Mit einer Lupe in der Hand sitzt Ulrich Beier an seinem Schreibtisch und legt den Inhalt einer braunen Papiertüte auf den Schreibtisch. Halsketten, Ringe, Uhren mit Gummiband und Ohrringe. „Wahrscheinlich alles Modeschmuck“, sagt er. Er trinkt von seinem Kaffee. „Stört es Sie, wenn ich rauche?“, fragt er. Dann zündet er sich eine Zigarette an und begutachtet die Gegenstände. Was sind sie wert? Genug, um unterm Hammer zu landen?

„Esprit“, raunt Beier enttäuscht. „Billiger Modeschmuck.“ Auf seinem Schreibtisch steht kein Computer, dafür ein alter Taschenrechner. Ein paar Ringe begutachtet er noch. Vielleicht ist ja doch was Goldenes dabei. Dann muss er sich auch schon bereit machen. Denn in seinem Auktionshaus in Tempelhof beginnt gleich die BVG-Auktion.

Über eine Milliarde Fahrgäste zählten die Berliner Verkehrsbetriebe im vergangenen Jahr. Bei dieser Menge an Fahrgästen ist es nicht selten, dass Wertsachen und andere persönliche Gegenstände verloren gehen. Treffen die Gegenstände auf ehrliche Finder, landen sie oft im Fundbüro der BVG in der Rudolfstraße unweit der Oberbaumbrücke. Besitzer können online ihren Verlust über ein Formular melden. Es gibt Gegenstände, die werden von Fahrgästen gesucht, aber nicht gefunden – und dann gibt es Gegenstände, die werden gefunden, aber offenbar nicht gesucht. Diese landen dann unter dem Hammer von Beier.

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Etwa eine Stunde vor der eigentlichen Auktion herrscht reges Treiben im Auktionshaus. Auf zwei riesigen Tischen und in meterhohen Regalen sind die Fundsachen zur Präsentation platziert. Neben Kopfhörern, Bluetooth-Boxen und Kleidungsstücken werden auch skurrile Funde angeboten. Körperwaagen, Standmixer und ein gebrauchtes Epiliergerät sollen ebenfalls versteigert werden.

Das alles wurde in den U-Bahnen, den Straßenbahnen, den Bussen, in den Bahnhöfen oder an den Haltestellen vergessen. Ein paar Meter weiter liegt eine rote Melodica. Ein Mann greift sich das Instrument und steckt sich den Plastikschlauch in den Mund, um es zu testen. Es funktioniert. Das Highlight des Tages: Ein funktionsfähiges Saxofon liegt in der Mitte des Raumes und wartet funkelnd auf einen neuen Besitzer. Wird sich jemand finden?

Fabian und Bianca aus Mitte sind am Donnerstagmorgen auch bei der Auktion und stöbern durch das Angebot. Vor einiger Zeit hat Fabian schon einmal auf einer BVG-Auktion ein Fahrrad ersteigert. Auch dieses Mal ist schnell klar: Der Kleinkram kommt für das Paar heute nicht infrage. Es soll ein Fahrrad werden. Von den etwa 40 Fahrrädern, die heute verkauft werden, haben die beiden vier im Blick. Ob sie eines davon bekommen werden? Der Andrang ist jedenfalls groß.

Letztes Jahr hat Beier eine Gitarre verkauft, die ebenfalls in einem Verkehrsmittel der BVG vergessen wurde. Verkaufspreis: 1000 Euro. Seit 1983 macht er die Auktionen für die BVG. „Wir haben mal eine Couch verkauft“, erzählt der Auktionator. Auch sie wurde in einem Bahnhof der BVG gefunden.

Nicht selten werden auch Rollatoren versteigert. „Da fragt man sich dann schon: Wie sind die Leute wieder aus der Bahn gekommen?“ Dass so viel verloren wird, wundert Baier nicht. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit genügt, schon ist der Bus oder die Bahn mit den Kopfhörern oder dem Portemonnaie wieder abgefahren. „Meine allererste Brille habe ich auch im Flieger verloren“, sagt Beier.

Gleich ist es so weit. Durch die Mikrofone kann man schon Beiers Stimme hören: „Es ist 10 Uhr. Die Auktion beginnt jetzt gleich. Wir beginnen mit den Fahrrädern.“ Er selbst sitzt noch in seinem Büro. Die Menge versammelt sich im Eingangsbereich, wo die 40 Fahrräder auf ihren neuen Besitzer warten. Ein letztes Mal kann die Ware begutachtet werden, bevor es mit der Auktion losgeht. Dann öffnet sich die Tür zu Beiers Büro. Der Auktionator schreitet selbstbewusst heraus. Begleitet wird er von einer Entourage seiner Mitarbeiter. Das Headset trägt er lässig am Mund. „Jetzt geht’s los!“

Ich kann nicht jeden Schirm einzeln verkaufen.

Viermal im Jahr wird die Auktion veranstaltet. Bei der Menge an Fundgegenständen, die in Transportmitteln der BVG zurückgelassen werden, ist das auch nötig. 200 Positionen stehen heute auf dem Plan. Viele bestehen aus mehreren Gegenständen, zum Beispiel Plastiktüten mit 20 Regenschirmen oder unzähligen Netzteilen von Ladekabeln. „Ich kann nicht jeden Schirm einzeln verkaufen. Da stehe ich ja morgen noch hier“, erzählt der Chef. Dementsprechend besteht das Publikum hauptsächlich aus Händlern, die die Ware auf Trödelmärkten weiterverkaufen. Wer braucht schon 20 Schirme oder 30 USB-Ladekabel? Trotzdem versuchen am Donnerstag auch viele Privatpersonen ihr Glück. Manche werden fündig.

Jeder Gegenstand hat eine Nummer. Eine Mitarbeiterin ruft sie aus. Wenn Beier einmal loslegt, geht es schnell. „Wir starten mit 20 Euro.“ Ein Händler hebt die Hand. Schnell ist man bei 30. Der Händler geht mit, ein paar Interessierte auch. Der Preis steigt. Nach und nach sinken die Hände. Der Händler bleibt standhaft. Auch bei 120 Euro. Dabei soll es bleiben. Durch seine weit unten hängende Brille schaut Beier in seine graue Kladde. Dann klappt er das Buch zu, schwingt seinen kleinen Holzhammer und haut auf den Einband des Buches. Verkauft! Die meisten Fahrräder werden an diesem Tag an diesen Händler gehen. Einige Interessierte ärgert das. Für den Auktionator ist es ein Geschäft. Der Höchstbietende gewinnt eben.

Fabian und Bianca haben Glück. Der lästige Händler geht bei ihrem Wunschrad nicht mit. Bei 100 Euro ist Schluss. Das Rad geht an die beiden. Sie bezahlen rasch und verlassen glücklich das Auktionshaus. Das Rad hat auf dem Rahmen überall Graffiti. Bianca freut sich darüber: „Das sieht super aus. Und klauen wird das bestimmt niemand. Hoffe ich jedenfalls!“ Sie lacht – und freut sich. Die 100 Euro waren genau ihr Budget.

„Eine Mundharmonika. Zehner!“ Niemand meldet sich. „Dann acht“, sagt Beier. Wieder meldet sich niemand. Beier ist geduldig. Mit seinen 40 Jahren Berufserfahrung kennt er die Launen der Käufer gut. Dann irgendwann hebt in der letzten Reihe ein Mann seinen Arm. Beier schlägt den Hammer aufs Pult. Auch die gebrauchte Mundharmonika findet an diesem Tag einen Käufer.

Und das Saxofon? Das ist der Favorit unter den Käufern. Nach wenigen Sekunden wird das Instrument schon im dreistelligen Bereich gehandelt. Mit seinem Hammer gleitet Beier durch den Raum und zeigt auf die erhobenen Hände der Käufer. Irgendwann ist nur noch eine Hand zu sehen. Sie gehört zu Rafael aus Charlottenburg. Er bezahlt 520 Euro für das Instrument. Auch eine Querflöte ersteigert er sich. Preis: 260 Euro. Dazu direkt noch eine Spielkonsole und ein paar Tretroller. Warum denn auch nicht? Das Saxofon ist für den 38-Jährigen ein guter Anlass, das Instrument spielen zu lernen. „Noch kann ich es nicht spielen, aber ich will es ausprobieren“, sagt er. Stolz präsentiert er seinen goldenen Fund. „Neu kostet das weit über 1000 Euro!“ Dann packt er es behutsam in den Koffer.

Bis zum frühen Nachmittag wird die Auktion dauern. Nach und nach lichten sich die Reihen. Ein paar Bieter bleiben sitzen und warten gespannt, ob sie es schaffen, ihren Lieblingsgegenstand innerhalb ihres Budgets zu ergattern. Einige schaffen es und freuen sich, wenn der Hammer fällt, andere gehen heute leer aus. Sie müssen warten und es in drei Monaten noch mal probieren, wenn die nächste Auktion der BVG-Fundsachen im Auktionshaus von Herrn Beier stattfindet.

QOSHE - U-Bahn-Fundsachen kommen unter den Hammer: „Wir haben mal eine Couch verkauft“ - Kevin Gensheimer
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U-Bahn-Fundsachen kommen unter den Hammer: „Wir haben mal eine Couch verkauft“

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18.01.2024

Mit einer Lupe in der Hand sitzt Ulrich Beier an seinem Schreibtisch und legt den Inhalt einer braunen Papiertüte auf den Schreibtisch. Halsketten, Ringe, Uhren mit Gummiband und Ohrringe. „Wahrscheinlich alles Modeschmuck“, sagt er. Er trinkt von seinem Kaffee. „Stört es Sie, wenn ich rauche?“, fragt er. Dann zündet er sich eine Zigarette an und begutachtet die Gegenstände. Was sind sie wert? Genug, um unterm Hammer zu landen?

„Esprit“, raunt Beier enttäuscht. „Billiger Modeschmuck.“ Auf seinem Schreibtisch steht kein Computer, dafür ein alter Taschenrechner. Ein paar Ringe begutachtet er noch. Vielleicht ist ja doch was Goldenes dabei. Dann muss er sich auch schon bereit machen. Denn in seinem Auktionshaus in Tempelhof beginnt gleich die BVG-Auktion.

Über eine Milliarde Fahrgäste zählten die Berliner Verkehrsbetriebe im vergangenen Jahr. Bei dieser Menge an Fahrgästen ist es nicht selten, dass Wertsachen und andere persönliche Gegenstände verloren gehen. Treffen die Gegenstände auf ehrliche Finder, landen sie oft im Fundbüro der BVG in der Rudolfstraße unweit der Oberbaumbrücke. Besitzer können online ihren Verlust über ein Formular melden. Es gibt Gegenstände, die werden von Fahrgästen gesucht, aber nicht gefunden – und dann gibt es Gegenstände, die werden gefunden, aber offenbar nicht gesucht. Diese landen dann unter dem Hammer von Beier.

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Etwa eine Stunde vor der eigentlichen Auktion herrscht reges Treiben im Auktionshaus. Auf zwei riesigen Tischen und in meterhohen Regalen sind die Fundsachen zur Präsentation platziert. Neben Kopfhörern, Bluetooth-Boxen und Kleidungsstücken werden........

© Berliner Zeitung


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