Bei der Lektüre der „Buddenbrooks“ gab es immer Gelächter und Hallo, wenn man sich die Peinlichkeit für die Lübecker Bürger und Bürgerinnen vorstellte, die sich hier wiedererkannten und nun genierten und/oder vor Wut platzten. Es war angenehm, dass man selbst ja nicht aus Lübeck stammte, auch nicht aus Hamburg, gar nicht aus der Gegend, das alles hatte nichts mit einem zu tun.

Bei der Lektüre von „Unsereins“ lacht man sich jetzt nicht gerade kaputt, obwohl das ein zutiefst unterhaltsamer Roman ist. Inger-Maria Mahlke führt die Menschen aber nicht vor, sie denkt nicht dran, und das Gegenteil von Nicht-Vorführen ist nicht etwa Empathie, sondern ein aufmerksamer, wertfreier Blick. Ein aufmerksamer, wertfreier Blick ist selten. Und er ist vielleicht doch der größte Unterschied zu dem Buch, das Thomas Mann berühmt machte – neben und noch vor Mahlkes Interesse an Frauen und an der Vielschichtigkeit einer oben und unten scharf und recht undurchlässig organisierten Stadtgesellschaft und überhaupt einem Blick zurück von den 2020er-Jahren aus.

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Auch Mahlke ist Lübeckerin. Auch Mahlke hat, wenn man so will, einen Schlüsselroman geschrieben. Es liegt nahe, in einigen Figuren „Buddenbrooks“-Figuren wiederzufinden, beziehungsweise die Menschen, bei denen sich auch Thomas Mann bediente. So eindeutig war das schon damals nicht. „Alles ist so seltsam verdreht“, sagt in „Unsereins“ Friedrich Lindhorst. „Bist du sicher, dass wir das sind?“, sagt seine Frau Marie.

Dabei sind sie selbst ein relativ klares Beispiel: die Familie Fehling, die in den „Buddenbrooks“ Hagenström heißt und in „Unsereins“ Lindhorst. Die jüdische Herkunft der Frankfurter Mutter des künftigen Senators Friedrich Lindhorst (Emil Ferdinand Fehling) wird „zwischen den Zähnen“ verspottet, vor allem durch ein gerne antisemitisch missverstandenes Heine-Spottgedicht: „Erlauschtes“ („O kluger Jekef, wie viel hat dir / Der lange Christ gekostet, / Der Gatte deines Töchterleins?“). Im engstirnigen Lübecker Patriziertum hat es sich festgesetzt, ansonsten konzentriert man sich auf Keitel, „den berühmtesten Dichter der Welt“. Das bezieht sich auf Emanuel Geibel, Sohn der Stadt, als Keitel nun der Vater von Marie Lindhorst. Ein zugezogener Schüler wundert sich über den Superlativ und sagt „Und Goethe?“. „Viel berühmter“, wird ihm beschieden, die anderen Schüler lachen und rufen „ist der dumm“.

Wie man sieht, kann auch Mahlke spotten. Weil sie es so fein dosiert, zündet es umso besser und böser.

„Unsereins“ ist ein norddeutsch zurückhaltend geschriebenes, tatsächlich aber außergewöhnlich aufregendes Buch. Darum jetzt noch einmal ganz ruhig und von vorne. Zwischen den Jahren 1890 und 1906, mit einer leichten Beschleunigung nach hinten raus, entwirft Mahlke ein Panorama der Lübecker Gesellschaft. Das ist eng und unübersichtlich zugleich, so unübersichtlich, dass man die Personenliste vorne im Band dringend benötigt. Mahlke hat die Keckheit, einige Figuren geruhsam zu präsentieren und sie dann doch wieder für lange oder immer beiseite zu tun.

Mahlke ist wie mit einer Drohne unterwegs, nähert sich, zoomt heran, fliegt weiter. Das Wort Drohne fällt auch, denn die Autorin bemüht sich keineswegs darum, als extrem allwissende Erzählerin im Zeitkolorit der Jahrhundertwende zu bleiben (einer Zeit, in der sie sich jedoch ebenfalls glänzend auskennt). Auch dies geschieht ganz unaufdringlich. Der beste Lohndiener und Kontaktanbahner der Stadt, Charlie Helms – dass er homosexuell ist, darf niemand wissen –, sortiert Menschen so gekonnt wie keiner, „ähnlich dem Algorithmus eines sozialen Netzwerks“. Als das Lindhorst’sche Dienstmädchen Ida sich um eine Weiterbildung an der Volksschule bemüht und schaut, wer sich noch anmelden will, steht da dieses eine Mal „Arbeiter:innen“. Tatsächlich wünscht sich Ida, dass der Stenokurs ihr eine Tür in eine völlig andere Zukunft eröffnet.

So sind die Zeiten, höhere Töchter denken darüber nach, in Zürich zu studieren, wo das Frauen möglich ist. Uns, die wir wissen, wie es weitergegangen ist, fällt das natürlich auf.

Den Figuren im Buch fällt das nicht auf. In der Schule singt man „Heil dir im Siegerkranz“, „Die Wacht am Rhein“ und „Eine feste Burg“, liest Keitels Schlachtenlieder zum Sedantag. Frauen werden geschwängert, wie man so sagt, geheiratet hingegen wird lieber die reichere Freundin. Eine Frau ekelt sich dermaßen vor ihrem Mann, dass es sie graust, wenn er sich ihr nähert. Einer der Lindhorst-Söhne bekommt die Syphilis. Die Arbeiterschaft muckt auf, vom Bürgertum kollektiv gehasst. „Unsereins“ ist kein offensiv politisches Buch, aber Politik wird nicht ausgeblendet. Es ist, als wollte sich Mahlke darin üben zu erzählen, ohne zu urteilen. Aber natürlich genießt man es, wenn hier und da ein Zipfel Freiheit auftaucht.

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Man steckt fest in seiner Welt, aber es ist auch spürbar – wie in den „Buddenbrooks“ –, dass sie untergehen wird. Mahlke erzählt das ohne Melancholie. Und ohne Hoffnung. Selbst der schöne, deutlich abgesetzte Schlusssatz – „Aber vielleicht ist dies nicht das Ende, sondern nur der Anfang“ – bleibt unzauberisch. Denn bis zum letzten Tag geht es immer weiter.

Von der Seite aber nähert sich eine Nebenfigur, Tomy, die man zunächst kaum beachten wird. Es ist interessant, dass der Klappentext versucht, die Handlung durch ihn und seinen Roman – und die antisemitischen Klischees, die er einbaut und die auf die Lindhorsts zielen – etwas vorzusortieren. Beim Lesen muss man sagen: vergeblich. Aber das stört nicht, im Gegenteil.

„Unsereins“ ist neben „Empusion“, der „Zauberberg“-Variante von Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, ein zweiter Roman des Jahres, der sich offen und neugierig einer Thomas-Mann-Vorlage annimmt. Zwei Bücher, die sich nicht nur im leichten Ton ähneln, sondern auch in der freundlichen Verweigerung einer straffen Form. Das mäandernde und damit völlig souveräne Erzählen – dem Leben ähnlicher als einem Buch und doch ganz Literatur – kommt einem in beiden Romanen fast bedeutender vor als die Frage, wie feministisch zum Beispiel der Blick der Autorinnen ist (er ist sehr feministisch).

Mahlke, 1977 in Hamburg geboren, die für „Archipel“ 2018 mit dem Deutschen Buchpreis geehrt wurde, übt sich in „Unsereins“ an einem Erzählen mit zarter Kühle. Kein Mann’sches Feuerwerk, sondern ein breit und ruhig über die Ufer tretender Fluss

Inger-Maria Mahlke: Unsereins. Roman. Rowohlt, Hamburg 2023. 496 Seiten, 26 Euro

QOSHE - „Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke: Eine zarte, kühle „Buddenbrooks“-Variante - Judith Von Sternburg
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„Unsereins“ von Inger-Maria Mahlke: Eine zarte, kühle „Buddenbrooks“-Variante

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23.12.2023

Bei der Lektüre der „Buddenbrooks“ gab es immer Gelächter und Hallo, wenn man sich die Peinlichkeit für die Lübecker Bürger und Bürgerinnen vorstellte, die sich hier wiedererkannten und nun genierten und/oder vor Wut platzten. Es war angenehm, dass man selbst ja nicht aus Lübeck stammte, auch nicht aus Hamburg, gar nicht aus der Gegend, das alles hatte nichts mit einem zu tun.

Bei der Lektüre von „Unsereins“ lacht man sich jetzt nicht gerade kaputt, obwohl das ein zutiefst unterhaltsamer Roman ist. Inger-Maria Mahlke führt die Menschen aber nicht vor, sie denkt nicht dran, und das Gegenteil von Nicht-Vorführen ist nicht etwa Empathie, sondern ein aufmerksamer, wertfreier Blick. Ein aufmerksamer, wertfreier Blick ist selten. Und er ist vielleicht doch der größte Unterschied zu dem Buch, das Thomas Mann berühmt machte – neben und noch vor Mahlkes Interesse an Frauen und an der Vielschichtigkeit einer oben und unten scharf und recht undurchlässig organisierten Stadtgesellschaft und überhaupt einem Blick zurück von den 2020er-Jahren aus.

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© Berliner Zeitung


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