menu_open
Columnists
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Schockbericht für die AfD: Ja, Migranten werden häufiger kriminell, aber das liegt nicht am Islam

14 8
14.04.2024

Wäre da nicht die Affäre um Petr Bystron, den Kandidaten für das Europaparlament, gewesen, in der AfD-Parteizentrale hätten eigentlich die Sektkorken knallen müssen. Bundesinnen- und Heimatministerin Nancy Faser stellte die neueste Polizeiliche Kriminalstatistik vor und ihr Haus leakte schon einmal Tage zuvor die pikantesten Daten-Details: eine Zunahme der von der Polizei festgestellten Verbrechen um 8,6 Prozent zum Vorjahr, die höchste Zahl an Straftaten seit 2016 und damit eine Erhöhung selbst im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit und vor allem: ein hoher Anteil an Ausländern an der Zahl der Verdächtigen.

Die Reaktionen waren entsprechend: Bayerns Innenminister Joachim Hermann fand, dies sei ein „bundesweiter Trend, für den besonders Ausländer und Zuwanderer verantwortlich sind.“ Der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle verlangte von den Bundesländern die schnellere Abschiebung von Intensivtätern ohne deutschen Pass. Abends flimmerte dann einer meiner deutschen Kollegen über den Bildschirm und warnte davor, solche Interpretationen seien Wasser auf die Mühlen der AfD. Recht hat er. Bloß: Was ist, wenn sie richtig sind?

Kriminalitätsstatistiken haben es in sich. Manchmal zeigen sie das Gegenteil von dem, was alle (oder die meisten) aus ihnen herauslesen. Manchmal schießt die Zahl der statistisch erfassten Verbrechen in die Höhe, obwohl es gar nicht mehr Verbrechen gegeben hat. Das kann zum Beispiel passieren, wenn eine Bevölkerung, die kein Vertrauen in die Polizei hat und viele Verbrechen deshalb gar nicht anzeigt, plötzlich wieder Vertrauen fasst. So war das nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Polen vor dreißig Jahren, so war das nach der letzten Polizeireform in der Ukraine. Für Nancy Faesers Zahlen ist das nicht relevant, denn in den letzten Jahren ist das Vertrauen der Bevölkerung in unsere Polizei von einem im internationalen Vergleich vergleichsweise hohen Niveau stetig gesunken. Es ist also sogar wahrscheinlicher, dass heute (geringfügig) weniger Vergehen angezeigt werden als noch vor wenigen Jahren.

12.04.2024

gestern

gestern

Die Kriminalitätsstatistik kann aber auch durch die Decke gehen, weil die Polizei nicht nur vertrauenswürdiger, sondern auch effizienter geworden ist und plötzlich Verbrechen aufdeckt, die sie bisher gar nicht aufklären konnte oder wollte bzw. von denen sie nichts wusste. Die Polizei geht in der Bundesrepublik beispielsweise davon aus, dass nur jeder zweite Mord überhaupt als Mord erkannt wird. Stellen wir uns vor, sie findet eine Methode, mit der sie mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit feststellen kann, ob jemand eines natürlichen Todes oder durch Gewalteinwirkung gestorben ist. Dadurch gibt es nicht mehr Morde – aber es würde die Mordstatistiken natürlich enorm in die Höhe treiben. Etwas Ähnliches ist in den letzten Jahren mit Cyberkriminalität, Online-Betrug und Kindesmissbrauch im Internet geschehen: Die Polizei ist kompetenter geworden, hat mehr Spezialisten angestellt und entdeckt jetzt auch mehr solche Fälle.

Eine meiner Kolleginnen, die vor zwanzig Jahren eine angebliche „Explosion des Verbrechens“ im deutsch-niederländischen Grenzgebiet untersuchte, kam zum Schluss, dass die damalige Zunahme an Gewalttaten vor allem durch eine größere gesellschaftliche Sensibilisierung für Gewalt zustande kam: Zehn oder zwanzig Jahre vorher wäre niemand zur Polizei gegangen, weil er von jemandem angebrüllt („verbale Gewalt“), beschimpft („psychische Gewalt“) worden war oder bei einer Kneipenschlägerei den Kürzeren gezogen hatte. Heutzutage erscheint sowas in der Kriminalitätsstatistik. Das ist im Grunde eine positive Entwicklung, die Gesellschaft wird humaner und mitfühlender, die Polizei nimmt solche Anzeigen auf und verfolgt sie – aber die Öffentlichkeit regt sich dann über die statistische Zunahme der Gewalttaten auf.

Das ist auf die Statistik, die Nancy Faeser vorgelegt hat, nur teilweise anwendbar: Gestiegen sind nämlich auch „richtige“ Gewalttaten, also Delikte, bei denen Leute mit den Fäusten, mit Waffen oder gefährlichen Gegenständen aufeinander losgehen. Es erklärt aber die Zunahme bei der Cyberkriminalität und bei sexuellen Delikten und Verbrechen. Dass die zugenommen haben, kann man durchaus positiv sehen: Die Opfer sind heute eher bereit als früher, sie anzuzeigen, die Polizei lässt Opfer nicht mehr abblitzen und die Gesellschaft stigmatisiert Opfer weniger. In manchen arabischen Ländern gibt es so gut wie keine Vergewaltigungen in der Statistik, weil Frauen, die sie zur Anzeige bringen, sich ein Verfahren wegen außerehelichen Geschlechtsverkehrs einhandeln und von ihren Ehemännern verstoßen werden. Das ist hässlich, sieht aber in der Kriminalitätsstatistik sehr gut aus. So gesehen ist es doch eigentlich ganz gut, dass wir in manchen Bereichen so hohe Zahlen haben.

Einen Rückgang der Kriminalitätsstatistik kann man übrigens auch mit humaneren Methoden erreichen und sogar ohne dass sich das Verhalten der Bürger ändert – indem man bestimmte Straftatbestände entkriminalisiert. Die leichten Drogendelikte werden in nächster Zeit vermutlich dramatisch abnehmen, aber nicht, weil die Deutschen weniger Joints rauchen, sondern weil Joint-Rauchen dank Karl Lauterbachs Cannabis-Reform nun legal wird.

Es gibt allerdings noch einen wichtigeren Grund, warum Kriminalitätsraten sinken und der schlägt in der Bundesrepublik voll durch: das Altern der Gesellschaft. Und hier kommt das große Aha-Erlebnis, das im derzeitigen Medien-Hype um Nancy Faesers Zahlen völlig untergeht: Die Zahl der Straftaten geht seit Jahren kontinuierlich zurück, und zwar schon........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play