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Weihnachten und Mistel gehören zusammen, aber in Berlin werden sie zur Plage

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Wieso sollte eine Pflanze aus Mist bestehen? Wie sieht sie aus? Und warum hängen sich einige Leute einen Zweig davon oben an den Türrahmen? Stinkt eine Pflanze aus Mist in der Wohnung eigentlich? Und wenn sich Liebende zum Weihnachtsfest unter dem Zweig küssen, warum wird ihnen dann ewige Liebe versprochen – und viele Kinder? All diese Fragen waren sofort da, als ich als Kind in einem Weihnachtsbuch von der sagenumwobenen Mistel las.

Sie wurde beiläufig erwähnt, als wüssten alle Bescheid. Ich aber war neun Jahre alt, hatte keine Ahnung und fragte meinen Vater: Bestehen Misteln wirklich aus Mist? „Natürlich nicht“, sagte der Gartenbauingenieur. Er griff sich eine warme Jacke. „Komm, wir fahren Misteln suchen.“ Wir kurvten im Auto durch die Winterlandschaft und suchten die kahlen Baumkronen ab – nach einem dichten Ball. „Diese immergrüne Pflanze ist recht selten“, sagte mein Vater, „genau deshalb wurde sie zu einer mythischen Pflanze erklärt.“

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Der Grund: Im Herbst verlieren Laubbäume ihre Blätter, alles sieht trist aus. Aber in manchen kahlen Baumkronen hängen immergrüne Misteln, die aussehen wie große Bälle. Ein Wunder. Und dann bekommen sie in der Weihnachtszeit auch noch ihre Früchte. Deshalb gelten sie in vielen Kulturen als Fruchtbarkeitssymbol – deshalb das Küssen.

Damals, vor 50 Jahren, fuhr mein Vater mit mir eine Stunde im Auto, bis wir nach wirklich intensiver Suche endlich eine Mistel fanden. Und wir lebten am Rand einer Kleinstadt, ganz nah an der Natur. Heute brauche ich mitten in der Großstadt Berlin nicht mal eine Viertelstunde zum Volkspark Friedrichshain zu radeln, um meinem Sohn Bäume mit Dutzenden Misteln zu zeigen. Früher waren Misteln eine Rarität, die in der Adventszeit teuer auf Weihnachtsmärkten verkauft wurde, heute sind sie vielerorts eine Plage.

An einer Landstraße bei Kremmen ist eine fast zwei Kilometer lange Allee befallen, bei Fehrbellin ist es ein halber Kilometer. Überall sterben ganze Alleen, vor allem Birken und jene langen Reihen aus Pappeln, die in der DDR als Windbrecher neben Felder gepflanzt wurden. Am Berliner Ring gibt es massenhaft Misteln am Kreuz Pankow, ebenso an der Abfahrt Saarmund oder entlang der Bahngleise am Bahnhof Wannsee. Wer das ganze Ausmaß verstehen will, muss am Kreuz Babelsberg in Richtung Potsdam fahren. Auf knapp sechs Kilometern hängen Hunderte Bäume voller Misteln. Jetzt im Winter ein erschreckendes Bild.

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© Berliner Zeitung