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Der Empörungstsunami: Warum die Berlinale-Preisrede nicht antisemitisch war

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28.02.2024

Lesen Sie hier den Text von Michael Wolffsohn zur Berlinale-Preisverleihung, der einen anderen Standpunkt vertritt.

Letzte Woche, fast zur gleichen Zeit, als die Berlinale zu Ende ging, saß ich in einem gerammelt vollen Seminarraum der University of Cape Town und erklärte Politikstudenten die Hintergründe der Völkermord-Klage, die die südafrikanische Regierung vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gegen Israel eingereicht hat.

Neben mir saßen zwei irische Gastdozenten, eine Ärztin, die in der Westbank arbeitet, und ein irischer BDS-Aktivist, der gegen Israel vom Leder zog. Ich habe schon mehrfach deutlich gemacht, dass ich wenig davon halte, den Völkermord-Vorwurf als Propaganda-Hammer einzusetzen – nicht in Bezug auf Israel und auch nicht in Bezug auf Russland.

Ich kann mich da auf den Internationalen Strafgerichtshof berufen, der bisher gegen keinen Bürger dieser Länder wegen Völkermord ermittelt, wohl aber wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ich habe in Kapstadt darauf verzichtet, über den 7. Oktober oder darüber zu sprechen, „dass wir das in Deutschland anders sehen“ und ich habe auch nicht gegen den Völkermordvorwurf gegen Israel protestiert oder aus Protest den Saal verlassen. Das hätte niemanden überzeugt. Ich habe erklärt, warum es so schwer sein wird, den Völkermordvorwurf vor Gericht zu beweisen. Das fanden alle so interessant, dass ich wegen der vielen Nachfragen nach der Debatte das Buffet verpasste. Eigentlich ist es ja ein Erfolg, Leute, die mit einer eindeutigen Haltung in eine Debatte gehen, nachdenklich gemacht zu haben.

Seit ich wieder zurück in Europa bin, frage ich mich, ob das in Deutschland auch noch funktionieren würde. Nicht, weil es in Deutschland keine freien Medien gibt, der Meinungskorridor angeblich so eng geworden ist oder alles außerhalb des Mainstreams zensiert wird. Das sind Worthülsen, die keiner Prüfung standhalten. Sie funktionieren, wie der Völkermord-Vorwurf in der politischen Propaganda: Sie dienen dazu, sich selbst in eine Opferrolle zu manövrieren, aus der heraus man ziemlich sicher vor Kritik ist.

•gestern

•vor 25 Min.

26.02.2024

•gestern

gestern

Selbst wenn die Kritik berechtigt ist: Niemand setzt sich gerne dem Verdacht aus, Opfer respektlos zu behandeln. Das sorgt dann für Empörung. Und das wiederum kennzeichnet die bundesdeutsche Debatte über Israel, Palästina, Völkermord und Antisemitismus viel besser als krude Argumente über Meinungskorridore und Zensur: Empörungskultur. Es ist die überwältigende, allseits präsente und von niemandem verordnete Tendenz, die kleinste Abweichung von einer für richtig erkannten Einstellung an den Pranger zu stellen und alle anderen dazu aufzurufen, sich darüber auch zu empören.

Diese Empörungskultur wird stark befördert von den Algorithmen sozialer Medien, die auf Empörung anspringen wie ein hungriger Hofhund auf einen Knochen. Empörungskultur ist dabei weder rechts noch links, sie kann sich gegen jeden und alles richten, sie wird von Linken, Rechten, Liberalen und von der politischen Mitte eingesetzt. Man könnte sie auch einfach nur als Intoleranz bezeichnen, wenn sie nicht auch von Toleranten gegen Intolerante und umgekehrt eingesetzt würde.

Wie das funktionierte, konnte man sehr gut am Beispiel der Berlinale-Preisverleihung beobachten – besonders an dem, was danach geschah, an jener gigantischen Empörungswelle, die über die bundesdeutsche Öffentlichkeit schwappte, weil einige Preisträger bei der Gala Dinge gesagt haben, die in den meisten Ländern der Welt vielleicht Schulterzucken und Kopfschütteln (und in vielen Beifall) ausgelöst hätten, in Deutschland aber zu einem ziemlich einmaligen Empörungs-Tsunami führten. Treten wir einen Schritt zurück, schnappen wir nach Luft und sehen uns an, was eigentlich genau geschah.

Bei der Berlinale-Preisverleihung sagte........

© Berliner Zeitung


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