Paul Auster hat einen klassischen englischen Aufsatz über Schusswaffengewalt in den USA geschrieben, spannend aufgebaut, glänzend argumentierend, und als man schon ganz atemlos ist – auch entsetzt, aber eben auch atemlos, dass es dem Menschen, diesem fürchterlichen Wesen, trotz allem möglich ist, so vernünftig seinen Kopf zu gebrauchen –, zoomt er noch einmal an eine Szene heran.

Es ist der Amoklauf in der First Baptist Church im texanischen Sutherland Springs am 5. November 2017 mit am Ende insgesamt 26 Toten. Ein weiterer Mann aber taucht auf und hat seinerseits eine Waffe und ist ein sehr guter Schütze. Der Mann trifft mehrfach, aber der Mörder kann in einem Auto fliehen, aber der Mann rast hinterher und trifft wieder mehrfach. Später wird er sagen: „Wir sind nicht dafür gemacht, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Es schadet uns. Es verändert uns.“ Die Waffenlobby unterstützt er dennoch. Hier kommt vieles zusammen an Grauen und an Widersprüchen.

Obwohl Auster glasklar schreibt (und Werner Schmitz glasklar übersetzt und uns geduldig auch durch grauenhafte medizinische Aufzählungen manövriert), steuert er geruhsam auf das Thema zu. Das Thema sind die fast 40.000 Menschen, die in den USA in jedem Jahr durch Schussverletzungen sterben, mehr als hundert am Tag in einem Land, in dem mehr Schusswaffen im Umlauf sind, als Menschen wohnen. Dazu die bleibenden Schäden der Überlebenden, die in keiner Statistik auftauchen, „ein zertrümmerter Ellbogen, der den Arm unbrauchbar macht; eine zerschossene Kniescheibe, die aus normalem Gehen ein qualvolles Humpeln werden lässt; das zerfetzte Gesicht mit künstlichem Kiefer, von plastischer Chirurgie zusammengeflickt“. Die psychischen Schäden, das Leid der Angehörigen, der Bekannten.

Auch Paul Auster hat, wie viele von uns, in seiner Kindheit und Jugend unzählige Schießereien im Western und im Gangsterfilm gesehen, das Blut rote Farbe oder im Schwarzweißfilm Herschey’s Schokoladensirup.

09.03.2024

•vor 5 Std.

•gestern

08.03.2024

•heute

Er war selbst ein guter Schütze. Als Amerikaner kam er im Sommercamp und bei Freunden in die Situation zu schießen, er geht davon aus, dass er als begeisterter Baseballer im Vorteil war. Über sein erstes und einziges Erlebnis mit Tontauben schreibt er: „Den ganzen Nachmittag habe ich kein einziges Mal danebengeschossen.“ Warum hat er es gelassen? Er wundert sich selbst. In seiner Familie, schreibt er, habe es keine Waffen gegeben und kein Interesse daran. Erst als Erwachsener erfährt er, dass seine Großmutter väterlicherseits ihren Mann erschossen hat, dass sein Vater das als Kind miterlebt hat, dass eine Waffe sein Leben eigentlich ruiniert hat. Traurige, stille Väter kennen Auster-Leser aus vielen seiner Bücher.

Dann also die Zahlen, verbunden mit dem irrsinnigen Umstand, dass Kneipenraufereien, so Auster, in Kanada, Norwegen oder Japan zu blutigen Nasen führen können, in den USA aber zu einer Schießerei. Er staunt und lässt uns mitstaunen: darüber, dass der Mensch doch auch den Gefahren im Straßenverkehr begegnet ist, als er sie erkannte. Früher gab es keine Führerscheine, „es gab keine Stoppschilder, keine Ampeln, keine Tempolimits, keine Bremslichter, keine Rück- und Seitenspiegel, keine Blinker, keine Bußgelder für Alkohol am Steuer, keine bruchsicheren Windschutzscheiben, keine gepolsterten Armaturenbretter und keine Sicherheitsgurte.“ Er staunt darüber, wie selbst im Wilden Westen mehr Vorsicht waltete. Dass es im „schlimmsten Jahr“ in Tombstone lediglich fünf Schusswaffentote gab („drei davon bei der Schießerei am O.K. Corral“!!), schreibt Auster, lag daran, dass man in vielen Orten seine Revolver am Ortsrand abgeben musste.

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06.11.2023

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19.04.2023

Auster ist gegen eine Wiederholung des Prohibitionsdesasters, auch das muss einem klar sein. Es geht ihm nicht um ein Verbot, es geht ihm um Sicherheitsvorkehrungen. Man kennt sie aus dem Western. Nicht aus dem Western kennt man die Milizen, die Auster nun beschreibt. Dem Mythos vom einsamen Farmer, der sich und die Seinen schließlich schützen muss, stellt er die verpflichtenden Einheiten entgegen, mit denen Siedler (eine eigene Waffe war eine Pflicht) truppenweise vorrückten, um Indigene zu morden (das Wort abschlachten ist am Platze).

Bald sind Milizen auch dafür zuständig, Sklaven einzufangen. Man braucht das Land und kostenlose Arbeitskraft, um zur reichen, freien Nation zu werden. Die Lügen, auf denen die USA erbaut sind, werden von Auster ruhig auseinandergenommen (und zusammengefasst, er hat nicht nur viel nachgedacht, sondern auch viel gelesen). Mit Blick auf das europäische USA-Bild: kein Grund zur Häme, um auch das zu sagen, ausschließlich zum Entsetzen und zur Nachdenklichkeit.

Aus dem schlanken Text, in dem kein Satz verschenkt wurde, wird ein Buch erst mit den Fotos von Spencer Ostrander, der Orte von „mass shootings“ fotografierte. Trist, unauffällig, menschenleer. Viele sind seitdem geschlossen. Manchmal gibt es eine Gedenktafel oder Blumen. Immer wird woanders schon wieder geschossen.

Paul Auster: Bloodbath Nation. Mit Fotos von Spencer Ostrander. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, Hamburg 2024. 192 Seiten, 26 Euro

QOSHE - „Bloodbath Nation“: Paul Auster nimmt die Lügen auseinander, auf denen die USA erbaut sind - Judith Von Sternburg
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„Bloodbath Nation“: Paul Auster nimmt die Lügen auseinander, auf denen die USA erbaut sind

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11.03.2024

Paul Auster hat einen klassischen englischen Aufsatz über Schusswaffengewalt in den USA geschrieben, spannend aufgebaut, glänzend argumentierend, und als man schon ganz atemlos ist – auch entsetzt, aber eben auch atemlos, dass es dem Menschen, diesem fürchterlichen Wesen, trotz allem möglich ist, so vernünftig seinen Kopf zu gebrauchen –, zoomt er noch einmal an eine Szene heran.

Es ist der Amoklauf in der First Baptist Church im texanischen Sutherland Springs am 5. November 2017 mit am Ende insgesamt 26 Toten. Ein weiterer Mann aber taucht auf und hat seinerseits eine Waffe und ist ein sehr guter Schütze. Der Mann trifft mehrfach, aber der Mörder kann in einem Auto fliehen, aber der Mann rast hinterher und trifft wieder mehrfach. Später wird er sagen: „Wir sind nicht dafür gemacht, einem anderen Menschen das Leben zu nehmen. Es schadet uns. Es verändert uns.“ Die Waffenlobby unterstützt er dennoch. Hier kommt vieles zusammen an Grauen und an Widersprüchen.

Obwohl Auster glasklar schreibt (und Werner Schmitz glasklar übersetzt und uns geduldig auch durch grauenhafte medizinische Aufzählungen manövriert), steuert er geruhsam auf das Thema zu. Das Thema sind die fast 40.000 Menschen, die in den USA in jedem Jahr durch Schussverletzungen sterben, mehr als hundert am Tag in einem Land, in dem mehr Schusswaffen im........

© Berliner Zeitung


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