Demokratie heißt nicht, der Mehrheit zu dienen, sondern das Volk insgesamt zu schützen
Soviel Aufregung sie verursacht hat, so schnell war sie auch vorbei: Die Farce von Erfurt, der Versuch, mit Verweis auf den Wahlerfolg der AfD in Thüringen, die im dortigen Landtag die größte Fraktion stellt, die Entscheidungsfreiraum der parlamentarischen Mehrheit einzuengen und ihr einen Parlamentspräsidenten aufzudrücken, statt diesen wählen zu lassen.
Es war absehbar, dass das mit einem Gerichtsurteil gegen die AfD enden würde. Und genauso absehbar war, dass danach AfD-Abgeordnete Repressalien gegen die Richter fordern würden. Richter haben kein demokratisches Mandat. AfD-Abgeordnete schon. Und in Thüringen haben sie sogar ein besonderes starkes Mandat. Und mehr als einmal habe ich deshalb gehört und gelesen, dass, was die AfD tut, nicht undemokratisch sein kann, denn die AfD ist ja demokratisch gewählt.
Jetzt wird das Argument sogar lauter denn je zuvor, denn in Thüringen könnten gleich zwei nicht lupenrein demokratische Parteien eine Regierung bilden. Beide sind demokratisch gewählt und hätten zusammen eine klare Mehrheit, würden also den „Wählerwillen“, von dem unsere Politiker so gerne reden, perfekt abbilden. Sowas kann doch nicht undemokratisch sein! Wer demokratisch gewählt ist und die Mehrheit repräsentiert, der kann auch demokratisch regieren, oder? Was kann denn daran undemokratisch sein? Demokratie, das ist ja schließlich die Herrschaft der Mehrheit.
So war es einmal, vor langer, langer Zeit. Nur haben wir, die Wähler und Bürger, uns davon, ohne es zu merken, schon lange weit entfernt.
Als die Demokratie erfunden wurde, lag die Herrschaft fast überall bei einer Minderheit: einem König, der Aristokratie und dem Adel, die alle zusammen eine winzige Elite gegenüber der Mehrheit der Bürger, Bauern und Händler bildeten. Es war in deren Interesse, Demokratie, also Volksherrschaft, zu verlangen, denn es würde ihre Vertreter an die Macht bringen. Das ging am einfachsten durch die Einführung des Prinzips, wonach jeder Erwachsene (was am Anfang meist bedeutete: jeder erwachsene Mann) eine Stimme vergeben konnte. Damit die bisherigen Machthaber die Wähler nicht manipulieren konnten, musste die Wahl „allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim“ sein, um als demokratisch gelten zu dürfen. Wer dabei gewann, durfte regieren.
Und so trat die Demokratie ihren Siegeszug durch die Welt an und alle wollten plötzlich als demokratisch gelten – sogar rechte Diktatoren in Lateinamerika und linke Einparteiensysteme im sowjetischen Einflussbereich. Alle ließen in regelmäßigen Abständen wählen, hörten auf, sich auf „Gottes Wille“, die Tradition oder ihre angeblich übermenschlichen Eigenschaften zu berufen und behaupteten, sie regierten nur, weil das des Volkes Wille sei. Das machte sie angreifbar, aber es zeigte auch schnell die Grenzen dieser neuen Herrschaftsform.
Als die afrikanischen Staaten ihre Kolonialherren absetzten, taten sie das auch im Namen von Demokratie und Mehrheitsherrschaft: Die Kolonialherren und ihre Kollaborateure waren ja nur eine winzige Minderheit gegenüber der Masse der Einheimischen. Die allerdings waren auch keine einheitliche Masse von Leuten, die alle das Gleiche wollten.
In manchen Ländern wie Namibia und Ruanda kam so tatsächlich die Mehrheit an die Macht – weil die ethnische Mehrheit gleichzeitig auch die zahlenmäßige Übermacht war. Anderswo, wie in Kenia und Zaire, gab es zwar große ethnische Gruppen, aber keine hatte eine absolute Mehrheit der Bevölkerung hinter sich. Das führte dann entweder zum Bürgerkrieg, zur Errichtung einer Diktatur oder im besten Fall zu einer Koalitionsregierung aus mehreren minderheitlichen Volksgruppen.
Das war zwar noch demokratisch, führte aber zu ziemlich fiesen Konsequenzen für all diejenigen, die nicht in dieser Koalition vertreten waren. Beschränkungen für die Regierenden kannte die neue Ordnung nämlich nicht, die meisten Kolonialstaaten hatten die alte koloniale Ordnung übernommen und nur die Machthaber ausgetauscht und die sah natürlich keine Kontrollen und Beschränkungen vor. Die neuen Machthaber konnten also schalten und walten, wie sie wollten und damit auch alles tun, damit niemand sie mehr von der Macht vertreiben konnte. Und sie konnten, mit ganz demokratisch im Parlament verabschiedeten Gesetzen, diejenigen, die nicht an der Macht waren, ausnehmen wie Weihnachtsgänse.
Wenn in den letzten Jahren also Machthaber wie Viktor Orban, Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdogan und Donald Trump versucht haben, ihre demokratisch erhaltene Macht zur Unterdrückung derer einzusetzen, die bei der Wahl verloren haben, ist das so neu nicht, wie es unsere Medien darstellen. Wenn man Demokratie auf Mehrheitsherrschaft reduziert, spricht nichts dagegen, dass eine demokratisch gewählte Mehrheit ihre........
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