Als noch ziemlich junger Journalist wartete ich mit vielen anderen Kollegen am 17. Juni 1994 in Minsk in der Wahlkampfzentrale eines gewissen Aleksander Lukaschenko, als plötzlich die Nachricht umging, Lukaschenko sei Opfer eines Attentats geworden.

Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, aber niemand wusste Genaues, bis eine russische Kollegin plötzlich sagte, sie habe davon schon vor einer Stunde aus ihrer Zentrale in Moskau erfahren: Jemand habe auf Lukaschenkos Wagen geschossen.

Als dann Lukaschenkos Wahlkampfstab vor die Presse trat, stellte sich heraus: So war es tatsächlich gewesen. Lukaschenko war nichts passiert, der Wagen hatte ein Loch und man wusste nichts Genaues, aber dem Kandidaten war das enorm förderlich.

Alle redeten nun über das Attentat, statt über sein eher rudimentäres Programm oder über seine Gegner. Wie man weiß, gewann Lukaschenko die Wahl gegen den eher drögen amtierenden Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch haushoch und wurde erst Präsident und dann, nachdem er mithilfe von Volksabstimmungen und (erst fairen, danach manipulierten) Wahlen seine Macht gefestigt hatte, Diktator. Und viele meiner Kollegen überlegten (und schrieben) immer wieder, wie es denn kommen konnte, dass man in Moskau von dem Attentat gewusst hatte, bevor es geschehen war. Bis jemand, ich weiß nicht mehr, wer es war, darauf hinwies, dass es ja einen Zeitunterschied gab zwischen Minsk und Moskau. Also doch keine große Verschwörung zwischen Lukaschenko und dem Kreml gegen den (immerhin deutlich besser mit dem Kreml verbandelten) Kebitsch?

Konfliktforscher über Ukrainekrieg: Viele denken, verhandeln heißt nachgeben

31.03.2024

Obama-Berater: „Selbst mit dem Taurus hat die Ukraine keine realistische Chance“

11.03.2024

Das alles jährt sich demnächst zum 30. Mal, aber die Logik, die ich damals lernte, ist immer noch nützlich, besonders in den sozialen Medien, obwohl es die damals noch gar nicht gab. Sie zeigt nämlich, dass, wer sich dort orientieren will, einfach nur einige Grundregeln beherzigen muss, die mit diesen Medien gar nichts zu tun haben.

gestern

•gestern

31.03.2024

•vor 4 Std.

gestern

Zum Beispiel, dass die Ursache immer vor ihren Folgen stattfinden muss und etwas, wenn es nach etwas anderem passiert ist, nicht dessen Ursache sein kann. Und die zweite wichtige Regel: Der Kontext ist wichtig. Kein Arzt und keine Ärztin würden jemandem eine Schwangerschaft bescheinigen, nur weil diese Person schwitzt, einen dicken Bauch hat, ihr unwohl ist und sie abwechselnd saure Gurken und Schokolade in sich hineinstopft. Sie würden auch den Kontext berücksichtigen, zum Beispiel, ob der Patient ein Mann oder eine Frau ist. Auch das ist eine Regel, die in den sozialen Medien immer wieder verletzt wird – zum Beispiel bei dem, was jetzt gleich folgt.

Die Rede ist vom Maidan, den unsere ukrainischen Mitbürger meist „die Revolution der Würde“ und Menschen, die mit ihnen über Kreuz liegen, den Anfang allen Übels nennen. Die These, dass „der Maidan“ ein von den USA orchestrierter Staatsstreich gegen einen demokratisch gewählten und international anerkannten Präsidenten gewesen sei, der Russland zur Annexion der Krim provoziert habe, geistert seit Jahren durch die sozialen Netzwerke.

Eine zentrale Rolle bei dieser These spielen dabei zwei Videos. Die sind genauso echt wie damals die Einschüsse in Lukaschenkos Wagen und zeigen Äußerungen der damaligen Unterstaatssekretärin im Außenministerium der USA Victoria Nuland. Eines davon kommt sogar in der 48. Minute von Oliver Stones Dokumentarfilm „Ukraine on Fire“ vor. Stone selbst liebt es, Verschwörungstheorien zu verbreiten, und arbeitete dabei auch mit eher unkonventionellen Methoden. In seinem Film über die Ermordung John F. Kennedys lässt er sogar fiktive Zeugen auftreten. Nur: Das entwertet ja nicht seine Argumente im Fall Maidan.

Sehen wir uns also die Argumente an. Es besteht durchaus die Chance, dass wir dann alle, wie vor 30 Jahren die Journalisten in Minsk, ziemlich überrascht sein werden.

Die Proteste auf dem Kiewer Maidan Nezaleznosti begannen bereits im November 2013, nachdem der damalige, demokratisch gewählte, international anerkannte und prorussische ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch bei einem Gipfel mit der EU in Vilnius urplötzlich seine Zustimmung zu einem Assoziierungsabkommen mit der EU zurückgezogen hatte.

Die Proteste wurden zunächst von Studenten organisiert und waren absolut friedlich. Janukowitsch hätte es dem Wintereinbruch überlassen können, die Studenten aus Kiew zu vertreiben. Zumal Anfang Januar ohnehin Weihnachten sein würde, das damals noch nach dem julianischen Kalender gefeiert wurde. Stattdessen prügelte eine Sondereinheit der Polizei am 30. November die Studenten in ihren Zelten zusammen und löste damit erst eine Solidarisierungswelle aus, als aus dem ganzen Land (aber hauptsächlich aus dem Westen) Verwandte und Freunde der Studenten anreisten, um diesen beizustehen.

Dem schlossen sich dann auch Rechtsradikale und Oppositionspolitiker an, Janukowitschs Vertraute organisierten ein Gegen-Camp, Hooligans machten Jagd auf junge Leute, die das Maidan-Camp verließen, der friedliche Protest eskalierte, bis er Mitte Januar dann in regelrechte Kämpfe ausartete, bei denen die Demonstranten mehrere Regierungsgebäude besetzten, Heckenschützen scheinbar wahllos auf den Platz schossen und am Ende einhundert Tote zurückblieben.

Insgesamt dauerte dieser Maidan also sechs Wochen – länger, als je ein Putsch gedauert hat. In dieser Zeit hatte Janukowitsch eine bequeme Parlamentsmehrheit (die ihn im Dezember vor einem Misstrauensantrag der Opposition rettete), kontrollierte Polizei, Armee, Geheimdienst und weite Teile der (damals extrem korrupten) Justiz und hatte sich vom Parlament Mitte Januar noch zusätzliche Sondervollmachten geben lassen. Wenn also jemand in dieser Zeit nach immer mehr Macht griff, dann Janukowitsch. Aber ihm vorzuwerfen, er habe gegen sich selbst geputscht, ergibt wenig Sinn.

Zehn Jahre nach dem Maidan: Keiner ahnte, dass wir so viele Opfer bringen müssen

12.02.2024

Polen steht Kopf: Wohnung des Ex-Justizministers wird durchsucht

gestern

Der Putsch-Vorwurf bezieht sich in der Regel auf einige wenige Tage im Februar, als inmitten der bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen plötzlich die Außenminister der Bundesrepublik, Polens und Frankreichs in Kiew landeten und zwischen Janukowitsch und der Opposition etwas aushandelten, was Donald Trump vermutlich einen „Deal“ nennen würde: eine Interimsverfassung und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung bis September, die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit und Neuwahlen für das Amt des Präsidenten bis Dezember sowie eine strafrechtliche Aufarbeitung der Gewaltexzesse.

Ganz wichtig dabei: Das Abkommen, das von allen Beteiligten außer dem russischen Entsandten unterschrieben wurde, erlaubte es Janukowitsch noch bis Dezember (de facto bis zur Wahl eines Nachfolgers oder seiner möglichen Wiederwahl) im Amt zu bleiben. Nicht ganz das, was man von einem Putsch erwarten würde. Deshalb waren die Unterhändler der Opposition auch überhaupt nicht begeistert davon. Das ist der Grund, warum der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski die Oppositionellen damals anbrüllte: „Unterschreibt das – oder ihr werdet alle sterben“, was ihm nach der Rückkehr dann in Polen zum Vorwurf gemacht wurde. Die Szene gibt’s auch als YouTube-Video und sie kommt sogar in Stones Film vor, allerdings ohne jede Erklärung über ihre Bedeutung.

In derselben Nacht verschwand Janukowitsch aus Kiew. Eine Woche später tauchte er im russischen Rostov am Don auf, gab eine Pressekonferenz und forderte Russland zum militärischen Eingreifen auf. Durch seine Flucht (so bezeichnete er das später selbst) schuf er ein enormes juristisches Problem: Die ukrainische Verfassung sah dafür kein Verfahren vor. Janukowitsch war weder Gegenstand eines Impeachment, noch war er aus gesundheitlichen Gründen für unfähig erklärt worden, sein Amt auszuüben, er war weder tot, noch war er zurückgetreten. Deshalb verabschiedete das Parlament eine Resolution, in der es seine Flucht als Rücktritt interpretierte, obwohl das in der Verfassung auch nicht vorgesehen war. Es wählte danach einen Interimspräsidenten und setzte für Mai Neuwahlen an. Man kann also durchaus sagen, Janukowitsch sei unter Bruch der Verfassung abgesetzt worden – allerdings vom Parlament, nicht von einer Militär-Junta, wie das ja gewöhnlich bei Putschen so der Fall ist.

Als Beweise dafür, dass der Maidan nicht nur ein Staatsstreich war, sondern von den USA organisiert und finanziert wurde, dienen fast immer zwei Videos. Das erste stammt vom 13. Dezember 2013, als Victoria Nuland von einer zweistündigen Unterredung mit Janukowitsch zurück nach Washington kam und dort vor der U.S.-Ukraine Foundation eine kurze Rede hielt, in der sie in der siebten Minute erwähnte, die USA hätten in der Ukraine „Demokratie und Partizipation“ seit ihrer Unabhängigkeit 1991 mit insgesamt fünf Milliarden Dollar unterstützt.

Dazu muss man wissen, dass die Stiftung eine typische amerikanische Wohltätigkeitsorganisation ist, die sich aus privaten Spenden, Firmenbeiträgen und Einzahlungen anderer Stiftungen finanziert und ihr Geld für soziale Projekte, die Unterstützung von Menschenrechten, Pressefreiheit und Marktwirtschaft ausgibt. Nuland wusste das, als sie dort auftrat, sie wusste auch, dass die Amerikaner ukrainischer Herkunft im Saal von ihr eine klare Unterstützung des Maidan erwarteten. Hinzu kommt, dass ihre Regierung damals stark dafür kritisiert wurde, dass sie sich von der Krise in der Ukraine hatte überraschen lassen.

Was immer sie also über die Unterstützung der USA für die Protestierenden (die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewaffnet hatten) sagen würde, würde eher über- als untertrieben sein. Und so summierte sie alles, was die USA seit 1991 „für die Ukraine“ getan hatten, auf fünf Milliarden Dollar, wie sie später selbst zugab. Fünf Milliarden verteilt auf die 22 Jahre seit der ukrainischen Unabhängigkeit, das entspricht pro Jahr circa 220 Millionen Dollar.

Nulands Äußerung lässt offen, ob es sich dabei nur um Steuergelder oder auch um Investitionen und private NGO-Mittel handelt, aber zum Glück gibt’s ja den Hilfszahlungen-Tracker der amerikanischen Regierung. Der zeigt für den gesamten Zeitraum seit 1991 konstante Zahlungen von 234 Millionen jährlich an die Ukraine, die erst nach der russischen Invasion 2022 dramatisch in die Höhe gehen. Weder 2013 noch 2014 gab es eine Erhöhung.

Wenn Nulands Äußerung also das Eingeständnis sein soll, die USA hätten „den Maidan“ finanziert, dann sind sie zugleich auch das Eingeständnis, dass die USA zuvor den prowestlichen Präsidenten Leonid Krawtschuk, seinen ziemlich prorussischen Nachfolger Leonid Kutschma, dessen prowestlichen Nachfolger Viktor Juschtschenko und danach die sehr prorussischen Regierungen von Viktor Janukowitsch mit der gleichen Summe unterstützt haben, mit der sie ihn dann angeblich stürzen wollten. Ganz am Rande: Was damals die Ukraine aus den USA bekam, war weniger als die Hälfte der amerikanischen Hilfszahlungen für Südafrika und ungefähr ein Drittel dessen, was Nigeria bekam.

Nach Anschlag: Darum ist Wladimir Putins Russland ein Ziel von Islam-Terror

31.03.2024

Das zweite Video, das Nuland, die vor wenigen Wochen in den Ruhestand ging, im Cyberspace berühmt machte, wurde bekannt als das „Fuck the EU“-Video. Es tauchte am 4. Februar 2014 auf einem Video-Kanal mit dem tiefsinnigen (russischen) Namen „die Marionette des Maidan“ auf und enthält ein abgehörtes Telefonat zwischen Nuland und dem damaligen amerikanischen Botschafter in Kiew, in dem die beiden diskutieren, welcher Oppositionspolitiker in einer künftigen Regierung welche Rolle einnehmen sollte.

Das Telefonat spielt sich allerdings drei Wochen vor der Schießerei auf dem Maidan und der Anreise der drei Außenminister ab und nur neun Tage, nachdem Präsident Janukowitsch selbst den beiden Oppositionspolitikern Arsenyi Jazeniuk und Vitalij Klitschko angeboten hatte, Premierminister und Vizepremierminister zu werden.

Drei Tage später trat der amtierende Premierminister Mykola Azarow zurück, um den Weg für eine Regierungsbeteiligung der Opposition freizumachen, und Janukowitsch unterschrieb ein Gesetz, mit dem die Gewalttaten beider Seiten auf dem Maidan amnestiert wurden. Wie man sieht: Kontext ist wichtig. Als Beweise dafür, dass die USA einen Putsch gegen Janukowitsch finanzierten und Nuland dann über die amerikanische Botschaft in Kiew eine neue Regierung bildete, eignet sich keines der beiden Videos. Obwohl beide authentisch sind. Das zweite hat zwar eine obskure Herkunft, doch Nuland hat den Inhalt später bestätigt, indem sie sich für ihre undiplomatische Äußerung über die EU (die Klitschko in der Regierung haben wollte) entschuldigte.

Und wieder ganz nebenbei: Es kam am Ende so, wie Nuland es haben wollte: Jazeniuk wurde Interim-Premierminister, allerdings nicht unter Janukowitsch, sondern nach dessen Absetzung durch das Parlament und Klitschko und Oleh Tjahnyboh (Leiter der nationalistischen Swoboda-Partei) blieben der Regierung fern. Nur sollte man daraus nicht schließen, dass es so kam, weil die USA das wollten. Das wäre ja geradeso, als würde man davon ausgehen, dass Lukaschenkos Erdrutschsieg von 1994 nur das Ergebnis des angeblichen Attentats auf ihn war.

Das alles ist natürlich kein Beweis dafür, dass die USA damals den ukrainischen Präsidenten nicht stürzen wollten. Die Nichtexistenz von „was auch immer“ lässt sich eben nicht beweisen. Vielleicht tauchen Beweise für eine solche Verschwörung ja noch auf, wenn in 20 Jahren die Archive geöffnet werden oder in der Zwischenzeit jemand mit einem Offenlegungsantrag nach dem Freedom of Information Act eine Goldader für Historiker findet. Bis dahin ist nur eines sicher: Diese beiden Videos sind als Beweise für ein solches Komplott nicht geeignet.

Das wiederum heißt aber auch nicht, dass deshalb das Gegenteil dieser Verschwörungstheorie wahr ist. Der Maidan war zwar anfangs ein spontaner Studentenprotest, aber – das wissen wir aus den damaligen Meinungsumfragen – er wurde danach nicht zu einem Volksaufstand, hinter dem alle oder auch nur die Mehrheit der Ukrainer standen.

Ziemlich schnell versuchten sowohl Rechtsradikale (die danach aber schnell an Bedeutung verloren) als auch die parlamentarische Opposition auf diesen Zug aufzuspringen, genau wie die zahlreichen deutschen, polnischen, amerikanischen und EU-Politiker, von Jaroslaw Kaczynski über Elmar Brock und den amerikanischen Senator und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten John McCain, die alle Reden auf dem Maidan hielten und die Protestierenden zum Durchhalten aufriefen. Angesichts der Stimmung in den Janukowitsch-freundlichen Regionen des Donbass und der Krim war das ein Spiel mit dem Feuer, das ich damals selbst kritisierte. Aber auch die ungeschickteste Einmischung in die innere Angelegenheit anderer Länder ist etwas anderes als ein Staatsstreich.

Das ist übrigens auch der Fehler, den all die Faktenchecker so oft machen, die versuchen, Fake News zu entlarven: Nur weil etwas als Verschwörungstheorie daherkommt, muss es noch nicht falsch sein. Das Wesen von Verschwörungstheorien ist ja gerade, dass sie in der Regel so konstruiert sind, dass man ihren Wahrheitsgehalt gar nicht überprüfen kann.

Auch die schlichte Behauptung, der Maidan sei ein Putsch gewesen, ist ja viel zu simpel für eine Nachprüfung. Eigentlich sollte das niemand besser wissen als Oliver Stone: Um zu untermauern, dass John F. Kennedy (und nach ihm sein Bruder Robert) nicht jeweils einem verwirrten Einzeltäter, sondern einem Komplott zum Opfer gefallen sind, hätte er gar keine Fakten und Zeugen hinzuerfinden müssen. Das, was darüber inzwischen aktenkundig ist, hätte vollkommen gereicht. Merke: Dass Stones Film auf einer Verschwörungstheorie beruht, heißt nicht, dass es keine Verschwörung gab.

Das gilt sogar für meine eigene Verschwörungstheorie über das Attentat auf Aleksander Lukaschenko. Ich weiß bis heute nicht, ob es stattgefunden hat oder nur simuliert war und ob Lukaschenko deshalb damals die Wahlen gewonnen hat oder aus ganz anderen Gründen. Aber ich weiß inzwischen eines: Damals gab es (wie heute übrigens auch) gar keinen Zeitunterschied zwischen Minsk und Moskau.

Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de

QOSHE - War der Maidan vor zehn Jahren ein Staatsstreich der USA? Ein Faktencheck - Klaus Bachmann
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

War der Maidan vor zehn Jahren ein Staatsstreich der USA? Ein Faktencheck

12 0
02.04.2024

Als noch ziemlich junger Journalist wartete ich mit vielen anderen Kollegen am 17. Juni 1994 in Minsk in der Wahlkampfzentrale eines gewissen Aleksander Lukaschenko, als plötzlich die Nachricht umging, Lukaschenko sei Opfer eines Attentats geworden.

Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, aber niemand wusste Genaues, bis eine russische Kollegin plötzlich sagte, sie habe davon schon vor einer Stunde aus ihrer Zentrale in Moskau erfahren: Jemand habe auf Lukaschenkos Wagen geschossen.

Als dann Lukaschenkos Wahlkampfstab vor die Presse trat, stellte sich heraus: So war es tatsächlich gewesen. Lukaschenko war nichts passiert, der Wagen hatte ein Loch und man wusste nichts Genaues, aber dem Kandidaten war das enorm förderlich.

Alle redeten nun über das Attentat, statt über sein eher rudimentäres Programm oder über seine Gegner. Wie man weiß, gewann Lukaschenko die Wahl gegen den eher drögen amtierenden Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch haushoch und wurde erst Präsident und dann, nachdem er mithilfe von Volksabstimmungen und (erst fairen, danach manipulierten) Wahlen seine Macht gefestigt hatte, Diktator. Und viele meiner Kollegen überlegten (und schrieben) immer wieder, wie es denn kommen konnte, dass man in Moskau von dem Attentat gewusst hatte, bevor es geschehen war. Bis jemand, ich weiß nicht mehr, wer es war, darauf hinwies, dass es ja einen Zeitunterschied gab zwischen Minsk und Moskau. Also doch keine große Verschwörung zwischen Lukaschenko und dem Kreml gegen den (immerhin deutlich besser mit dem Kreml verbandelten) Kebitsch?

Konfliktforscher über Ukrainekrieg: Viele denken, verhandeln heißt nachgeben

31.03.2024

Obama-Berater: „Selbst mit dem Taurus hat die Ukraine keine realistische Chance“

11.03.2024

Das alles jährt sich demnächst zum 30. Mal, aber die Logik, die ich damals lernte, ist immer noch nützlich, besonders in den sozialen Medien, obwohl es die damals noch gar nicht gab. Sie zeigt nämlich, dass, wer sich dort orientieren will, einfach nur einige Grundregeln beherzigen muss, die mit diesen Medien gar nichts zu tun haben.

gestern

•gestern

31.03.2024

•vor 4 Std.

gestern

Zum Beispiel, dass die Ursache immer vor ihren Folgen stattfinden muss und etwas, wenn es nach etwas anderem passiert ist, nicht dessen Ursache sein kann. Und die zweite wichtige Regel: Der Kontext ist wichtig. Kein Arzt und keine Ärztin würden jemandem eine Schwangerschaft bescheinigen, nur weil diese Person schwitzt, einen dicken Bauch hat, ihr unwohl ist und sie abwechselnd saure Gurken und Schokolade in sich hineinstopft. Sie würden auch den Kontext berücksichtigen, zum Beispiel, ob der Patient ein Mann oder eine Frau ist. Auch das ist eine Regel, die in den sozialen Medien immer wieder verletzt wird – zum Beispiel bei dem, was jetzt gleich folgt.

Die Rede ist vom Maidan, den unsere ukrainischen Mitbürger meist „die Revolution der Würde“ und Menschen, die mit ihnen über Kreuz liegen, den Anfang allen Übels nennen. Die These, dass „der Maidan“ ein von den USA orchestrierter Staatsstreich gegen einen demokratisch gewählten und international anerkannten Präsidenten gewesen sei, der Russland zur Annexion der Krim provoziert habe, geistert seit Jahren durch die sozialen Netzwerke.

Eine zentrale Rolle bei dieser These spielen dabei zwei Videos. Die sind genauso echt wie damals die Einschüsse in Lukaschenkos Wagen und zeigen Äußerungen der damaligen Unterstaatssekretärin im Außenministerium der USA Victoria Nuland. Eines davon kommt sogar in der 48. Minute von Oliver Stones Dokumentarfilm „Ukraine on Fire“ vor. Stone selbst liebt es, Verschwörungstheorien zu verbreiten, und arbeitete dabei auch mit eher unkonventionellen Methoden. In seinem Film über die Ermordung John F. Kennedys lässt er sogar fiktive Zeugen auftreten. Nur: Das entwertet ja nicht seine Argumente im Fall Maidan.

Sehen wir uns also die Argumente an. Es besteht durchaus die Chance, dass wir dann alle, wie vor 30 Jahren die Journalisten in Minsk, ziemlich überrascht sein werden.

Die Proteste auf dem Kiewer Maidan........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play