Der Andrang vor Saal 142 ist groß. Kamerateams aus Berlin, aber auch aus Polen, sind an diesem Donnerstag angereist, ebenso wie Journalisten und Historiker. Jeder Platz im Saal ist besetzt, als Bernd Miczajka, der Vorsitzende Richter der 29. Großen Strafkammer, den Prozess gegen Manfred N. beginnt – und damit eine Zeitreise in die DDR vor 50 Jahren startet. Der Prozess ist historisch so bedeutsam, dass er für das Landesarchiv aufgezeichnet wird. Ein Novum am Landgericht Berlin.

Manfred N., der Angeklagte, ist ein drahtiger Mann von 80 Jahren. Der gelernte Maschinenbauer mit dem weißen Haarkranz trägt Jeans und einen weinroten Rolli unter dem blaugrauen Jackett, er schaut ernst ins Publikum. Am Morgen ist er mit seiner Verteidigerin Andrea Liebscher aus Leipzig angereist, wo er seit 14 Jahren mit seiner Familie lebt.

Staatsanwältin Henrike Hillmann wirft dem Rentner vor, vor fast genau einem halben Jahrhundert als Oberleutnant des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) an der Grenze zu West-Berlin den aus dem polnischen Kamienica stammenden Feuerwehrmann Czeslaw Kukuczka heimtückisch ermordet zu haben – mit einem gezielten Schuss aus zwei Metern Entfernung in den Rücken und im staatlichen Auftrag. N. hingegen ist sich keiner Schuld bewusst. Seine Verteidigerin erklärt: „Ich darf mitteilen, dass mein Mandant den Tatvorwurf bestreitet.“

Tödlicher Schuss vor 50 Jahren an DDR-Kontrollpunkt – Ex-Stasi-Mann steht in Berlin wegen Mordes vor Gericht

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Kukuczka, 38 Jahre alt, verheiratet und Vater von drei Kindern, war am 29. März 1974 mit einer Bombenattrappe in der polnischen Botschaft Unter den Linden in Ost-Berlin aufgetaucht und hatte seine ungehinderte Ausreise gen Westen gefordert. Die Stasi übernahm. Sie spielte ihm offenbar vor, dass er ausreisen dürfe, brachte ihn zum Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße, der im Volksmund „Tränenpalast“ hieß.

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Dort hatte Kukuczka den letzten Kontrollpunkt passiert. Er sei in dem Glauben gewesen, sein Ziel erreicht zu haben und habe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit einem Angriff gerechnet, sagt Hillmann. Doch dort hielt sich laut Anklage Manfred N. verborgen, der den Auftrag hatte, Kukuczka unschädlich zu machen. Er soll in Tötungsabsicht geschossen haben. Der Pole erlag noch am selben Tag seinen Verletzungen.

Die Anklage stützt sich auf Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit, unter anderem soll Stasi-Chef Erich Mielke wenige Tage nach der Tat den Angeklagten für den Kampforden „Für Verdienste für Volk und Vaterland“ in Bronze vorgeschlagen haben. Begründung: Der Genosse Oberleutnant N. habe den persönlichen Auftrag, einen Terrorangriff auf die Staatsgrenze der DDR abzuwehren, mutig und entschlossen erfüllt und den Terroristen mit der Schusswaffe unschädlich gemacht.

Und auch die Aussagen von Augenzeuginnen der Tat spielten bei den Ermittlungen eine Rolle. So sollen drei Schülerinnen einer zehnten Klasse aus dem hessischen Bad Hersfeld, die nach einem Ausflug nach Ost-Berlin auf der Rückreise waren, den Schützen beobachtet haben.

Eine dieser Schülerinnen von damals ist Martina S. Sie ist heute Sozialpädagogin im hessischen Bebra und 65 Jahre alt. Auch nach 50 Jahren kann sie sich noch an viele Details erinnern. Die Klasse sei damals in Ost-Berlin auf der Museumsinsel gewesen, habe im Roten Rathaus gegessen, bevor es nach West-Berlin zurückgehen sollte.

Mit zwei Freundinnen stand sie bei der Ausreise in der Schlange. Es sei eigentlich recht flott gegangen, erinnert sie sich. Doch dann hätte die Abfertigung gestockt. Heute denkt sie, es war Absicht, um ein freies Feld für das zu haben, was kommen sollte. Denn als sie und zwei Freundinnen an der Passkontrolle standen, wurden sie aufgefordert, jemanden vorzulassen.

Der Mann hatte eine kleine Reisetasche dabei, die er in der rechten Hand trug. Er habe seinen Pass bei der Kontrolle relativ schnell wieder zurückbekommen, sei dann zielgerichtet Richtung Tunnel gelaufen, erinnert sich Martina S.

Was dann geschah, sei „wie in einem schlechten Film“ gewesen. Und der Abgefertigte habe den Mann, der nun unmittelbar hinter ihn getreten sei, nicht sehen können. Dieser Mann, groß und schlank, sei aus dem Schatten getreten, habe einen langen Mantel und eine getönte Brille getragen. „Es fiel ein Schuss, der Mann mit der Reisetasche brach zusammen“, sagt Martina S. In dem Moment schlossen Uniformierte auch schon die große blickdichte Flügeltür.

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Die Jugendlichen wurden aufgefordert, einen anderen Ausgang zu benutzen. Martina S. weiß noch, wie sie von einem Grenzbeamten barsch angefahren wurde, den Fotoapparat wegzustecken. Sie war damals 16 Jahre alt. „Das war alles sehr surreal.“

Den Jungs aus ihrer Klasse, und dem Klassenlehrer, die den Schuss gehört hatten, erzählten die Jugendlichen, dass jemand von ihren Augen erschossen worden sei. Angstvoll seien sie bei der Rückreise mit dem Zug durch die DDR gefahren, sagt die Zeugin. „Sie hatten unsere Pässe, unsere Daten.“ Zu Hause gingen sie zur Polizei.

Martina S. ist sich sicher, dass der Mann mit der Reisetasche keine Schusswaffe in der Hand hielt. Die Stasi hatte Tage nach dem Vorfall in einem Bericht erwähnt, dass der später Getötete mit einer Waffe auf einen Grenzbeamten gezielt habe. Deswegen habe man schießen müssen.

Erst nach der Wende erfuhr Martina S., wer der Mann mit der Reisetasche war: Czeslaw Kukuczka. Sie sagt, es sei gut gewesen, Gewissheit zu haben. Denn die Polizei in Bad Hersfeld habe damals schon an ihrer Erzählung gezweifelt, sie eher als die Spinnerei von pubertierenden Mädchen abgetan.

Vor dem Mauerfall fuhr Martina S. nie wieder nach Berlin. Sie habe nicht gewusst, was sie bei der Grenzkontrolle erwarten würde, erzählt sie. Das Geschehene hat sie lange Zeit beschäftigt. Jahrelang habe sie keinen Krimi sehen können, Feuerwerk nicht ertragen. „Ganz schlimm war es, wenn jemand hinter mich getreten ist“, sagt sie. Am kommenden Verhandlungstag sollen ihre damaligen Freundinnen vor Gericht aussagen.

In dem Fall hatte es nach der Wende schon mehrfach Ermittlungen gegeben, die aber eingestellt wurden – im Jahr 2005 mit dem Hinweis, dass die Beschreibungen der Zeuginnen nicht ausreichen würden, den Täter zu identifizieren. Auch sei unklar, ob Kukuczka am Grenzübergang nicht doch eine Bombe oder eine Waffe mit sich geführt habe.

Erst 2016 konnten die Ermittler den Schützen namhaft machen. Der Fall wurde aber als Totschlag angesehen, der demnach verjährt wäre. Erst als die Staatsanwaltschaft in Polen vor drei Jahren einen europäischen Haftbefehl gegen N. erließ und seine Auslieferung beantragte, schauten man sich in Berlin die Akten noch einmal an und kam zu dem Schluss: Es war ein Mord, der nicht verjährt.

In dem Verfahren sind die drei Kinder sowie die Schwester von Czeslaw Kukuczka Nebenkläger. Der Lübecker Rechtsanwalt Hans-Jürgen Förster vertritt Kukuczkas Tochter Halina. Er sagt am Rande des Prozesses, von dem Verfahren gehe eine Botschaft aus: „Gerechtigkeit hat kein Verfallsdatum.“

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Thomas Walther, der vor Gericht schon viele Überlebende von Naziverbrechen vertreten hat, ist der Anwalt von Jan Kukuczka, der zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters sechs Jahre alt war. In einer Prozesspause sagt er, der tödliche Schuss wäre auch nach DDR-Recht ein Mord gewesen. Diese Tat jedoch sei ein staatlich geduldeter und angeordneter Mord gewesen.

Walther erzählt, dass nach dem gewaltsamen Tod von Czeslaw Kukuczka etwa zehn Stasi-Mitarbeiter, die in der Befehlskette eingeschaltet waren, von Stasi-Chef Erich Mielke persönlich für Orden und Auszeichnungen vorgeschlagen worden seien. „Zu den geehrten Ordensträgern gehört auch der Angeklagte.“

Dass Manfred N. nun als letztes Glied der Befehlskette wegen Mordes auf der Anklagebank sitzt, findet der Anwalt richtig. Der Schütze sei ein Glied in einer Mordkette – unabhängig davon, wie er in diese Position gelangt sei, sagt Walther. „Der Henker ist der Henker, und der Mordschütze ist unter Umständen auch der Mörder.“

QOSHE - Ex-Stasi-Mann bestreitet vor Gericht Mord an polnischem Feuerwehrmann vor 50 Jahren - Katrin Bischoff
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Ex-Stasi-Mann bestreitet vor Gericht Mord an polnischem Feuerwehrmann vor 50 Jahren

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14.03.2024

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Dort hatte Kukuczka den letzten........

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