästners Sprüchebeutel: „Irrtümer haben ihren Wert; jedoch nur hier und da. Nicht jeder, der nach Indien fährt, entdeckt Amerika.“ Gilt für immer!

QOSHE - 125. Geburtstag von Erich Kästner: Die „erhebliche Stadt“ Berlin war sein Revier - Maritta Adam-Tkalec
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125. Geburtstag von Erich Kästner: Die „erhebliche Stadt“ Berlin war sein Revier

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23.02.2024

Der Sachse Erich Kästner hat Berlin reich beschenkt, sein 125. Geburtstag soll gefeiert werden! Von 1927 bis 1933 arbeitete er in der Stadt. Sie fütterte seine Spottlust und Beobachterfreude. Er schrieb Kinderbücher, Romane, Gedichte, Reportagen, Glossen, Rezensionen. 350 Texte konnten für diese Zeit nachgewiesen werden, tatsächlich waren es mehr. Es war seine produktivste Zeit.

Die Nationalsozialisten warfen die hellsichtigen, lebensnahen Texte des „Asphaltliteraten“ und „Kulturbolschewisten“ 1933 auf ihre Bücherscheiterhaufen. Er ging trotz mehrfacher Verhaftungen nicht ins Exil, blieb in Berlin, arbeitete unter Pseudonym (auch für die Ufa), fühlte sich in der Pflicht als Chronist der Zeit. 1944 brannte seine Wohnung in der Charlottenburger Roscherstraße nach einem Bombenangriff aus, seine Notizen aus dem Dritten Reich konnte er retten.

Es kommentiert der am 23. Februar 1899 geborene Dichter:

„Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen.
Mich lässt die Heimat nicht fort.
Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen –
wenn’s sein muss, in Deutschland verdorrt.“

„Emil und die Detektive“, sein erster weltberühmter, in 59 Sprachen übersetzter, mehrfach verfilmter Roman entstand 1928 in Berlin. Seine Figuren lebten gewissermaßen vor seiner Haustür, damals in der Prager Straße in Wilmersdorf; heute kann man........

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