Die EU ist in einem desolaten Zustand: EU-Erweiterungen werden es schlimmer machen
Es war eine ungewöhnliche Beerdigung, nicht einmal im engsten Familienkreis, ohne Priester, ohne Trauergemeinde, ohne Sarg, was daran lag, dass die Tote ihr Ableben kalt lächelnd ignoriert hatte. Aber tot war sie natürlich trotzdem. Die Rede ist von der großen, ambitionierten EU-Reform, die das Europäische Parlament im November letzten Jahres mit knapper Mehrheit auf den Weg gebracht hatte. Damals diskutierte man in Berlin auch noch über den zeitlichen Ablauf: ob der Beitritt der Ukraine und der anderen Beitrittskandidaten vor oder nach der großen Reform erfolgen könne. Jetzt wissen wir es: Die EU-Erweiterung kann, wenn überhaupt, nur vor der großen Vertrags-Reform stattfinden. Es wird, um die Analogie zum Friedhof aufrechtzuerhalten, einen Leichenschmaus vor der Beerdigung geben.
Das alles hat mit dem Ergebnis der französischen Parlamentswahlen und dem erwarteten Wahlsieg des rechtsradikalen Rassemblement Nationale (RN) gar nicht viel zu tun – nicht einmal dann, wenn dieser in der Nationalversammlung eine absolute Mehrheit holt und damit die Regierung bilden könnte. Für diesen Fall hat die französische Verfassung der Fünften Republik mit ihrer Exekutiv-Lastigkeit nämlich vorgesorgt.
Macron kann dann einen RN-Premierminister ernennen – er muss aber nicht. Er kann auch eine Expertenregierung einsetzen und das Parlament nach einem Jahr noch einmal auflösen, falls es seine Regierung blockiert. Man sollte das nicht unterschätzen: Die fast sechshundert Abgeordneten haben in den letzten Wochen Wahlkampfgelder eingeworben, an tausende von Türen geklopft, sich die Beine in den Bauch gestanden in der Hoffnung auf ein Mandat für vier Jahre und dann droht ihnen nach einem Jahr eine Wiederholung des Ganzen.
Besonders für Hinterbänkler und Kandidaten aus aufgesplitterten Wahlkreisen gibt es keine Sicherheit – nichts, was mit einem deutschen „sicheren Listenplatz“ vergleichbar wäre. In der Bundesrepublik werden von Bundestagswahl zu Bundestagswahl 50 bis 60 Prozent der Abgeordneten wiedergewählt, in Frankreich nur 40 bis 45 Prozent.
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•vor 5 Std.
Anders als bei uns entscheidet in Frankreich der Präsident, nicht der Regierungschef über Außenpolitik und Verteidigung. Er fährt zu Sitzungen des Europäischen Rats, zu G7- und G20-Treffen. Er ernennt und entlässt die Regierung, die ihn aber nicht loswerden kann. Und er kann in begrenztem Ausmaß sogar mit Dekreten regieren, entweder mit einer Art Generalermächtigung des Parlaments oder einer Art Ultimatum: Das Gesetz tritt in Kraft, es sei denn, das Parlament spricht der Regierung das Misstrauen aus. Das alles ist wie geschaffen für das Regieren mit wechselnden Mehrheiten in einem zersplitterten Parlament, auch wenn es natürlich riskant ist. Aber es ist immer die Regierung, die damit ihren Sturz riskiert; der Präsident riskiert höchstens seine Wiederwahl. Macron riskiert nicht einmal das – es ist ja seine letzte Amtszeit.
Auch die Zugewinne rechtsradikaler und rechtspopulistischer Parteien bei den Europawahlen stehen einer großen EU-Reform nicht im Weg. Einen einheitlichen Block werden sie kaum zustande bringen. Das Parteienkartell aus Konservativen, gemäßigten Linken und Liberalen, das bisher in Brüssel und Straßburg die Mehrheiten organisierte, kann das auch weiterhin tun, zusammen mit den Grünen hat es sogar einhundert Mandate mehr als für eine absolute Mehrheit erforderlich sind. Nein, der Hund, bzw. die große EU-Reform liegt anderswo begraben: in den Mitgliedsstaaten und bei deren Regierungen oder anders ausgedrückt: im Europäischen Rat, im Rat der EU und in der Geopolitik, soll heißen: in Russland.
Das Europäische Parlament wird auch weiterhin eine anti-russische und pro-ukrainische Mehrheit haben, es wird weiterhin Preise an russische Dissidenten vergeben und Menschenrechtsverletzungen in Russland, Belarus und anderen mit Russland verbündeten Ländern anprangern können. Aber es wird auch eine starke pro-russische Minderheit beherbergen, die größer ist als je zuvor. Vorbei sind die Zeiten, in denen nur einzelne Abgeordnete das Wort für Russland ergriffen.
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05.07.2024
Inzwischen gibt es Parteien, die über Russland ihre Wahlkämpfe finanzierten (RN), die für Russland Partei ergreifen (Bündnis Sahra Wagenknecht, Fidesz, Schwedendemokraten, AfD und die österreichische FPÖ), deren Vertreter an russischen Propagandaaktionen mitgemacht haben (AfD) oder sogar mit russischen Geheimdiensten verhandelt haben (die italienische Lega). Alle zusammen, so errechnete ein polnisches........
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