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Abschiebungen: Warum ist es uns wichtiger, Mörder loszuwerden, statt sie zu bestrafen?

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16.09.2024

Die Nachricht ist etwas untergegangen in den Auseinandersetzungen um die faktische Aufhebung des Dublin-Systems durch die Einführung stationärer Grenzkontrollen an allen deutschen Grenzen. Jene 28 Afghanen, deren Anträge auf Schutz in Deutschland abgelehnt wurden, die sich entweder strafbar gemacht haben oder als Gefährder eingestuft wurden und die die Bundesregierung unter Vermittlung Katars nach Afghanistan abgeschoben hat, sind in Kabul angekommen. Ein Teil davon wurde gleich auf freien Fuß gesetzt und musste nur eine Erklärung unterschreiben, sich an die dortigen Gesetze zu halten.

Damit ist eingetreten, was viele, auch wir, hier vorhergesagt haben. Ich bin jetzt gespannt, ob sich die Bundesregierung entschließt, auch den mutmaßlichen Messerstecher von Mannheim abzuschieben, der ja den ganzen Aufwand ausgelöst hat.

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09.09.2024

Die ganze leidliche Angelegenheit könnte man einfach der Justiz überlassen und zur Tagesordnung übergehen, was Öffentlichkeit, Medien und Politik ja auch getan haben. Es gab keine Debatte im Bundestag zur Freilassung der Abgeschobenen, Friedrich Merz (CDU) hat zwar eine ganze Serie fremdenfeindlicher Kommentare auf X losgelassen, aber keiner davon war gegen die Taliban gerichtet. Es ist, als wäre es allen ganz recht, wenn über die Angelegenheit möglichst wenig geredet wird. Jetzt geht es ja nicht mehr um Abschiebungen, sondern um Zurückweisungen an der Grenze, das neue Allheilmittel deutscher Migrationspolitik, an dem sich Regierung und Opposition die nächste blutige Nase holen werden. Schade, eigentlich. Denn die Afghanistan-Abschiebepleite zeigt: So neuzeitlich, modern, aufgeklärt und vorurteilsfrei wie wir gerne wären, sind wir gar nicht. Man muss nur ein bisschen an der Oberfläche kratzen, um bloßzulegen, dass es Verhaltens- und Denkweisen gibt, die wir nach Verlassen des Neandertals nie abgelegt haben.

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•vor 4 Std.

Wenn sich Sozialwissenschaftler mit gesellschaftlichen Einstellungen zu Straftaten beschäftigen, unterscheiden sie zwischen präventiven und repressiven Einstellungen. Wer ersteres bevorzugt, ist dafür, Verbrechen durch Vorbeugung zu bekämpfen und Geld in Sozialarbeit, Reintegration von Straftätern und Sozialprogramme zu stecken. Anhänger repressiver Methoden setzen vor allem auf hohe und harte Strafen, weil sie glauben, die schrecken potenzielle Täter davon ab, Verbrechen zu begehen. Nach dem Polizistenmord von Mannheim gab es so gut wie niemanden, der gegen Repression war und forderte, der Staat müsse sich mehr um junge, islamistisch gesinnte Afghanen kümmern, um sie davon abzuhalten, ihre Mitmenschen abzustechen. Alle waren für Strafe und Repression, obwohl hohe Gefängnisstrafen islamistische Attentäter, die ja oft den eigenen Tod in Kauf nehmen, kaum abschrecken dürften.

Umso erstaunlicher war es dann, dass ausgerechnet jene Politiker, Kommentatoren und Bürger mit traditionell repressiven Einstellungen (das sind meist Konservative, also die Klientel von CDU und AfD) danach riefen, dem Täter nicht den Prozess zu machen und ihn lebenslänglich wegzusperren, sondern ihn abzuschieben. Dass er aus Deutschland verschwand, war plötzlich wichtiger, als ihn zu bestrafen. Mehr noch: Die Bundesregierung unternahm eine gewaltige Anstrengung, um das möglich zu machen, schob dann aber ganz andere Personen nach Afghanistan ab.

Klar, vordergründig ging es darum, Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit zu demonstrieren. Deshalb gab es ja dann auch diese Messerverbote, die keinen islamistischen (und auch sonst keinen) Attentäter vom Zustechen abhalten werden, solange es in der Bundesrepublik Haushaltswarenläden gibt, in denen man Fleischermesser kaufen kann. Was steckt dahinter, warum tun unsere Politiker so seltsame Dinge? Weil sie, nicht zu Unrecht, davon ausgehen, dass wir das so wollen und sie dafür wählen. Aber warum tun wir das? Warum ist es für uns wichtiger, einen (mutmaßlichen) Mörder möglichst schnell loszuwerden, statt ihn zu bestrafen? Warum finden wir es gut, auf kostspielige, aufwendige Art und Weise 28 Menschen zu deportieren anstelle des einen, der die Tat, die uns so aufgebracht hat, begangen hat? Hier ist der Grund.

Als es noch keinen Staat, keine Justiz und keine Gesetze gab und wir alle noch in gegerbten Tierfellen umherliefen, kam es auch vor, dass jemand gegen die Normen unserer damals noch recht primitiven Gesellschaft verstieß. Das war eine große Sache, denn es stellte das Fundament, auf dem unsere Gemeinschaft beruhte, infrage. Vielleicht hatte ja derjenige, der sich gegen unsere Normen und Werte auflehnte, recht? Um sich zu vergewissern, dass die Gemeinschaft und nicht der Herausforderer recht hatte, wurde letzterer in solchen Fällen einfach verbannt. Es gab ja auch keine Gefängnisse, in denen man ihn hätte von der Gemeinschaft isolieren können. Er sollte verschwinden. Seine Anwesenheit war eine Anklage gegen uns. Erst wenn er weg war, konnten wir uns gegenseitig vergewissern, dass er der Böse und wir die Guten waren. Das ist........

© Berliner Zeitung


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