Krieg und Moral: Israels Einsatz in Gaza wird für Annalena Baerbock zur Sackgasse
Ein fast schon ewiger Streit unter Forschern, die sich mit internationalen Beziehungen beschäftigen, dreht sich um die recht simple Frage, ob Staaten die Folgen ihrer eigenen Entscheidungen kontrollieren können. Wissen Regierungen genau, was sie unterschreiben? Können sie, wenn ihr Handeln auf sie zurückschlägt, den Schaden begrenzen oder sogar ganz ausgleichen? Oder schwimmen sie wie kleine Fische einfach mit dem Strom und wundern sich dann, wenn sie am Ende hilf- und ratlos einen Wasserfall hinunterstürzen?
Gerade jetzt gibt es einen Fall, an dem man das sehr genau studieren kann: wie eine Abfolge von wenig spektakulären Entscheidungen, die niemanden störten, zu weitreichenden Konsequenzen führen, die (fast) niemand wollte – und am allerwenigsten diejenigen, die sie herbeigeführt haben.
Das beginnt mit der Unterzeichnung und Ratifizierung der UN-Konvention gegen Völkermord von 1948. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust war das etwas, was niemand noch einmal wollte und so unterzeichneten und ratifizierten insgesamt 153 Staaten die Konvention, darunter im Laufe der Zeit auch die Bundesrepublik, Israel, Nikaragua, Myanmar (das damals noch Burma hieß), Bangladesch, Jugoslawien, Südafrika, Großbritannien, die USA und die Niederlande. Gleich wird deutlich werden, dass das keine zufällige Auswahl ist.
Jahrzehntelang geschah nichts, was nicht bedeutet, dass es keine Völkermorde gab. Es gab nur niemanden, der sie vor Gericht brachte und es gab auch kein Gericht, das Staaten, Politiker oder Militärs wegen Völkermord bestrafen konnte. Das änderte sich mit dem Jugoslawienkrieg Anfang der neunziger Jahre und dem Völkermord in Ruanda 1994 – der UN-Sicherheitsrat gründete das Jugoslawien- und das Ruandatribunal und setzte zusammen mit der EU und der NATO durch, dass die betroffenen Staaten diese Tribunale nicht ignorieren konnten.
13.03.2024
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14.03.2024
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Dass man nun Völkermörder bestrafen konnte, fanden alle gut, die Völkermörder natürlich ausgenommen. Es gab da aber eine Reihe Probleme, die nicht so einfach zu lösen waren. Um sich eines Völkermords schuldig zu machen, musste ein Staat oder eine Person nach der Völkermordkonvention die beweisbare Absicht haben, eine andere „ethnische, nationale, rassische oder religiöse Gruppe“ zu zerstören und zwar „ganz oder teilweise“. Er musste es nicht zuwege bringen, um bestraft zu werden, er musste nicht einmal jemanden umbringen, es genügte, wenn er diese Gruppe „Lebensbedingungen aussetzte, die auf ihre völlige oder teilweise physische Zerstörung abzielten“ oder Gruppenmitgliedern „ernstliche körperliche und geistige Schäden zufügte“. Nur: Wie beweist man eine solche Absicht, wenn die Täter alle Dokumente vernichtet haben, nie Aufzeichnungen gemacht haben oder man an die schriftlichen Beweise für diese Absicht gar nicht herankommt?
Das letztgenannte Problem lösten die Richter am Jugoslawien-Tribunal, indem sie festlegten, dass man eine solche Absicht auch aus dem Verhalten des Angeklagten schließen könne. Nun kann man menschliches Verhalten aber unterschiedlich interpretieren: Was für den einen ganz klar darauf hindeutet, dass jemand Völkermord begehen will, sieht für einen anderen so aus, als wolle er nur einen Krieg oder die nächste Wahl gewinnen. Manche Richter fanden in der Vergangenheit, das Verhalten eines Angeklagten müsse so sein, dass es keinen anderen Schluss als eine Völkermordabsicht zulassen. Andere fanden, es reiche auch, wenn eine solche Diagnose eine von mehreren vernünftigen Schlussfolgerungen sei oder wenn sie einleuchtender sei als andere, die man aus diesem Verhalten ziehen konnte.
Und wie genau mussten diese „Lebensbedingungen“ aussehen, die die Völkermordkonvention da umschrieb, damit man von ihnen auf eine völkermörderische Absicht schließen konnte? Auf alle diese Fragen gibt es sehr enge und sehr weite Antworten. Je nachdem, welche man wählt, kann man dann sehr viele oder sehr wenige Bösewichter wegen Völkermord verurteilen.
Mit der Bundesrepublik hatte das alles nichts zu tun; es betraf Jugoslawien und Ruanda und potentiell alle möglichen Gegenden dieser Welt, aber doch nicht Deutschland. Sollte man meinen. Nur heißt die UN-Völkermord-Konvention ausgeschrieben „Konvention zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord“. Mit der Bestrafung hatte die Bundesrepublik kein Problem. Die deutschen Gerichte arbeiteten gerne und gut mit dem........
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