Es war, als die Bildschirme noch nicht so hochauflösend waren, dass sie mit der Wirklichkeit verwechselt werden konnten. Die Zeit, als junge Menschen noch in Läden einkaufen gingen und ihr Glück in Fußgängerzonen suchten. Dort nahmen sie sich dann ein Gratis-Magazin vom Stapel an der Kasse mit, auf dessen Cover ein LSD-Blättchen auf der Zunge einer Frau mit roten Lippen lag. Oder eine Katze mit zwei verschiedenen Augenfarben die Leser anschielte, die sich gleich einen Text drüber durchlesen konnten, wie es ist, mit Tieren Sex haben zu wollen. Oder Überlegungen dazu, welche Babys die süßesten sind. Weiße, schwarze, asiatische?

Das war die Zeit, als das Magazin Vice sehr erfolgreich war. Ende der Nullerjahre und darüber hinaus. Ein Magazin, das von Anzeigenkunden finanziert wurde, weil die an die junge Zielgruppe ranwollten, die zu dieser Zeit American-Apparel-Schals trug, die viel zu lang waren, viel zu dünn. Die in Harems-Hose und Skinny-Jeans draußen und noch mitten in der Stadt ravten. Vice, das heißt übersetzt Laster, und es war auch die Zeit, als Hedonismus noch cool war. Oder Magazine!

Die deutsche Vanity Fair wurde zwar gerade eingestellt, aber die Magazin-Kultur, die gab es noch. Junge Menschen lasen Spex, Groove, Intro und auch die Vice. Das war das am wenigsten intellektuelle der Magazine, dafür legte es Wert auf Fun und gutes Aussehen. Vice engagierte echte Fotografen und gab ihnen Platz. Nahm den nervigen Text vom Titel, sah einfach gut aus.

Man ließ auch die Mitarbeiter weitestgehend machen. Und das ist ja für Journalismus immer gut. Und selbst, wenn sie nur irgendwas Ekliges in ein Marmeladenglas kippten und das fotografierten. Was war noch mal alles darin? Sperma war bestimmt dabei. Nach außen wirkte das oft wie ein zu cooler Jungs-Club, doch auch Mitarbeiterinnen berichten, es sei sogar auf der Weihnachtsfeier lustig bei der Vice gewesen.

13.02.2024

gestern

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13.02.2024

Die Zeitungsherren hatten jedenfalls Angst vor der Vicezifierung des Journalismus. Und nicht nur die. Headlines à la „Ich bin auf LSD zum Orgasmus-Coach gegangen und das ist dann passiert“ sind bis heute geflügelte Vice-Sprüche. Denn ähnliche Beiträge gab es ja wirklich: „Mein Leben als Ecstasy-Dealerin“ oder „Zwei Mädchen, Berlins größte Kuschelparty und ein Gramm MDMA. Hier das Logbuch unserer Erfahrung“.

Und auch die Angst war berechtigt, der Selbsterlebnis-Ich-Journalismus schlich sich in die anderen Magazine und Zeitungen ein. Viel gefühliger in die Neon, viel personalisierter (junge Frau, große Lippen statt MDMA) und gehaltloser in Die Welt. Und das Aufgeilen an jungen Mädchen auf Drogen, das kann man heute auch in der Serie Euphoria sehen.

Ein paar andere Inhalte gab es aber natürlich doch. Die Redaktion der Vice war früh dran mit Video-Produktionen – was dann allerdings doch nicht so monetär verwertbar war, wie gedacht. Ich durfte als Autorin dank des Magazins das Atommülllager in Gorleben betreten, Schießen lernen und eine Waffenaktivistin besuchen, die mit einer Klobürste in Pistolenform ihr Örtchen säuberte.

Und es gab neben Pipi-Kacka auch investigative Arbeit: Die Baku-Connection der CDU wurde aufgedeckt, die Abzocke von Ex-Rapper und heutigem Coach Kollegah oder die Recherche zum Online-Waffen-Shop „Migrantenschreck“. Der heutige Chefredakteur Tim Geyer machte bis zuletzt hervorragende Arbeit zum Thema Cannabis und dessen Legalisierung. Doch viele gute Autoren wie Max Hoppenstedt oder Viola Funk sind zu anderen Medien gegangen.

Denn die sozialen Medien waren längst da und in ihnen die junge Zielgruppe. Vice Media, der Konzern hinter dem Magazin, das in den 90ern vom tätowierten Kanadier Shane Smith in Montreal als alternatives Stadtmagazin gegründet wurde, und der zu seiner Hochzeit sogar mal an die Börse sollte, hat im Mai 2023 Insolvenz angemeldet und wurde an eine Investmentgruppe verkauft. Seitdem wartet man auf das Ende dieses Magazins, auch in Deutschland. Nun ist es soweit.

Nach 18 Jahren wird Vice Ende März eingestellt. Die letzten irren Nachrichten hatten sie selbst produziert: Smith traf sich mit einem Mitglied der saudischen Dynastie, um Kohle zu erbetteln. Das Management in den USA hat sich kurz vor dem Insolvenzverfahren noch große Boni auszahlen lassen. Aus dem alternativen Medienhaus war ein echter Großkonzern geworden mit allen Schweinereien, die dazugehören. Nur schocken, so wie einst der Text über einen Kannibalen, tut das leider kaum einen mehr.

Medienmarke Vice wird Ende März in Deutschland eingestellt

14.02.2024

Überraschende Pleite: US-Medienunternehmen Vice ist insolvent

15.05.2023

So richtig traurig ist das Vice-Ende dennoch nicht. In den letzten Jahren gab es viele bezahlte Werbepartnerschaften statt journalistische Inhalte. Auf der anderen Seite, welches Medium warnt nun junge Leute vor überdosierten Ecstasy-Tabletten?

Der frühere Chefredakteur Felix Dachsel deutet in einem Artikel aus dem letzten Jahr für seinen neuen Arbeitgeber Spiegel an, der Untergang von Vice habe wohl auch damit zu tun, dass das Provozieren-Wollen zuletzt Gesprächen über Triggerwarnungen gewichen sei. Natürlich ist man heute etwas weiter, als darüber nachzudenken, welche Babys die süßesten seien. Heute tragen die Babys einfach einen Fotofilter! Aber vielleicht ist das Problem von Vice auch, dass sich Coolheit verändert hat. Kritisch zu sein ist nicht mehr cool. Provozieren auch nicht. Auch Drogen sind gar nicht mehr cool. Vielleicht ist nicht mal mehr cool sein cool.

QOSHE - Als Coolsein noch cool war, gab es ein Magazin, das alle haben wollten: Vice - Laura E. Ewert
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Als Coolsein noch cool war, gab es ein Magazin, das alle haben wollten: Vice

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16.02.2024

Es war, als die Bildschirme noch nicht so hochauflösend waren, dass sie mit der Wirklichkeit verwechselt werden konnten. Die Zeit, als junge Menschen noch in Läden einkaufen gingen und ihr Glück in Fußgängerzonen suchten. Dort nahmen sie sich dann ein Gratis-Magazin vom Stapel an der Kasse mit, auf dessen Cover ein LSD-Blättchen auf der Zunge einer Frau mit roten Lippen lag. Oder eine Katze mit zwei verschiedenen Augenfarben die Leser anschielte, die sich gleich einen Text drüber durchlesen konnten, wie es ist, mit Tieren Sex haben zu wollen. Oder Überlegungen dazu, welche Babys die süßesten sind. Weiße, schwarze, asiatische?

Das war die Zeit, als das Magazin Vice sehr erfolgreich war. Ende der Nullerjahre und darüber hinaus. Ein Magazin, das von Anzeigenkunden finanziert wurde, weil die an die junge Zielgruppe ranwollten, die zu dieser Zeit American-Apparel-Schals trug, die viel zu lang waren, viel zu dünn. Die in Harems-Hose und Skinny-Jeans draußen und noch mitten in der Stadt ravten. Vice, das heißt übersetzt Laster, und es war auch die Zeit, als Hedonismus noch cool war. Oder Magazine!

Die deutsche Vanity Fair wurde zwar gerade eingestellt, aber die Magazin-Kultur, die gab es noch. Junge Menschen lasen Spex, Groove, Intro und auch die Vice. Das war das am wenigsten intellektuelle der Magazine, dafür legte es Wert auf Fun und gutes Aussehen. Vice........

© Berliner Zeitung


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