War der Maidan vor zehn Jahren ein Staatsstreich der USA? Ein Faktencheck
Als noch ziemlich junger Journalist wartete ich mit vielen anderen Kollegen am 17. Juni 1994 in Minsk in der Wahlkampfzentrale eines gewissen Aleksander Lukaschenko, als plötzlich die Nachricht umging, Lukaschenko sei Opfer eines Attentats geworden.
Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, aber niemand wusste Genaues, bis eine russische Kollegin plötzlich sagte, sie habe davon schon vor einer Stunde aus ihrer Zentrale in Moskau erfahren: Jemand habe auf Lukaschenkos Wagen geschossen.
Als dann Lukaschenkos Wahlkampfstab vor die Presse trat, stellte sich heraus: So war es tatsächlich gewesen. Lukaschenko war nichts passiert, der Wagen hatte ein Loch und man wusste nichts Genaues, aber dem Kandidaten war das enorm förderlich.
Alle redeten nun über das Attentat, statt über sein eher rudimentäres Programm oder über seine Gegner. Wie man weiß, gewann Lukaschenko die Wahl gegen den eher drögen amtierenden Premierminister Wjatscheslaw Kebitsch haushoch und wurde erst Präsident und dann, nachdem er mithilfe von Volksabstimmungen und (erst fairen, danach manipulierten) Wahlen seine Macht gefestigt hatte, Diktator. Und viele meiner Kollegen überlegten (und schrieben) immer wieder, wie es denn kommen konnte, dass man in Moskau von dem Attentat gewusst hatte, bevor es geschehen war. Bis jemand, ich weiß nicht mehr, wer es war, darauf hinwies, dass es ja einen Zeitunterschied gab zwischen Minsk und Moskau. Also doch keine große Verschwörung zwischen Lukaschenko und dem Kreml gegen den (immerhin deutlich besser mit dem Kreml verbandelten) Kebitsch?
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Das alles jährt sich demnächst zum 30. Mal, aber die Logik, die ich damals lernte, ist immer noch nützlich, besonders in den sozialen Medien, obwohl es die damals noch gar nicht gab. Sie zeigt nämlich, dass, wer sich dort orientieren will, einfach nur einige Grundregeln beherzigen muss, die mit diesen Medien gar nichts zu tun haben.
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Zum Beispiel, dass die Ursache immer vor ihren Folgen stattfinden muss und etwas, wenn es nach etwas anderem passiert ist, nicht dessen Ursache sein kann. Und die zweite wichtige Regel: Der Kontext ist wichtig. Kein Arzt und keine Ärztin würden jemandem eine Schwangerschaft bescheinigen, nur weil diese Person schwitzt, einen dicken Bauch hat, ihr unwohl ist und sie abwechselnd saure Gurken und Schokolade in sich hineinstopft. Sie würden auch den Kontext berücksichtigen, zum Beispiel, ob der Patient ein Mann oder eine Frau ist. Auch das ist eine Regel, die in den sozialen Medien immer wieder verletzt wird – zum Beispiel bei dem, was jetzt gleich folgt.
Die Rede ist vom Maidan, den unsere ukrainischen Mitbürger meist „die Revolution der Würde“ und Menschen, die mit ihnen über Kreuz liegen, den Anfang allen Übels nennen. Die These, dass „der Maidan“ ein von den USA orchestrierter Staatsstreich gegen einen demokratisch gewählten und international anerkannten Präsidenten gewesen sei, der Russland zur Annexion der Krim provoziert habe, geistert seit Jahren durch die sozialen Netzwerke.
Eine zentrale Rolle bei dieser These spielen dabei zwei Videos. Die sind genauso echt wie damals die Einschüsse in Lukaschenkos Wagen und zeigen Äußerungen der damaligen Unterstaatssekretärin im Außenministerium der USA Victoria Nuland. Eines davon kommt sogar in der 48. Minute von Oliver Stones Dokumentarfilm „Ukraine on Fire“ vor. Stone selbst liebt es, Verschwörungstheorien zu verbreiten, und arbeitete dabei auch mit eher unkonventionellen Methoden. In seinem Film über die Ermordung John F. Kennedys lässt er sogar fiktive Zeugen auftreten. Nur: Das entwertet ja nicht seine Argumente im Fall Maidan.
Sehen wir uns also die Argumente an. Es besteht durchaus die Chance, dass wir dann alle, wie vor 30 Jahren die Journalisten in Minsk, ziemlich überrascht sein werden.
Die Proteste auf dem Kiewer Maidan........
© Berliner Zeitung
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