In der plötzlich ausgebrochenen Debatte um eine Reform des Bundesverfassungsgerichts geht eine Menge durcheinander. Das höchste deutsche Gericht – und eines der mächtigsten Verfassungsgerichte der Welt – soll gegen „Angriffe der AfD“ geschützt werden, indem Amtszeit der Richter, Zahl der Senate und die zur Wahl von Richtern erforderliche Mehrheit in das Grundgesetz aufgenommen werden und damit nur noch mit Zweidrittelmehrheit geändert werden können.

Dazu gibt’s polnische und ungarische Begleitmusik: Man habe ja gesehen, wie schnell die Regierungen in Polen und Ungarn ihre Verfassungsgerichte als unabhängige Kontrollinstanzen ausschalten konnten. Ich würde da sogar noch Russland, Belarus und die Türkei in diese Galerie mit aufnehmen. Das Problem ist nur: Keines dieser Beispiele ist für die Bundesrepublik wirklich relevant. Und die AfD, deren Wahlerfolge bei dieser Diskussion natürlich das sind, was die Briten „den Elefanten im Raum“ nennen, eignet sich nur bedingt als Schreckgespenst, mit dem sich eine Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit rechtfertigen lässt.

Eine echte Gefahr für die Demokratie: Regierungskritiker als „rechts“ abzustempeln

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Das liegt gar nicht daran, dass die Partei bisher keinen Anlass zu solchen Befürchtungen gegeben hat. Das tun radikale Parteien nie, solange ihnen die Existenz einer unabhängigen Justiz nützt. Viele Alt-Nazis wurden nach 1945 über Nacht zu überzeugten Demokraten, als ihnen klar wurde, dass Rechtsstaat, Menschenrechte und unabhängige Richter sie vor der Rache ihrer politischen Gegner (und oft genug früheren Opfer) schützen konnten. Viele PDSler und Altkommunisten in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und im Baltikum wurden zu Verteidigern des Rechtsstaats, weil dieser ihnen eine weiche Landung garantierte. Eine der im Nach-Apartheid-Südafrika einflussreichsten Nichtregierungsorganisationen verteidigt die Privilegien der weißen Minderheit bis heute; aber nicht mehr im Namen rassischer Überlegenheit, sondern im Namen der Menschenrechte.

Der Grund, warum es nicht nur um die AfD gehen sollte, ist ein anderer. Die AfD wird bei den anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg vielleicht stärkste Partei und kann damit Einfluss auf die Wahl von Verfassungsrichtern auf Landesebene nehmen. Das muss niemanden erschrecken, das konnte sie nämlich in Bundesländern, wo sie viel schwächer ist (Baden-Württemberg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern) auch schon. Es gibt auch keinerlei denkbares Remedium dagegen, dass einer oder mehrere Richter nach ihrer Wahl AfD-Positionen verinnerlichen und damit zu AfD-Richtern werden, obwohl die AfD auf ihre Wahl gar keinen Einfluss hatte. Sowas tun nicht nur Juristen, wenn sie älter und sich ihrer Unabhängigkeit bewusst werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dann konservativer werden, ist wesentlich größer als das Gegenteil. Eine Verfassungsreform hilft dagegen nicht.

gestern

03.02.2024

gestern

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•gestern

Der Grund, warum es bei dieser Debatte nicht so sehr um die AfD gehen sollte, ist ein anderer. Das bundesdeutsche Parteiensystem ist im Umbruch. Bis in die 80er-Jahre hatten wir ein stabiles Dreiparteiensystem, in dem meistens zwei Parteien eine Koalition bildeten und die dritte in die Opposition ging. Dann kamen die Grünen, die deutsche Einheit, die PDS und die AfD und der Niedergang der Volksparteien. Jetzt haben wir ein Vielparteiensystem, in dem erstmals drei Parteien Koalitionen bilden müssen, um regierungsfähig zu werden und diese Koalitionen auch noch instabiler sind als früher. Kein Grund zur Panik, Länder wie die Niederlande und Belgien haben das seit Jahrzehnten. Das Problem steckt woanders. Neben AfD-Mehrheiten kann es demnächst auch negative Bündnisse geben: Konstellationen, bei denen Radikale auf der Rechten und Linken zwar eine Mehrheit hätten, sich aber nicht einigen können und das Parlament blockieren. Deshalb sollte jedes Rezept zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts folgende Szenarien berücksichtigen: eine Sperrminorität für eine oder mehrere radikale Parteien, eine negative Mehrheit aus mehreren einander feindlich gesonnenen Parteien und eine Regierungsmehrheit für eine radikale Partei.

Verweise auf das Ausland sind dabei wenig hilfreich. In allen erwähnten Fällen, von der Türkei über Russland, Belarus, Ungarn und Polen war es eine Regierungsmehrheit, die die Verfassungsgerichtsbarkeit kaltstellte. In der Türkei war die Grundlage dafür der Ausnahmezustand nach einem Putsch, in Ungarn und Belarus wurde die Verfassung geändert, weil die Herrschenden entweder die notwendigen Mehrheiten im Parlament (Ungarn) oder per Referendum (Belarus) hatten. Das russische Verfassungsgericht war nie unabhängig. In Polen übernahm die PiS-Regierung das Verfassungsgericht, indem sie die Verfassung brach, rechtmäßigen Richtern den Zugang verweigerte und nicht-rechtmäßige Richter ernannte. Gegen keines dieser Szenarien würde eine Verfassungsreform helfen. Den polnischen Richtern half es nicht einmal, dass sie – anders als in der Bundesrepublik – das Recht hatten, Neufassungen des Verfassungsgerichtsgesetzes zu kassieren.

Hinzu kommt, dass alle diese Staaten Zentralstaaten sind. Wer dort die Macht hat, regiert über alle Richter und Staatsanwälte. Es genügt dann, wie in Polen, ein Justizminister, um der gesamten Richterschaft mithilfe eines Disziplinargesetzes, ministeriell eingesetzten Disziplinarrichtern und der Gründung einer speziellen, mit Parteisoldaten besetzten Disziplinarkammer beim Obersten Gerichtshof Daumenschrauben anzulegen. Keine der derzeit diskutierten Grundgesetzänderungen würde das verhindern. Es wäre allerdings auch nicht notwendig, denn die Bundesrepublik ist kein Zentralstaat. Sie hat 16 Landesverfassungen mit eigenen Richterwahlausschüssen, eigenen Verfassungsgerichten, eigenen Staatsanwaltschaften und Polizeibehörden.

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•gestern

In der heißen Phase der polnischen Justizreform habe ich vor einer Diskussion mit Richtern und Menschenrechtlern einmal ausgerechnet, wie lange es in der Bundesrepublik dauern würde, auf legale Art und Weise „polnische Justizverhältnisse“ herzustellen. Unter Berücksichtigung der Amtszeiten der Landes- und Bundesverfassungsrichter, der Bundestags- und Landtagswahlkalender und der Tatsache, dass Bundesverfassungsrichter mit Zweidrittelmehrheit für zwölf (statt der in Polen üblichen neun) Jahre gewählt werden, müsste eine Partei wie die AfD zwei Legislaturperioden in Folge eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag (und die meisten großen Bundesländer) erobern, um Karlsruhe mit einer AfD-freundlichen Richtermehrheit zu füllen und die Richterschaft in Bund und Ländern gleichzuschalten. Wenn die AfD im Volk so viel Unterstützung hätte, müsste sie sich auch nicht von der (geänderten) Verfassung aufhalten lassen. Sie könnte dann einfach, wie Viktor Orbáns Fidesz 2010, die Verfassung ändern oder sie wie die Nazis ganz abschaffen.

Mit anderen Worten: Wenn die Bürger die Demokratie aufgeben, werden die Verfassungsrichter nicht in der Lage sein, sie zu retten. Das muss geschehen, solange die Demokratie noch funktioniert. Deshalb ist die Reihenfolge wichtig. Die Zweidrittelmehrheit bei der Richterwahl in Karlsruhe ins Grundgesetz (und entsprechend in die Landesverfassungen) aufzunehmen, kann leicht nach hinten losgehen. Es schafft eine Sperrminorität, mit der die AfD die anderen Parteien dann erpressen kann: Eine Richterwahl findet nur statt, wenn der entsprechende Kandidat der AfD gefällt.

Mit so einer Sperrminorität kann man lustige Sachen anstellen, wie das besonders Viktor Orbán auf EU-Ebene immer wieder vorführt: Man nimmt einen Bereich, in dem man Zugeständnisse will und verbindet ihn mit einem anderen, in dem man zu Zugeständnissen bereit ist. Bei Orbán war das zuletzt die Ukraine-Hilfe, die er mit Transferzahlungen für sein Land verband. Die AfD könnte mit einer Sperrminorität bei der Richterwahl dann vorschlagen, ihre Blockade aufzugeben, wenn sie endlichen einen stellvertretenden Bundestagspräsidenten bekommt. Oder mehr Geld für ihre Parteienstiftungen. Der Fantasie sind da keine Grenzen gesetzt.

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Die Schlussfolgerung: Statt die Mehrheitsschwelle anzuheben, sollte man sie vielleicht besser absenken. Bei der höchstmöglichen Schwelle, der Einstimmigkeit, könnte die AfD schon jetzt jede Richterwahl blockieren. Senkt man die Schwelle auf eine absolute Mehrheit, ist man sogar in Thüringen, wo die AfD auf 35 Prozent der Stimmen rechnen kann, vor einem solchen Szenario sicher, denn da liegt die Sperrminorität dann bei 46 von 90 Abgeordneten. Das Problem dabei ist nur: dadurch verlieren auch Parteien auf die Richterwahl Einfluss, die diesen Einfluss jetzt noch haben. Sie müssten sich also jetzt selbst entmachten, um der AfD nach der Wahl den Einfluss zu nehmen.

Für eine Absenkung sprechen auch noch andere gewichtige Argumente. Erstens, bevor die AfD irgendwann eine relative oder absolute Mehrheit erreicht, erreicht sie eine Sperrminorität. Zweitens, eine möglichst hohe Sperrminorität schützt nicht nur vor der AfD, sondern auch vor einer Blockade durch eine negative Koalition, zum Beispiel, wenn die Linke, die AfD, die Werteunion und das Bündnis Sahra Wagenknecht über ein Drittel der erforderlichen Stimmen kommen, sich aber mit den anderen Parteien nicht auf einen Richterkandidaten einigen können. Das ist im Moment auf Bundesebene noch eher unwahrscheinlich, könnte aber Thüringen schon ziemlich bald drohen, und zwar selbst dann, wenn keine dieser Parteien die Absicht hat, die Richterwahl zu blockieren. Dort steht noch ein anderes Problem ins Haus: In der nächsten Legislaturperiode steht die Wahl sämtlicher Verfassungsrichter an, denn sie wurden alle 2022 oder noch früher für sieben Jahre und mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Bleibt dieses Erfordernis bestehen, wird die AfD über die Zusammensetzung des Gerichts mitentscheiden. Ändern lässt sich das aber nur durch eine Änderung der Landesverfassung.

In Thüringen wird der Landtag alle fünf Jahre gewählt und die Amtszeit der Verfassungsrichter beträgt sieben Jahre. Der Bundestag wird alle vier Jahre gewählt, die Karlsruher Richter haben eine zwölfjährige Amtszeit. Deshalb kann der nächste Bundestag nur drei der 16 Richter in Karlsruhe ersetzen. Wenn die AfD dann tatsächlich die 23 Prozent erreicht, die ihr die derzeitigen Umfragen zurechnen, ist sie von den 34 Prozent, die sie für eine Sperrminorität braucht, noch weit entfernt. Da ist das Szenario einer negativen Sperrkoalition, zum Beispiel mit Abgeordneten der Linken, des Bündnis Wagenknecht oder einer rechtsradikalen Splitterpartei um einiges wahrscheinlicher. Würden die Richter nur mit absoluter Mehrheit gewählt, wäre es völlig vom Tisch.

Björn Höcke (AfD-Fraktionsvorsitzender, links) und Torben Braga (AfD, rechts) bei einer Abstimmung im thüringischen Landtag

Fast alle auf die AfD konzentrierten Horrorszenarien gehen von der unwahrscheinlichen Voraussetzung aus, dass die AfD im Bundestag eine absolute Mehrheit bekommt und damit das Gesetz über das Bundesverfassungsgesetz ändern kann. Dann stünden die Tore zur Hölle in der Tat offen. Nur, wenn man davon ausgeht, ergibt es Sinn, die wichtigsten Bestimmungen des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht ins Grundgesetz zu übertragen. Aber wie erwähnt, bevor die AfD eine absolute Mehrheit bekommt, bekommt sie eine Sperrminorität. Und danach vielleicht eine einfache Mehrheit. Und wenn sie eine absolute Mehrheit im Bundestag bekommt, dann kann sie nicht nur die roten Roben durcheinanderwirbeln oder einfach entmachten, sondern – nach polnischem Vorbild – die Verfassung einfach brechen. Sie kontrolliert dann die Bundespolizei, die Bundesanwaltschaft, die Armee, die Finanzen und die Bundesbehörden.

Maaßen: Werteunion ist offen für AfD-Initiativen

01.02.2024

Wer aber diesen demokratischen Super-GAU als Grundlage für Vorbeugemaßnahmen nimmt, der öffnet ihm Tür und Tor. Die entscheidende Frage ist ja nicht, was tun, wenn die Bundesrepublik von der AfD mit absoluter Mehrheit regiert wird, sondern was tun, damit das nicht passiert. Und jetzt kommt der Clou: Das verlangt von unserem politischen Establishment weit mehr Opfer und Anstrengung als Pläne für eine Katastrophe aufzustellen, die nie stattfinden wird und die, wenn sie doch stattfindet, vor dieser Katastrophe gar nicht schützen.

Wie zum Beispiel umgehen mit einer AfD, die im Bundestag mehr als ein Viertel der Abgeordneten stellt? Das ist angesichts der aktuellen Umfragen viel wahrscheinlicher als eine AfD-Alleinregierung, die Karlsruhe entmachten könnte. Dann nämlich kann die AfD Untersuchungsausschüsse einrichten, die Bundesregierung vor sich herjagen und den Bundestag zumindest teilweise blockieren: Dann gibt’s einen Untersuchungsausschuss über Einwandererkriminalität, einen anderen über Abschiebehindernisse, einen über Clan-Gewalt, einen über Islamismus und Terrorismus, einen, der die Verfassungsschutzaktivitäten gegen die AfD durchleuchtet und einen zur Aufarbeitung von Merkels Willkommenskultur und das, was in AfD-Kreisen so gerne „Staatsversagen“ genannt wird.

Dagegen hat der Bundestag bisher nichts übernommen, denn wenn man die Schwelle von einem Viertel der Abgeordneten anhebt, die es für die Einberufung eines Untersuchungsausschusses braucht, dann entmachtet man ein Stück weit diejenigen Oppositionsparteien, die allein weniger als ein Viertel der Mitglieder haben – neben der AfD ist das momentan auch die Linke. Man könnte die Schwelle sogar auf 50 Prozent anheben. So funktioniert das in Polen. Aber da kann ein solcher Untersuchungsausschuss immer nur die Verfehlungen der Vorgängerregierung aufarbeiten, nicht die der aktuellen Regierung, denn die kann mit ihrer Mehrheit die Bildung eines solchen Ausschusses blockieren.

Große Demo gegen rechts heute in Berlin: Route und Programm

03.02.2024

In Deutschland braucht man für eine entsprechende Änderung die Opposition, denn die entsprechende Regelung steht im Grundgesetz. Warum aber sollte die CDU der Ampel dabei helfen, aus Furcht vor der AfD die Kontrollmöglichkeiten der Opposition gegenüber der Regierung einzuengen? Wäre das nicht ein wenig so, als würde man aus Angst vor einer Demokratie für die Demokratie ein wenig Demokratie selbst abbauen?

Deshalb halte ich die derzeitige Debatte über den angeblich notwendigen Schutz der Karlsruher Richter vor AfD-Attacken für Augenwischerei: Sie lenkt ab von dem, was unsere Abgeordneten in Berlin tun könnten und sollten, aber nicht tun wollen, weil es ihnen selbst weh tut. Aus zahllosen politikwissenschaftlichen Untersuchungen in anderen Ländern wissen wir, dass Politiker sich nicht deshalb an die Regeln halten, weil sie so gute Menschen sind, sondern weil es Institutionen gibt, die sie dazu zwingen und sie bestrafen, wenn sie über die Stränge schlagen. Italien ist nicht deshalb heute keine Berlusconi-Diktatur oder -Monarchie, weil Berlusconi so ein netter Mensch und aufrechter Demokrat war, sondern weil ihn immer wieder Koalitionspartner, Staatsanwälte, Polizisten, Nichtregierungsorganisationen und Richter in die Schranken gewiesen haben.

Dieses System hat in den letzten acht Jahren in Polen komplett versagt. Die Regierenden konnten beliebig über die Stränge schlagen, weil der Justizminister die Staatsanwaltschaften anweisen konnte, solange nicht gegen PiS-Politiker und PiS-Sympathisanten vorzugehen, wie diese der Partei nicht schadeten. Wäre jeder Verfassungsbruch sofort geahndet worden, hätte es vermutlich keinen gegeben. Und das ist der Punkt, an dem man von Polen (und nur von Polen) in der deutschen Debatte tatsächlich etwas lernen kann.

Harald Jähner bei Lanz: Wie Journalisten helfen, dass Deutsche die AfD wählen

31.01.2024

Denn die bundesdeutschen Staatsanwälte sind so weisungsbefugt und abhängig von ihren Justizministern, dass ihnen der Europäische Gerichtshof untersagt hat, Europäische Haftbefehle auszustellen. Was in anderen Ländern Staatsanwälte dürfen, müssen in der Bundesrepublik Richter machen. Daraus ergibt sich keine Gefahr für die Demokratie, denn die Bundesrepublik ist extrem dezentralisiert und um alle Staatsanwaltschaften gleichzuschalten, müsste die gleiche Partei eine absolute Mehrheit im Bundestag und allen Landtagen erreichen und dann die Posten aller siebzehn Justizminister besetzen.

Aber vielleicht wäre es nicht die schlechteste Idee, wegen der anstehenden Wahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen nicht das Gesetz über das Bundesverfassungsgericht zu novellieren, sondern die Unabhängigkeit der dortigen Staatsanwaltschaften von der Regierung voranzutreiben. Dazu müsste man auch die Landesverfassungen ändern – und die derzeit dort regierenden Justizminister ein wenig entmachten, also zwei grüne und eine christdemokratische Ministerin. Das wäre immerhin ein Anfang für eine parteiübergreifende Allianz gegen die AfD.

QOSHE - Das Verfassungsgericht lässt sich nicht AfD-sicher machen: Nur Machtverzicht der Etablierten hilft - Klaus Bachmann
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Das Verfassungsgericht lässt sich nicht AfD-sicher machen: Nur Machtverzicht der Etablierten hilft

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05.02.2024

In der plötzlich ausgebrochenen Debatte um eine Reform des Bundesverfassungsgerichts geht eine Menge durcheinander. Das höchste deutsche Gericht – und eines der mächtigsten Verfassungsgerichte der Welt – soll gegen „Angriffe der AfD“ geschützt werden, indem Amtszeit der Richter, Zahl der Senate und die zur Wahl von Richtern erforderliche Mehrheit in das Grundgesetz aufgenommen werden und damit nur noch mit Zweidrittelmehrheit geändert werden können.

Dazu gibt’s polnische und ungarische Begleitmusik: Man habe ja gesehen, wie schnell die Regierungen in Polen und Ungarn ihre Verfassungsgerichte als unabhängige Kontrollinstanzen ausschalten konnten. Ich würde da sogar noch Russland, Belarus und die Türkei in diese Galerie mit aufnehmen. Das Problem ist nur: Keines dieser Beispiele ist für die Bundesrepublik wirklich relevant. Und die AfD, deren Wahlerfolge bei dieser Diskussion natürlich das sind, was die Briten „den Elefanten im Raum“ nennen, eignet sich nur bedingt als Schreckgespenst, mit dem sich eine Reform der Verfassungsgerichtsbarkeit rechtfertigen lässt.

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03.02.2024

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02.02.2024

Das liegt gar nicht daran, dass die Partei bisher keinen Anlass zu solchen Befürchtungen gegeben hat. Das tun radikale Parteien nie, solange ihnen die Existenz einer unabhängigen Justiz nützt. Viele Alt-Nazis wurden nach 1945 über Nacht zu überzeugten Demokraten, als ihnen klar wurde, dass Rechtsstaat, Menschenrechte und unabhängige Richter sie vor der Rache ihrer politischen Gegner (und oft genug früheren Opfer) schützen konnten. Viele PDSler und Altkommunisten in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und im Baltikum wurden zu Verteidigern des Rechtsstaats, weil dieser ihnen eine weiche Landung garantierte. Eine der im Nach-Apartheid-Südafrika einflussreichsten Nichtregierungsorganisationen verteidigt die Privilegien der weißen Minderheit bis heute; aber nicht mehr im Namen rassischer Überlegenheit, sondern im Namen der Menschenrechte.

Der Grund, warum es nicht nur um die AfD gehen sollte, ist ein anderer. Die AfD wird bei den anstehenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg vielleicht stärkste Partei und kann damit Einfluss auf die Wahl von Verfassungsrichtern auf Landesebene nehmen. Das muss niemanden erschrecken, das konnte sie nämlich in Bundesländern, wo sie viel schwächer ist (Baden-Württemberg, Hessen und Mecklenburg-Vorpommern) auch schon. Es gibt auch keinerlei denkbares Remedium dagegen, dass einer oder mehrere Richter nach ihrer Wahl AfD-Positionen verinnerlichen und damit zu AfD-Richtern werden, obwohl die AfD auf ihre Wahl gar keinen Einfluss hatte. Sowas tun nicht nur Juristen, wenn sie älter und sich ihrer Unabhängigkeit bewusst werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dann konservativer werden, ist wesentlich größer als das Gegenteil. Eine Verfassungsreform hilft dagegen nicht.

gestern

03.02.2024

gestern

gestern

•gestern

Der Grund, warum es bei dieser Debatte nicht so sehr um die AfD gehen sollte, ist ein anderer. Das bundesdeutsche Parteiensystem ist im Umbruch. Bis in die 80er-Jahre hatten wir ein stabiles Dreiparteiensystem, in dem meistens zwei Parteien eine Koalition bildeten und die dritte in die Opposition ging. Dann kamen die Grünen, die deutsche Einheit, die PDS und die AfD und der Niedergang der Volksparteien. Jetzt haben wir ein Vielparteiensystem, in dem erstmals drei Parteien Koalitionen bilden müssen, um regierungsfähig zu werden und diese Koalitionen auch noch instabiler sind als früher. Kein Grund zur Panik, Länder wie die Niederlande und Belgien haben das seit Jahrzehnten. Das Problem steckt woanders. Neben AfD-Mehrheiten kann es demnächst auch negative Bündnisse geben: Konstellationen, bei denen Radikale auf der Rechten und Linken zwar eine Mehrheit hätten, sich aber nicht einigen können und das Parlament blockieren. Deshalb sollte jedes Rezept zum Schutz des Bundesverfassungsgerichts folgende Szenarien berücksichtigen: eine Sperrminorität für eine oder mehrere radikale Parteien, eine negative Mehrheit aus mehreren einander feindlich gesonnenen Parteien und eine Regierungsmehrheit für eine radikale Partei.

Verweise auf........

© Berliner Zeitung


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