Isabell R. starb am 12. Juli 2021. Sie wählte den Freitod, die tödliche Infusion setzte sie in einem Hotel in Lichterfelde selbst in Gang. Sie war schwer depressiv, und der Arzt Christoph Turowski half ihr, ihren offenbar lang gehegten Wunsch zu erfüllen: zu sterben.

Doch durfte der promovierte Mediziner der 37-Jährigen beim Suizid assistieren? Die Staatsanwältin sagt Nein. Sie argumentiert, dass die Studentin der Tiermedizin zum Zeitpunkt ihres gewählten Freitodes wegen ihrer psychischen Erkrankung nicht zur freien Willensbildung fähig, sondern in einer akuten psychischen Ausnahmesituation und nicht sie selbst gewesen sei.

Die Anklagevertreterin sagt, der 74-jährige Mediziner sei des Totschlags in mittelbarer Täterschaft schuldig. Sie verlangt, dass der Arzt für drei Jahre und neun Monate ins Gefängnis kommt. Turowksis Verteidiger hat auf Freispruch plädiert.

An diesem Montagvormittag will die 40. Große Strafkammer des Berliner Landgerichts in diesem viel beachteten Prozess ihr Urteil über den Arzt verkünden. Die Richter müssen auch über die Frage befinden, ob die schwer depressive Studentin trotz ihrer psychischen Erkrankung frei entscheiden konnte, aus dem Leben zu scheiden, oder ob der Wunsch zu sterben Teil des Krankheitsbildes war. Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 ist die ärztliche Beihilfe zum Suizid straffrei, wenn die Entscheidung des Sterbewilligen freiverantwortlich gefallen ist.

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Für den Mediziner, der bis zu seiner Pensionierung 30 Jahre lang als Hausarzt tätig war, steht viel auf dem Spiel. Wird er verurteilt, verliert er auch seine Approbation, die derzeit ruht. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung und auch vor Gericht hatte der Mediziner erklärt, Isabell R. aus Nächstenliebe und Humanität beim Suizid geholfen zu haben. Er habe sich dieser Entscheidung aus Gewissensgründen nicht entziehen können. Sie hätte sonst einen gewaltsamen Freitod gewählt, sich erhängt.

Isabell R. hatte Anfang Juni 2021 Kontakt zu dem Arzt aufgenommen, weil sie wohl sterben wollte. Turowski war bekannt. Schon einmal, im Jahr 2018, hatte er vor dem Berliner Landgericht gestanden, weil er einer 44-jährigen, chronisch kranken Patientin beim Suizid geholfen und jeden Rettungsversuch unterlassen hatte. Er wurde freigesprochen. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil.

05.04.2024

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Der Mediziner, der 2015 in den Ruhestand ging und sich seit vier Jahren in der Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) als Sterbebegleiter engagiert, besuchte Isabell R. Nach eigenen Worten erfuhr er, dass die Studentin seit 2005 an schweren Depressionen litt und sie, da ihr nichts geholfen habe, sterben wolle. Er habe ihr geraten, sich an einen Sterbeverein zu wenden. Doch das habe Isabell R. abgelehnt. Er sagt, er habe nie an ihrer freien Willensbildung gezweifelt.

Ohne einen psychiatrischen Gutachter hinzuzuziehen, stellte ihr der Arzt schon zwei Wochen später Tabletten zur Verfügung, die normalerweise tödlich wirken. Doch nach der Einnahme erbrach Isabell R. die Pillen und überlebte. Am 12. Juni 2021 legte Turowski, so hat er es im Prozess bestätigt, der Frau in einem Hotelzimmer eine Infusion mit einem tödlich wirkenden Medikament. Die Studentin öffnete das Ventil selbst. Wenig später war sie tot.

Christoph Turowski sagt, er habe für die DGHS bereits hundert Menschen beim Sterben begleitet. Es waren allerdings Schwerkranke, die Mitglied in der Gesellschaft waren und von Psychologen und Juristen zu ihrem Sterbewunsch befragt und begutachtet wurden. Isabell R. hingegen war nie Mitglied in der DGHS.

In dem Prozess hatten auch Hinterbliebene ausgesagt, deren schwerstkranke Familienmitglieder von dem Arzt beim Suizid begleitet wurden. Sie hatten nur Gutes von Christoph Turowski erzählt und von großer Dankbarkeit gesprochen. Allerdings waren die Sterbewilligen von der DGHS vermittelt worden und sie waren wohl auch nicht psychisch krank.

„Jeder Mensch, der am Ende seines Lebens durch eine Krankheit in höchster existenzieller Not ist, hat Anspruch darauf, selbstbestimmt sterben zu dürfen und dabei nicht allein gelassen zu werden“, hatte Turowksi im Gespräch mit der Berliner Zeitung gesagt. Auch psychisch kranke Menschen hätten ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Er kündigte an, bei einer Verurteilung alle Instanzen in Anspruch nehmen zu wollen.

QOSHE - Urteil gegen Sterbehelfer erwartet: Haftstrafe oder Freispruch für Berliner Arzt? - Katrin Bischoff
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Urteil gegen Sterbehelfer erwartet: Haftstrafe oder Freispruch für Berliner Arzt?

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07.04.2024

Isabell R. starb am 12. Juli 2021. Sie wählte den Freitod, die tödliche Infusion setzte sie in einem Hotel in Lichterfelde selbst in Gang. Sie war schwer depressiv, und der Arzt Christoph Turowski half ihr, ihren offenbar lang gehegten Wunsch zu erfüllen: zu sterben.

Doch durfte der promovierte Mediziner der 37-Jährigen beim Suizid assistieren? Die Staatsanwältin sagt Nein. Sie argumentiert, dass die Studentin der Tiermedizin zum Zeitpunkt ihres gewählten Freitodes wegen ihrer psychischen Erkrankung nicht zur freien Willensbildung fähig, sondern in einer akuten psychischen Ausnahmesituation und nicht sie selbst gewesen sei.

Die Anklagevertreterin sagt, der 74-jährige Mediziner sei des Totschlags in mittelbarer Täterschaft schuldig. Sie verlangt, dass der Arzt für drei Jahre und neun Monate ins Gefängnis kommt. Turowksis Verteidiger hat auf Freispruch plädiert.

An diesem Montagvormittag will die 40. Große Strafkammer des Berliner Landgerichts in diesem viel beachteten Prozess ihr Urteil über den Arzt verkünden. Die Richter müssen auch über die Frage befinden, ob die schwer depressive Studentin........

© Berliner Zeitung


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