Die AfD ist die erfolgreichste Parteineugründung der vergangenen Jahrzehnte und für viele eine akute Gefahr für die bundesdeutsche Demokratie. Sie selbst behauptet immer wieder, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen, doch ihre Wähler sehen dies oft anders.

Das hat Philipp Rhein herausgefunden, der stundenlange Gespräche mit Wählern der AfD führte und feststellte: Sie sehen sich als Elite. Im Interview erklärt der Soziologe, warum vor allem die Endzeitvorstellungen vieler Menschen für so viel Auftrieb bei der AfD sorgen und das Naserümpfen des Westens über den Osten falsch und selbstgerecht ist.

Herr Rhein, fast alle reden nur noch über die AfD, Sie aber haben stundenlange Interviews mit 17 ihrer Wähler geführt. Warum?

Ich wollte nicht über die AfD an sich schreiben oder ihre Ideologie oder ihre Politiker. Mich hat interessiert, was sich anhand des Phänomens der AfD über die Zustände in unserer Gesellschaft sagen lässt: Ich habe die unsichtbaren Wählerinnen und Wähler zum Thema gemacht, keine aktiven Funktionäre oder Leute, die irgendwie engagiert sind, sondern quasi die Wald-und-Wiesen-Wähler. Ich wollte ergründen: Was ist in dieser Gesellschaft los, welche Debatten prägen sie, welche grundlegenden Konflikte unserer Gesellschaft sind es, die für den Erfolg dieser rechtspopulistischen Partei sorgen. Welche biografischen Gründe gibt es, dass sie diese noch recht junge Partei wählen?

Beschreiben Sie uns doch bitte mal den klassischen AfD-Wähler.

In allen Studien wird klar: Da gibt es kein eindeutiges Profil, denn in den vergangenen zehn Jahren hat diese Partei etliche Transformationen vollzogen. Damit gibt es auch ein breit gefächertes Bild bei den Wählerinnen und Wählern. Aber es gibt zwei Faktoren, die in der AfD-Wählerschaft überproportional vorzufinden sind: Männer und Ostdeutsche. Das heißt: Männer mittleren Alters in Ostdeutschland wählen statistisch häufiger AfD, als das in dieser Altersgruppe im Westen der Fall ist. Gleichzeitig sind aber auch bei der AfD die mitgliederstärksten Landesverbände weiterhin im Westen. Es gibt also kein eindeutiges, einfaches Bild.

Warum gibt es bei der AfD so krasse Zustimmungsunterschiede, selbst in räumlich nahen Gebieten? Warum bekommt sie zum Beispiel bei Umfragen in Berlin 13 Prozent Zustimmung, in Brandenburg aber 30 Prozent?

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die AfD in ländlichen Regionen stärker abschneidet als in Städten. Je ländlicher eine Region, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die AfD dort stark ist. Das trifft zum großen Teil auch auf Brandenburg zu, aber eben auch nicht immer.

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Genau: In Cottbus, immerhin eine Großstadt mit 100.000 Einwohnern, holte die AfD bei der bislang letzten Landtagswahl beide Direktmandate, wie kommt das?

Cottbus und die Lausitz sind noch einmal sehr speziell. Dort verlaufen die unglaublich starken ostdeutschen Transformationsprozesse wie unter einem Brennglas. Nach dem Ende der DDR wurden viele Kohlegruben und Kraftwerke geschlossen, die verbliebene Industrie wurde massiv umgebaut. Die Massenarbeitslosigkeit war gravierend, ebenso die Verunsicherung und Wut. Nun kommt der Kohleausstieg, die zweite ganz große Transformationswelle, die erhebliche Einschnitte bringt und wieder mit Verunsicherung und Wut verbunden ist. Da kann die Kohle-Partei AfD punkten.

Was ist Ihre Erklärung für die unterschiedliche Stärke der AfD in Ost und West?

Da kommt man nicht umhin, die große Transformationsgeschichte der vergangenen 35 Jahre zu betrachten. Es geht auch um die Gesellschaftserfahrungen, die in der DDR prägend waren. Es war eine stark nivellierte, gleichförmigere Gesellschaft ohne Arm und Reich, eine Gesellschaft, die viel stärker um die Arbeit strukturiert und ethnisch homogener war. Im Westen gab es viel mehr Unterschiede. Die Gesellschaft ist zwar vom Mittelstand dominiert, aber es gibt Arm und Reich und viel mehr Migration.

Diese unterschiedlichen Gesellschaften prallten nach dem Mauerfall aufeinander, es gab schlagartige Erschütterungen und Verwerfungen, dazu kam eine Entwertung des vorherigen Lebens in der DDR. Die 1990er-Jahre waren geprägt von einer extrem liberalen Wirtschaft und Massenarbeitslosigkeit, dann folgte ein Jahrzehnt des Rückbaus des Sozialstaates. Solche Negativerfahrungen werden auch auf die nächste Generation vererbt. Und als dann die großen Krisen der vergangenen Jahre kamen, wurde das im Osten ganz anders wahrgenommen.

Die AfD wäre auch ohne eine einzige Stimme aus dem Osten bei der letzten Wahl in den Bundestag eingezogen, doch die westlich geprägte öffentliche Wahrnehmung oder Darstellung ist eine andere: Die AfD sei eher ein Ost-Problem, und dann ist auch noch gern davon die Rede, dass die frühere Professoren-Partei vor allem von den sozial Abgehängten oder „dummen Ossis“ gewählt werde. Woher kommt die Blauäugigkeit im Westen?

Erst einmal stellt sich die Frage, warum Menschen, die sozial abgehängt wurden, denn dumm sein sollen. Und das Bild von den Abgehängten stimmt weder im Osten noch im Westen. Aber gerade im Osten wurde dieses falsche Bild über Jahre bemüht. Es gab immer dieses Naserümpfen und Mit-dem-Finger-Zeigen in Richtung Osten. Die Ostdeutschen wurden schnell als die Schmuddelkinder in unserer Demokratie dargestellt.

Das Klischee lautete: Im Osten sitzen diese passiven Nichtwähler, irgendwelche Nostalgiker, die nicht verstehen, dass sich eine moderne Gesellschaft immer weiterentwickelt. Leute, die sich nun von Demokratiefeinden hinterm Ofen hervorlocken lassen und sich für heute ein besseres Gestern wünschen. Aber diese Sicht auf den Osten ist doch überholt. Da sind wir doch einen Schritt weiter.

Für viele AfD-Wähler ist die Geschichte irgendwann auf die falsche Bahn geraten.

Sie als Wissenschaftler mögen weiter sein, in der breiten Öffentlichkeit regieren noch immer diese alten Klischees. Woher kommt dieses Naserümpfen?

Im Westen sind das natürlich auch Mechanismen der Verdrängung und der Kompensation. Die Ostdeutschen galten lange als so etwas wie Ausländer in Deutschland. Das ist Verdrängung, das ist eine Verlagerung der Problemlagen auf andere, so, als hätte der Westen nicht dieselben Probleme und demokratiefeindlichen Affekte.

Was läuft aus Sicht der AfD-Wähler schief in Deutschland?

Für viele AfD-Wähler ist die Geschichte irgendwann auf die falsche Bahn geraten. Das Bild ihrer Normalität ist das der alten Bundesrepublik etwa der 50er-, 60er-Jahre. Ihre Normalität ist die Lebensform einer heterosexuellen Kleinfamilie aus jener Zeit, gern auch die etwas spießige Variante davon. Aber das Ganze ist keine einfache Nostalgie, es sind auch keine Ewiggestrigen. Das Problem reicht tiefer und ist gefährlicher.

Warum?

Weil solche Leute kein positives Bild für die Zukunft haben. Da ist eine Art Zukunftsverschlossenheit. Sie haben ihre Identität verloren, sie fühlen sich ihrer weißen, deutschen Privilegien beraubt, können sich aber das gesellschaftliche Leben nicht anders vorstellen. Ihre Welt ist aus den Fugen, ihre Normalität ist zerstört durch Individualisierung und Globalisierung, durch Migration, Emanzipation oder die „radikalen“ Forderungen der Klimabewegung.

Schuld an diesem Niedergang sind aus ihrer Sicht nicht nur die liberalen Eliten oder Minderheiten, die plötzlich irgendwelche Ansprüche erheben, sondern auch die Politik und damit die Demokratie selbst. Ihr wird nicht mehr zugetraut, die Instrumente für die Krisenbewältigung zu haben. Es gibt kein Zurück zum Normal von früher, und es gibt unter den gegebenen Umständen keine Zukunft, die sie sich wünschen. Da ist eine klare Endzeitstimmung erkennbar.

Aber mit Endzeitvorstellungen sind die Rechtspopulisten nicht allein: Die Klimakleber fürchten, dass sie die letzte Generation sind, die Linken glauben bei jeder Krise, dass nun das Ende des Kapitalismus komme, die Rechten befürchten das Ende des christlichen Abendlandes, und viele andere glauben, bald beginne Putin den Dritten Weltkrieg. Sind Endzeitvorstellungen nicht gerade extrem verbreitet?

Absolut. Auch die Endzeitvorstellungen der Rechtspopulisten sind nur eine Ausdrucksform des Apokalypse-Fetischs, in dem wir gerade leben. Solche Vorstellungen finden sich nicht nur bei Rechtsradikalen, sondern auch bei Klimaaktivisten. Immer ist da dieses Bild: So wie jetzt kann es nicht mehr weitergehen. Solche Endzeitvorstellungen sind höchst problematisch, weil sie nicht kompatibel sind mit der Idee der Demokratie.

In einer Demokratie muss eine mögliche gemeinsame Zukunft politisch ausgehandelt werden. Das ist mühsam, kostet Zeit. Aber Anhänger von Endzeitvorstellungen fordern radikale Lösungen, zur Not auch gegen den Willen der Mehrheit. In unserer Gesellschaft macht sich immer mehr ein Bewusstsein breit, dass die Demokratie angeblich keine Lösung mehr zu bieten hat für die vielen tiefen Krisen, die sich aufgeschichtet haben. Solche Sichtweisen gefährden die Demokratie von innen.

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Die AfD sagt gern, dass sie für die schweigende Mehrheit spreche. Wie sehen es die Wähler, die Sie befragt haben?

Es gibt zwar klar das Bild, dass die schweigende Mehrheit von einer Minderheit regiert werde. Aber viele AfD-Wähler sehen sich nicht als Teil der stummen Mehrheit. Sie sehen sich insgeheim als eine Art wissende Minderheit, als Elite. Als eine Gruppe von vermeintlich Auserwählten, die ganz allein den Durchblick haben, dass hier bald der Untergang der Gesellschaft bevorsteht und wer daran Schuld habe. Bestätigt sehen sie sich vor allem dadurch, dass sie sich ständig von der Mehrheit ihrer politischen Gegner angegriffen fühlen.

Sie sehen sich als Opfer von Ausgrenzungen. Und das bestärkt sie in ihrer Sicht, eine Avantgarde zu sein, die die Zeichen der Zeit erkannt hat und das Ruder an sich reißen muss. Sie glauben: Nun muss die notwendige politische Tat vollbracht werden. Denn aus ihrer Sicht funktionieren die eingeübten Routinen des sozialen Ausgleichs und der politischen Konfliktbewältigung nicht mehr. Aus ihrer Sicht stecken wir fest, und die Demokratie ist nicht mehr in der Lage, die vielen Krisen zu bewältigen.

Das ist eine rein destruktive Sichtweise, oder?

Ja. Die AfD-Wähler, die ich befragt habe, haben keine konkreten politischen Visionen oder Utopien. Aber eine Sache eint sie: Sie lehnen den Status quo ab, weil sie die heutige Zeit als eine einzige Katastrophe wahrnehmen. Da sie sich ihrer Normalität beraubt sehen und sich keine neue Zukunft vorstellen können, sehen sie überall Bedrohungen, die Krise ist zum Dauerzustand geworden. Daraus erwächst etwas, das ich als nihilistische Wut bezeichne.

Was meinen Sie damit? Ist für diese Leute alles sinnlos?

Nicht alles, aber Leute mit solchen endzeitlichen Vorstellungen glauben nicht mehr an die Sinnhaftigkeit der Politik. Sie haben eben keine positiven Zukunftsbilder, ihre Vorstellungen sind sowieso oft sehr bilderarm. Sie sehen vor sich nur die nahende übergroße Katastrophe, und das macht sie wütend.

Aber die wirklich großen Krisen – Migrationsströme, Corona und die aktuellen Kriege – sind doch viel jünger als die AfD. Wie lässt sich diese negative Grundsicht historisch erklären?

Ein Grund dafür ist, dass auch diese Menschen über viele Jahre die neoliberale Entkernung des Staates miterlebt haben, den systematischen Rückbau: Überall gibt es immer weniger Geld, immer weniger Personal. Sie haben oft gar keine positive Erfahrung damit gesammelt, dass ein demokratisches Gemeinwesen in einer Krise funktioniert, dass der Staat bestimmte öffentliche Ressourcen mobilisiert, um eine bessere Welt für alle zu erzeugen. Eine solche positive Erfahrung ist für viele extrem abhandengekommen, und damit auch ein positives Zukunftsbild.

Der Staat ist für diese Leute etwas rein Negatives?

Ja, solche Leute sehen den Staat und die Demokratie nicht als Problemlöser an, sondern selbst als Problemverursacher. Deshalb muss aus ihrer Sicht der Staat, die Demokratie auch nicht erhalten werden. Diese Leute sehen nur noch einen übergriffigen Staat und Parteien, die sich in endlosen Fehden zerfleischen.

Aber warum wählen sie dann überhaupt noch, wenn alles keinen Zweck mehr hat?

Es ist oft widersprüchlich. Einerseits sind sie vom nahen Untergang überzeugt und brauchen diese Vorstellung für ihre Weltsicht, andererseits wählen sie doch.

Und warum die AfD?

Eine wichtige Rolle spielt sicherlich, dass sie die aktuellen Verhältnisse grundlegend ablehnen und die AfD für sie dazu beiträgt, die aus ihrer Sicht negative Gegenwart zu beenden.

Für viele AfD-Wähler droht also die Apokalypse. Der frühere Brandenburger AfD-Chef Andreas Kalbitz sagte mal: „Die AfD ist die letzte evolutionäre Chance für dieses Land. Danach kommt nur noch: Helm auf“. Er meint, dann beginnt der große Endkampf. Trifft es das in etwa?

Auf solche Bilder bin ich in meinen Interviews auch immer wieder gestoßen. Diese Sichtweisen sind ein Rückgriff auf vormoderne Zeiten, und dieser Bezug auf allseits bekannte urchristliche Endzeitbilder macht die Sache heute so anschlussfähig. Das passt auch zu dem Bild des rechtskonservativen Theoretikers und späteren NSDAP-Mitglieds Carl Schmitt, ein intellektueller Wegbereiter der Nazis. Er brachte damals folgendes Bild in den Diskurs ein: Die Gesellschaft, wie wir sie kennen, ist am Ende, ist nicht reformierbar, deshalb müssen wir den Notfall ausrufen. Damit rechtfertigen wir dann alle möglichen Eingriffe in die Freiheiten. Und wir, als kleine Elite der Wissenden, sind die letzte Kraft, die den Untergang noch aufhalten kann. Und wenn ein Notstand ausgerufen werden muss, kann aus Sicht von Endzeitfanatikern auf Befindlichkeiten wie die Demokratie oder Pluralismus keine Rücksicht mehr genommen werden. In Notstandszeiten wird notfalls mit Gewalt durchregiert.

Andererseits gab es doch immer Rechtsextremisten oder radikale Waffennarren wie die Wehrsportgruppe Hoffmann. Was ist heute anders?

Die planten damals den Aufstand heimlich im Keller oder trainierten im Wald. Einerseits waren sie damals schon krass vernetzt, anderseits eben nicht mehrheitsfähig. Solche Gruppen gibt es auch heute noch, aber heute kommt dazu, dass Endzeitvorstellungen immer tiefer in die Gesellschaft einsickern. Und wenn die AfD mancherorts auf 30 Prozent und mehr kommt, dann stehen die nicht am Rand, sondern erreichen die Kernzonen der Demokratie.

Geht der Wunsch dieser Leute in Richtung Diktatur?

Da wäre ich vorsichtig. Wir erleben keine Wiederkehr der Geschichte. Und auch bei der AfD ist nicht zu sehen, dass es auf die Diktatur einer charismatischen Führerfigur hinausläuft. Dann wäre eine solche Bewegung bei unserer Vorgeschichte auch nicht so erfolgreich. Im Kern hat die AfD eben auch libertäre Ansätze. Trotz Endzeitstimmung und Notstand will man nicht diesen einen Führer installieren, sondern eher den Staat loswerden oder schwächer machen.

Zum Beispiel der Protest gegen Robert Habecks sogenanntes Heizungsgesetz. Der wurde auch deshalb so groß, weil er von geradezu übersteigerten Freiheitsrufen begleitet wurde; Freiheit nicht als demokratisches Grundrecht, sondern als individuelles Recht. Da heißt es dann: Wir wollen nicht, dass der Staat uns bis in den Heizungskeller hineinregiert. Als großer Feind sind da immer die staatlichen Instanzen. Dazu passen die Endzeitvorstellungen und das Bild der kleinen auserwählten Elite, die übrig bleibt und dann die kleinen Einheiten wie die Familie mit uneingeschränkter Freiheit beherrscht.

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Ist die AfD eine ernsthafte Gefahr für die bundesdeutsche Demokratie?

Ja, die AfD ist eine Gefahr für die Demokratie, dagegen wehrt sich der Staat hoffentlich auch.

Meinen Sie, der Staat soll sich lieber im demokratischen Wettbewerb wehren oder mit einem Verbot? Ist es nicht naiv und politisch gefährlich, eine Verbotsdebatte ausgerechnet vor den drei Wahlen im Osten anzustoßen, wo die AfD in Umfragen die stärkste Partei ist?

Ich denke, dass sich ein demokratischer Staat natürlich gegen nachweislich antidemokratische Kräfte wehren können muss. Die Prüfung eines Verbotes wäre damit allenthalben geboten.

Aber mit einem Verbot würden doch die Wähler nicht verschwinden und vor allem nicht die Probleme?

Ganz genau. Ein solches Verbotsverfahren wäre mit der großen Herausforderung verbunden, dass der öffentliche Diskurs wirklich gut geführt wird, denn da kann ein großer Schaden angerichtet werden. Es kann viel kaputtgehen, wenn die Politik vergisst, dass das kein Allheilmittel ist. Denn die tiefer liegenden sozialen und historisch geerbten Faktoren und die endzeitlichen Einstellungen, die die AfD haben stark werden lassen, wird man auch mit einem Verbot nicht los. Mit gleicher Anstrengung wie an das Verbot müsste die Politik an die wirklich ernsthafte Lösung der Probleme herangehen.

Das Gespräch führte Jens Blankennagel.

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So erklärt sich der Erfolg der AfD: „Ostdeutsche wurden als Schmuddelkinder dargestellt“

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10.03.2024

Die AfD ist die erfolgreichste Parteineugründung der vergangenen Jahrzehnte und für viele eine akute Gefahr für die bundesdeutsche Demokratie. Sie selbst behauptet immer wieder, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen, doch ihre Wähler sehen dies oft anders.

Das hat Philipp Rhein herausgefunden, der stundenlange Gespräche mit Wählern der AfD führte und feststellte: Sie sehen sich als Elite. Im Interview erklärt der Soziologe, warum vor allem die Endzeitvorstellungen vieler Menschen für so viel Auftrieb bei der AfD sorgen und das Naserümpfen des Westens über den Osten falsch und selbstgerecht ist.

Herr Rhein, fast alle reden nur noch über die AfD, Sie aber haben stundenlange Interviews mit 17 ihrer Wähler geführt. Warum?

Ich wollte nicht über die AfD an sich schreiben oder ihre Ideologie oder ihre Politiker. Mich hat interessiert, was sich anhand des Phänomens der AfD über die Zustände in unserer Gesellschaft sagen lässt: Ich habe die unsichtbaren Wählerinnen und Wähler zum Thema gemacht, keine aktiven Funktionäre oder Leute, die irgendwie engagiert sind, sondern quasi die Wald-und-Wiesen-Wähler. Ich wollte ergründen: Was ist in dieser Gesellschaft los, welche Debatten prägen sie, welche grundlegenden Konflikte unserer Gesellschaft sind es, die für den Erfolg dieser rechtspopulistischen Partei sorgen. Welche biografischen Gründe gibt es, dass sie diese noch recht junge Partei wählen?

Beschreiben Sie uns doch bitte mal den klassischen AfD-Wähler.

In allen Studien wird klar: Da gibt es kein eindeutiges Profil, denn in den vergangenen zehn Jahren hat diese Partei etliche Transformationen vollzogen. Damit gibt es auch ein breit gefächertes Bild bei den Wählerinnen und Wählern. Aber es gibt zwei Faktoren, die in der AfD-Wählerschaft überproportional vorzufinden sind: Männer und Ostdeutsche. Das heißt: Männer mittleren Alters in Ostdeutschland wählen statistisch häufiger AfD, als das in dieser Altersgruppe im Westen der Fall ist. Gleichzeitig sind aber auch bei der AfD die mitgliederstärksten Landesverbände weiterhin im Westen. Es gibt also kein eindeutiges, einfaches Bild.

Warum gibt es bei der AfD so krasse Zustimmungsunterschiede, selbst in räumlich nahen Gebieten? Warum bekommt sie zum Beispiel bei Umfragen in Berlin 13 Prozent Zustimmung, in Brandenburg aber 30 Prozent?

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass die AfD in ländlichen Regionen stärker abschneidet als in Städten. Je ländlicher eine Region, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die AfD dort stark ist. Das trifft zum großen Teil auch auf Brandenburg zu, aber eben auch nicht immer.

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•vor 10 Min.

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gestern

Genau: In Cottbus, immerhin eine Großstadt mit 100.000 Einwohnern, holte die AfD bei der bislang letzten Landtagswahl beide Direktmandate, wie kommt das?

Cottbus und die Lausitz sind noch einmal sehr speziell. Dort verlaufen die unglaublich starken ostdeutschen Transformationsprozesse wie unter einem Brennglas. Nach dem Ende der DDR wurden viele Kohlegruben und Kraftwerke geschlossen, die verbliebene Industrie wurde massiv umgebaut. Die Massenarbeitslosigkeit war gravierend, ebenso die Verunsicherung und Wut. Nun kommt der Kohleausstieg, die zweite ganz große Transformationswelle, die erhebliche Einschnitte bringt und wieder mit Verunsicherung und Wut verbunden ist. Da kann die Kohle-Partei AfD punkten.

Was ist Ihre Erklärung für die unterschiedliche Stärke der AfD in Ost und West?

Da kommt man nicht umhin, die große Transformationsgeschichte der vergangenen 35 Jahre zu betrachten. Es geht auch um die Gesellschaftserfahrungen, die in der DDR prägend waren. Es war eine stark nivellierte, gleichförmigere Gesellschaft ohne Arm und Reich, eine Gesellschaft, die viel stärker um die Arbeit strukturiert und ethnisch homogener war. Im Westen gab es viel mehr Unterschiede. Die Gesellschaft ist zwar vom Mittelstand dominiert, aber es gibt Arm und Reich und viel mehr Migration.

Diese unterschiedlichen Gesellschaften prallten nach dem Mauerfall aufeinander, es gab schlagartige Erschütterungen und Verwerfungen, dazu kam eine Entwertung des vorherigen Lebens in der DDR. Die 1990er-Jahre waren geprägt von einer extrem liberalen Wirtschaft und Massenarbeitslosigkeit, dann folgte........

© Berliner Zeitung


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