Am 7. April jährt sich der Völkermord in Ruanda zum dreißigsten Mal. Es wird jede Menge feierlicher und betroffener Reden geben, das Land selbst wird eine Woche lang in kwibuka, also im Gedenken an den Völkermord erstarren und danach wird alles wieder so sein wie zuvor.

Ruanda ist ein Paradebeispiel für die Expansion westlicher Gedenkkultur nach Afrika, der zufolge man die Vergangenheit aufarbeiten muss, damit sie sich nicht wiederholt, wobei die Opfer im Mittelpunkt stehen müssten.

In Kigalis Buchläden kann man sogar Bücher finden, in denen gefordert wird, die Hutu sollten in die Fußstapfen deutscher Kanzler treten und öffentlich um Verzeihung bitten, wie das deutsche Kanzler (angeblich) in Yad Vashem taten. Die Gleichsetzung des Völkermords mit dem Holocaust, der Tutsi mit den Juden und der Hutu mit den Deutschen geht sogar soweit, dass im zentralen Völkermord-Museum auf dem Gisozi-Hügel an eine Episode des Völkermords erinnert wird, während der Tutsi sich „nicht wie die Schafe zur Schlachtbank“ führen ließen, sondern sich mit traditionellen und handgemachten Waffen gegen schwerbewaffnete Milizen wehrten. „Das Warschauer Ghetto Ruandas“ nennt das ein Buch.

Dabei können die Ruander gar nicht so viel aus der deutschen Geschichte lernen. Umgekehrt dagegen schon. Was vor dreißig Jahren in Ruanda geschah, ist bestens geeignet, einige unserer langgehegten und populär gewordenen Gewissheiten über uns und die Welt zu erschüttern.

Am 7. April 1994 wurde über dem Flughafen von Kigali eine französische Maschine mit Juvenal Habyarimana, dem Präsidenten von Ruanda und seinem burundischen Amtskollegen an Bord abgeschossen. Beide Präsidenten und die gesamte französische Besatzung waren auf der Stelle tot. Kurz darauf brachen in der ruandischen Hauptstadt Unruhen aus, zahlreiche Politiker und Intellektuelle wurden ermordet, überall in der Stadt Straßenbarrikaden errichtet und es begann die systematische Ermordung der Minderheit der Tutsi durch die Bevölkerungsmehrheit der Hutu.

Die Täter – und mit ihnen viele Autoren – stellten das als spontanen Wutausbruch der Hutu-Bevölkerung gegen die Tutsi dar, die so die Ermordung des Präsidenten rächen wollten. Wer dessen Flieger abschoss, ist bis heute nicht geklärt, aber aus der Sicht der damaligen Regierungsanhänger mussten es Tutsi-Rebellen gewesen sein. Gegen die Theorien vom Ausbruch einer spontanen Volkswut, die durch einen jahrhundertelangen „ethnisch Konflikt zwischen Hutu und Tutsi“ angefacht worden war, sprechen allerdings die inzwischen bekannt gewordenen Tatsachen.

05.04.2024

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Nach dem plötzlichen Tod des Präsidenten, der bis heute nicht aufgeklärt ist, herrschte kein Machtvakuum in Ruanda. Die Verfassung hatte eine klare Rollenverteilung für die Nachfolgeregelung. Nur dass die Personen, die darin eine Rolle spielen sollten, innerhalb kürzester Zeit von Armeeeinheiten, Mitgliedern der Präsidentengarde und regierungsfreundlichen Milizen umgebracht wurden. Das Machtvakuum entstand nicht, es wurde erst gemacht und dann von einer Militärjunta um den Oberst Théoneste Bagosora gefüllt.

Als klar war, dass weder die UNO noch die westlichen Geberländer eine Militärregierung akzeptieren würden, schuf Bagosora eine zivile Regierung als Fassade. Dahinter gab er den bewaffneten Einheiten die Befehle: Der Armee, der führerlosen Präsidentengarde und den Hutu-Parteimilizen, die sich bereits Jahre zuvor gebildet hatten und von der Armee insgeheim bewaffnet worden waren.

Während die Armee (unterstützt von französischen Truppen) hauptsächlich damit beschäftigt war, die Angriffe der Tutsi-dominierten „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF) im ruandisch-ugandischen Grenzgebiet abzuwehren, konnten sich die Milizen, die Präsidentengarde und die Gendarmerie ganz auf das zweite Ziel der Junta konzentrieren: das Tutsi-Problem „ein für alle Mal“ zu lösen. Und so breiteten sich die Massaker, die nach dem Flugzeugabsturz in Kigali begonnen hatten, von Woche zu Woche weiter in die Provinz aus.

Es mordeten Milizen, ad hoc gebildete Banden, die von Haus zu Haus gingen und Tutsi suchten, Tutsi in Stadien, Schulen und Kirchen lockten und dort mit Macheten, Granaten, Schusswaffen und selbstgemachten Waffen ermordeten und verscharrten, einfache Bürger, die Straßensperren kontrollierten und jeden, der „Tutsi“ in seinem Ausweis stehen hatte oder gar keinen Ausweis vorweisen konnte, den Milizen übergaben, die sie dann an Ort und Stelle erschlugen. In vielen Fällen ist die Systematik des Massenmordens klar erkennbar: Es gab Gegenden, deren Präfekten und Bürgermeister nach dem Flugzeugabsturz zu Ruhe und Besonnenheit aufriefen und ihren (wenigen) Dorfpolizisten befahlen, gegen Unruhestifter vorzugehen – bis dann besser bewaffnete und zahlreichere Emissäre der Zentralregierung auftauchten, die Bevölkerung aufforderten, „ihre Arbeit zu tun“ (was damals hieß: Tutsi umzubringen) und den entsprechenden lokalen Machthaber entweder entmachteten, zwangen, zum Morden aufzurufen oder ihn einfach umbrachten.

Nach Ausbruch der Kämpfe in Kigali marschierten Tutsi-Rebellen aus Uganda auf die Hauptstadt und vertrieben Armee und Milizen in den Osten Zaires, der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Das dauerte allerdings drei lange Monate. Danach waren nach damaligen UNO-Schätzungen 500.000 Menschen tot. Die Zahl wurde später auf 800.000 und danach von der Führung der „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF), den neuen Machthabern nach ihrem militärischen Sieg über Bagosoras Junta auf knapp über eine Million korrigiert, wobei allerdings offenblieb, ob dabei nur Opfer direkter Gewalteinwirkung oder auch Menschen mitgezählt wurden, die später erst an ihren Wunden oder anderen Spätfolgen, an Hunger oder Krankheiten gestorben waren. Eine Studie aus Butare, wo vor dem Völkermord der Anteil der Tutsi an der Bevölkerung am höchsten gewesen war, ergab, dass nach drei Monaten drei Viertel aller Tutsi ermordet worden waren.

Bei Gedenkveranstaltungen stehen dieser Tage immer Opfer, ihre Schicksale, Erlebnisse und Aufrufe im Mittelpunkt. Die für eine Aufarbeitung wichtigste Frage bleibt deshalb meist unbeantwortet, denn die Antwort darauf wissen nur die Täter. Die Frage lautet: Warum? Im Fall Ruanda gibt es darauf eine Menge Antworten.

Besucht man das Völkermord-Zentrum auf dem Gisozi-Hügel, erfährt man, dass der Völkermord eine Spätfolge des Kolonialismus war: Hutu, Tutsi und die winzige Minderheit der Twa, die Europäer damals Pygmäen oder Buschmänner nannten, lebten in Eintracht und Frieden unter dem gleichen König, bis die Europäer kamen, Unfrieden stifteten und sie gegeneinander aufhetzten, um das Land besser regieren und ausbeuten zu können. Erst waren das die Deutschen, dann die Belgier.

Letztere redeten den Ruandern ein, Hutu und Tutsi seien so etwas wie Ethnien oder Rassen. Sie verbündeten sich erst mit den Tutsi gegen die Hutu und dann, als Ruanda unabhängig wurde, mit den Hutu gegen die Tutsi. Aber jetzt, wo sowohl die Völkermörder und die Kolonisten vertrieben wurden, gebe es keinen Grund mehr, warum Hutu und Tutsi nicht wieder in Harmonie zusammenleben sollten – am besten als Ruander ohne ethnische Identität. Das ist auch die Version, die die Regierenden in Kigali in ihren Museen und im Schulunterricht und an der Nationalen Universität von Ruanda verbreiten lassen.

Das hat mit den Ereignissen von damals nicht viel gemeinsam, es ist aber ein schönes, optimistisches und erbauliches Märchen, wesentlich erbaulicher als die harten, blutigen Fakten dahinter. Es waren ja nicht die Kolonialmächte, die die Ruander aufriefen, ihre Nachbarn zu erschlagen. Und Frankreich, dessen Regierung die Hutu-Armee und die Hutu-Milizen ausrüstete und ausbildete, hatte Ruanda nie kolonisiert. Das Morden begann auch nicht, weil Kolonialherren es befahlen, sondern weil ruandische Politiker dazu aufriefen. Dann aber beteiligten sich knapp zwei Millionen Ruander am Rauben, Plündern, Morden und Vergewaltigen von Menschen, die sie gut kannten und mit denen sie oft genug sogar verwandt waren. Das waren keine Fremden, die weit entfernt in Lagern und unter strengster Geheimhaltung umgebracht wurden (wie beim Holocaust), das waren Menschen wie du und ich, die andere Menschen wie du und ich brutal abschlachteten, eigenhändig und vor Zeugen.

Wer glaubt, ein Völkermord sei nur in einem hochkomplexen Industriestaat mit zentraler Planung, einem riesigen Schienennetz und einem System von Konzentrationslagern möglich, wird von Ruanda eines Besseren belehrt: Es geht auch mit relativ primitiven Mitteln wie Macheten, automatischen Waffen, Dolchen und selbstgemachten Prügeln. Für die Herrschenden hat es sogar ausgesprochene Vorteile gegenüber dem industriellen Ansatz des Holocaust: Es benötigt mehr direkte Täter, die durch ihre Taten dann umso fester mit ihren Kommandeuren und der Regierung verbunden sind. Je mehr sie sich mitschuldig machen, desto stabiler ist die Herrschaft der Täter. Im Rahmen der juristischen Aufarbeitung, die von 1996 bis 2012 dauerte, wurden insgesamt knapp zwei Millionen von jenen 6,5 Millionen Hutu schuldig befunden, die nach dem Zensus von 1991 in Ruanda gelebt hatten, also ungefähr ein Drittel. Sie hatten nicht alle gemordet, viele hatten auch nur geraubt, vergewaltigt oder gestohlen. Es war, wie es einer meiner ruandischen Kollegen genannt hat, buchstäblich ein „volkstümlicher Völkermord“: ungefähr zwei Millionen Hutu fallen über mehrere Hunderttausend Tutsi her, rauben sie aus, zerstückeln sie, vergewaltigen ihre Frauen und Töchter, bringen sie um und verscharren sie in Massengräbern.

Warum taten sie das, obwohl sich beide Gruppen in nichts unterschieden? Sie hatten das gleiche Aussehen, die gleiche Hautfarbe, sprachen die gleiche Sprache, hatten die gleichen Traditionen und historischen Erfahrungen und waren zu zwei Dritteln katholisch. Sie waren eigentlich, so fanden sogar die Richter am Internationalen Ruanda-Tribunal in ihrem ersten Prozess, gar keine unterschiedlichen ethnischen Gruppen.

Vor der Ankunft der Europäer in Zentralafrika waren Hutu und Tutsi politische Bezeichnungen, die das Verhältnis bestimmter Bewohner zum Königshof beschrieben: Wer am Hof in Nyanza verkehrte, wer vom König als Verwalter eines Gebietes oder als Steuereintreiber eingesetzt worden war, der war Tutsi und konnte, wenn er seinen Wohlstand behielt oder sogar vermehrte, diesen Status vererben.

Deshalb gab es in Zentral- und Südruanda, wo die Macht des Königshofs gefestigt war, viele Tutsi. Im Norden und Südwesten, wo sich kleinere Königtümer gegen die Vorherrschaft Nyanzas wehrten, und vom König entsandte Tutsi schnell wieder vertrieben wurden, gab es dagegen fast keine Tutsi. Anders als in der europäischen Feudalgesellschaft konnten Hutu schnell zu Tutsi aufsteigen und Tutsi schnell zu Hutu absteigen, zum Beispiel dann, wenn ihre Rinderherde durch die Rinderpest, einen Krieg oder einen verlorenen Konflikt mit einem mächtigeren Nachbarn dezimiert wurde.

In Europa konnten Adlige ihre Bauern verkaufen, in Ruanda konnten Bauern ihre Tutsi wechseln. Als Ruanda unabhängig wurde, waren die Unterschiede zwischen Hutu und Tutsi längst verschwunden: Beide Gruppen hatten ähnliche Einkommen, besaßen (außerhalb der Städte) ähnlich viel Land und ähnlich viele Rinder. Die Bezeichnungen „Hutu“ und „Tutsi“ waren so willkürlich geworden, dass nur noch über Einträge im Personalausweis feststellbar war, wer zu welcher Gruppe gehörte. Die Ausweise wurden je nach politischer Großwetterlage gefälscht, entweder vom Besitzer oder vom örtlichen Bürgermeister für kwaka ruswa, ein kleines Schmiergeld. Während des Völkermords entschieden die Mörder, wer Hutu und wer Tutsi war. Es war vollkommen willkürlich. 1994 starben Menschen unter den Macheten ihrer Nachbarn, die über dreißig Jahre zuvor von der belgischen Kolonialverwaltung als Hutu in ihre Ämter eingesetzt worden waren, aber in den Augen ihrer Mörder „aussahen wie Tutsi“ oder „Verräter“ waren.

Wer also glaubt, „Fremde“ müssten sich, um diskriminiert zu werden, von „Einheimischen“ durch irgendetwas unterscheiden, der wird in Ruanda eines Besseren belehrt: Es genügt, wenn diese Unterscheidung nur im Kopf der Täter stattfindet. Nichts zeigt das besser als die Tatsache, dass eine fünfstellige Zahl von Hutu während des Völkermords von anderen Hutu ermordet wurde. Daraus ergeben sich einige ziemlich beunruhigende Schlussfolgerungen. Erstens, wenn es wieder losgeht, wird einen bleichgesichtigen katholischen Bio-Deutschen mit bayrischem Akzent, ins Mittelalter zurückreichender Ahnentafel und deutschem Pass nichts davor retten, von einem genauso ausgestatteten Landsmann an einer Straßensperre aus dem Auto gezerrt und im Straßengraben erschlagen zu werden, weil er im Kopf des Täters als illegaler Einwanderer oder als anderweitig minderwertige und verachtenswerte Kreatur erscheint. Und zweitens: Wenn wir wirklich etwas aus der Vergangenheit lernen wollen, was uns befähigt, so etwas zu verhindern, dann müssen wir die Täter und nicht die Opfer nach ihrem Wissen fragen.

Es wird wahrscheinlich kaum jemanden überraschen, dass die Intellektuellen unter den ruandischen Mördern meist eine solide akademische Bildung aus Europa hatten. Die Militärs waren an belgischen und französischen Militärakademien ausgebildet worden, die Intellektuellen und Politiker hatten oft Studienaufenthalte in Europa hinter sich. Was sie nach ihrer Rückkehr in die Praxis umsetzten, war eine wilde Mischung aus Rassentheorie, Darwinismus und NS-Propaganda. Manche der Elaborate sahen aus wie Übersetzungen des Stürmer in Kinywarwanda, nur dass „der Jude“ dabei durch „den Tutsi“ ersetzt worden war. Selbst die Karikaturen waren so überzeichnet wie bei Julius Streicher, Tutsi erkannte man daran, dass sie dünn waren, lange Nasen hatten und fies aussahen.

Seit Christopher Brownings Studien über das Polizeibataillon 101 wissen wir: Massenmörder müssen keine Kriminellen, Entwurzelten, Ausgestoßenen sein. Sie sind meist treusorgende Familienväter ohne Vorstrafen, Vertreter der „Mitte der Gesellschaft“. Eine Studie meines Kollegen Scott Straus, ausgeführt in ruandischen Gefängnissen mit Völkermördern, die ihre Taten gestanden hatten, ergab das gleiche Ergebnis: die Mehrheit, das waren Menschen wie Du und Ich.

Es ist wohl ein Treppenwitz der Vergangenheitsbewältigung, dass man in Ruanda heutzutage Ruandern begegnen kann, die andere Ruander darüber belehren, warum Ruanda seine Vergangenheit so aufarbeiten sollte, wie Deutschland das mit seiner (angeblich) getan hat. Dabei wurden in Deutschland im Verhältnis zur Einwohnerzahl nicht annähernd so viele NS-Täter verfolgt wie in Ruanda Menschen, die sich am Völkermord beteiligten. Zwischen 1996 und 2012 – also in 16 Jahren – hat das Land ungefähr ein Drittel seiner Bevölkerung abgeurteilt.

Natürlich ging das nicht rechtsstaatlich zu. Es gab nach 1994 zunächst weder Anwälte, noch Staatsanwälte und noch Richter. Hunderttausende von Untersuchungsgefangenen waren hinter Stacheldraht, tausende davon erstickten und verhungerten. Anfangs wurden nur die wirklich dicken Fische hingerichtet. Der Rest wurde abgeurteilt, entweder nach einigen Jahren in Ruanda oder in den Ländern, in denen sie geflohen waren.

Die kleineren Fische wurden vor die Wahl gestellt: Sie konnten gestehen, in ihre Gemeinden zurückkehren und um Vergebung bitten und wurden dann zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt, wenn die Heimatgemeinde ihnen vergab. In Ruanda selbst hat das für Ruhe und Frieden gesorgt, obwohl nun schon seit über einem Dutzend Jahren Täter und Opfer wieder als Nachbarn auf den Hügeln zusammenleben. Die großen Fische, die von einem UN-Tribunal in Tansania abgeurteilt wurden, haben keine Reue gezeigt. Sie kommen nun nach dem Verbüßen von zwei Drittel ihrer Strafen wieder in Freiheit und reden weiter davon, damals habe es keinen Völkermord gegeben, sondern nur einen Bürgerkrieg und außerdem seien die Tutsi selbst schuld, dass sie verfolgt worden seien.

Geredet wird in Ruanda über Täter und Opfer übrigens genauso wenig wie in Deutschland nach 1945. Das Gedenken an den Völkermord wird auf der politischen Ebene ritualisiert, in den Familien auf den Hügeln wird dazu geschwiegen. Wer war schuld am Völkermord? Die Völkermörder, unbekannte, teuflische Wesen, die über Ruanda hereinfielen wie eine Heuschreckenplage und an allem schuld sind, so wie die Nazis in Harald Welzers berühmtem Buch über die Opas, die in den Augen ihrer Nachkommen alle keine Nazis waren. Nur dass in Ruanda nicht die Opas, sondern die Väter keine génocidaires, keine Völkermörder waren.

Damit der Völkermord in Ruanda aber nicht zu einem ruandischen Völkermord wurde und Opfer und Täter nicht in einem Topf landeten, wurde er 2003 offiziell in den „Völkermord an den Tutsi“ umbenannt. Eine ethnische Bezeichnung für die Täter gab es lange nicht, denn die öffentliche Verwendung ethnischer Bezeichnungen ist im heutigen Ruanda gesetzlich verboten. Dann begannen vor einigen Jahren einige prominente Hutu für den Völkermord, an dem ihre Verwandten teilgenommen hatten, öffentlich um Vergebung zu bitten, ganz so, wie die anfangs erwähnten Buchautoren es gefordert hatten. Das ging nach hinten los, denn es führte die ethnischen Label, die die Regierung abschaffen wollte, wieder ein, aber auf eine Art und Weise, die man unmöglich bestrafen konnte. Und es verschaffte einer Gruppe Gehör, die bis dahin geschwiegen hatte. Das waren die Nachkommen der Täter, die in den letzten drei Jahrzehnten in den Schulen, auf den Straßen und in den Medien ausgegrenzt und zum Schweigen verurteilt worden waren, obwohl sie für ihr Schicksal selbst genauso wenig verantwortlich sind wie die ständig gefeierten und von den Medien zitierten Nachkommen der Opfer. Nur dass es – nicht zuletzt aufgrund des Völkermords von damals und der demographischen Entwicklung – eben viel mehr Täter-Nachkommen als Opfer-Nachkommen gibt. Das war der Moment, an dem alle Versuche, etwas von deutscher Vergangenheitsbewältigung auf Ruanda zu übertragen, an ihre ultimative Grenze stießen. Das letzte, was die derzeitige Regierung in Kigali will, ist eine Hutu-Volksbewegung zur Rehabilitierung der Opfer ihrer Vergangenheitsbewältigung.

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QOSHE - Ruanda: Dieser Völkermord gibt Historikern über die Gründe des Bösen Rätsel auf - Klaus Bachmann
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Ruanda: Dieser Völkermord gibt Historikern über die Gründe des Bösen Rätsel auf

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07.04.2024

Am 7. April jährt sich der Völkermord in Ruanda zum dreißigsten Mal. Es wird jede Menge feierlicher und betroffener Reden geben, das Land selbst wird eine Woche lang in kwibuka, also im Gedenken an den Völkermord erstarren und danach wird alles wieder so sein wie zuvor.

Ruanda ist ein Paradebeispiel für die Expansion westlicher Gedenkkultur nach Afrika, der zufolge man die Vergangenheit aufarbeiten muss, damit sie sich nicht wiederholt, wobei die Opfer im Mittelpunkt stehen müssten.

In Kigalis Buchläden kann man sogar Bücher finden, in denen gefordert wird, die Hutu sollten in die Fußstapfen deutscher Kanzler treten und öffentlich um Verzeihung bitten, wie das deutsche Kanzler (angeblich) in Yad Vashem taten. Die Gleichsetzung des Völkermords mit dem Holocaust, der Tutsi mit den Juden und der Hutu mit den Deutschen geht sogar soweit, dass im zentralen Völkermord-Museum auf dem Gisozi-Hügel an eine Episode des Völkermords erinnert wird, während der Tutsi sich „nicht wie die Schafe zur Schlachtbank“ führen ließen, sondern sich mit traditionellen und handgemachten Waffen gegen schwerbewaffnete Milizen wehrten. „Das Warschauer Ghetto Ruandas“ nennt das ein Buch.

Dabei können die Ruander gar nicht so viel aus der deutschen Geschichte lernen. Umgekehrt dagegen schon. Was vor dreißig Jahren in Ruanda geschah, ist bestens geeignet, einige unserer langgehegten und populär gewordenen Gewissheiten über uns und die Welt zu erschüttern.

Am 7. April 1994 wurde über dem Flughafen von Kigali eine französische Maschine mit Juvenal Habyarimana, dem Präsidenten von Ruanda und seinem burundischen Amtskollegen an Bord abgeschossen. Beide Präsidenten und die gesamte französische Besatzung waren auf der Stelle tot. Kurz darauf brachen in der ruandischen Hauptstadt Unruhen aus, zahlreiche Politiker und Intellektuelle wurden ermordet, überall in der Stadt Straßenbarrikaden errichtet und es begann die systematische Ermordung der Minderheit der Tutsi durch die Bevölkerungsmehrheit der Hutu.

Die Täter – und mit ihnen viele Autoren – stellten das als spontanen Wutausbruch der Hutu-Bevölkerung gegen die Tutsi dar, die so die Ermordung des Präsidenten rächen wollten. Wer dessen Flieger abschoss, ist bis heute nicht geklärt, aber aus der Sicht der damaligen Regierungsanhänger mussten es Tutsi-Rebellen gewesen sein. Gegen die Theorien vom Ausbruch einer spontanen Volkswut, die durch einen jahrhundertelangen „ethnisch Konflikt zwischen Hutu und Tutsi“ angefacht worden war, sprechen allerdings die inzwischen bekannt gewordenen Tatsachen.

05.04.2024

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Nach dem plötzlichen Tod des Präsidenten, der bis heute nicht aufgeklärt ist, herrschte kein Machtvakuum in Ruanda. Die Verfassung hatte eine klare Rollenverteilung für die Nachfolgeregelung. Nur dass die Personen, die darin eine Rolle spielen sollten, innerhalb kürzester Zeit von Armeeeinheiten, Mitgliedern der Präsidentengarde und regierungsfreundlichen Milizen umgebracht wurden. Das Machtvakuum entstand nicht, es wurde erst gemacht und dann von einer Militärjunta um den Oberst Théoneste Bagosora gefüllt.

Als klar war, dass weder die UNO noch die westlichen Geberländer eine Militärregierung akzeptieren würden, schuf Bagosora eine zivile Regierung als Fassade. Dahinter gab er den bewaffneten Einheiten die Befehle: Der Armee, der führerlosen Präsidentengarde und den Hutu-Parteimilizen, die sich bereits Jahre zuvor gebildet hatten und von der Armee insgeheim bewaffnet worden waren.

Während die Armee (unterstützt von französischen Truppen) hauptsächlich damit beschäftigt war, die Angriffe der Tutsi-dominierten „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF) im ruandisch-ugandischen Grenzgebiet abzuwehren, konnten sich die Milizen, die Präsidentengarde und die Gendarmerie ganz auf das zweite Ziel der Junta konzentrieren: das Tutsi-Problem „ein für alle Mal“ zu lösen. Und so breiteten sich die Massaker, die nach dem Flugzeugabsturz in Kigali begonnen hatten, von Woche zu Woche weiter in die Provinz aus.

Es mordeten Milizen, ad hoc gebildete Banden, die von Haus zu Haus gingen und Tutsi suchten, Tutsi in Stadien, Schulen und Kirchen lockten und dort mit Macheten, Granaten, Schusswaffen und selbstgemachten Waffen ermordeten und verscharrten, einfache Bürger, die Straßensperren kontrollierten und jeden, der „Tutsi“ in seinem Ausweis stehen hatte oder gar keinen Ausweis vorweisen konnte, den Milizen übergaben, die sie dann an Ort und Stelle erschlugen. In vielen Fällen ist die Systematik des........

© Berliner Zeitung


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