Immer wieder sagen Fachleute, dass wir das wahre Glück in den kleinen Dingen des Alltags suchen sollen. Neulich hörte ich die Geschichte eines Moskauer Bauarbeiters, der Kieselsteine in der linken Hosentasche trägt, und wenn er etwas Schönes erlebt, packt er einen Stein in die rechte Tasche. Abends im Bett nimmt er zwei Kiesel aus der rechten Tasche und denkt an die Dinge, an die sie ihn erinnern sollen, das Zwitschern der Amseln, der Kaffee mit der Kollegin. Er schläft zufriedener ein.

So einfach ist das. Aber es ist auch schwer. Ich habe längst alle blühenden Bäume im Kiez bestaunt und allen Vögeln gelauscht. Aber wir müssen ja nicht alles dem Zufall überlassen. An unserem freien Tag sagt mein Sohn, dass er nur einen Plan für den Tag hat: abends Fußball schauen. Ich sage: „Lass uns vorher ins Stadion gehen.“

Das einzige Spiel in Fußnähe ist Sparta Lichtenberg gegen SC Staaken, Rot-Weiß gegen Blau-Weiß, Ost gegen West – fast wie bei den großen Berliner Klubs. Ich habe zehnmal weniger Ahnung von Fußball als mein Sohn, aber ich weiß, warum ich zu Sparta will. Ich liebe Prag und die bekannteste Mannschaft dort heißt Sparta. Dazu Rot-Weiß, die Farben jenes Klubs, von dem ich als Zehnjähriger mal ein paar Monate lang Fan war: HFC, der Klub unserer damaligen Bezirksstadt Halle.

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Wir gehen nun also zu Sparta, und mein Sohn muss nicht mal Eintritt bezahlen. Es läuft bereits 15 Minuten, wir sind noch gar nicht am Spielfeldrand, da hat Staaken den Führungstreffer geschossen. Wir gehen erst mal zur Wurstbude: Die Würste sind nicht diese vorgegrillten, die schon stundenlang rumliegen und ganz schrumpelig sind. Das fachkundige Urteil des Sohnes: „Die beste Bratwurst meines Lebens.“ Der erste Kiesel kann die Hosentasche wechseln.

Auf dem Spielfeld läuft es ab jetzt prächtig, die Tore fallen fast im Viertelstundentakt. Daran ändert sich auch nichts, als die Gegner jemanden mit dem legendären Namen Boateng einwechseln. In der Halbzeit gibt’s noch eine Wurst, und zum Schluss steht es 6:1 für Sparta. Mein Sohn, der Fachmann, sagt: „Je niedriger die Spielklasse, desto mehr Tore.“ Gut, dass wir die 5. Liga erwischt haben.

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Wir marschieren nach Hause, und ich zähle in Gedanken die kleinen Kiesel des Glücks in meiner Hosentasche. Es sind viel mehr als bei dem Moskauer Bauarbeiter: Wir hatten gleich vier weltbeste Würste, dazu sieben Tore, und wir haben auch noch einen Fußballer live gesehen, der den gleichen Namen trägt wie ein früherer Nationalspieler. Dazu kommt noch ein prachtvoller Sonnenschein und richtig gute Laune. Und auf dem Rückweg singen auch noch Amseln.

QOSHE - Die Kieselsteine des Glücks: Sieben Tore, vier Würste und dann noch ein Boateng - Jens Blankennagel
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Die Kieselsteine des Glücks: Sieben Tore, vier Würste und dann noch ein Boateng

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22.03.2024

Immer wieder sagen Fachleute, dass wir das wahre Glück in den kleinen Dingen des Alltags suchen sollen. Neulich hörte ich die Geschichte eines Moskauer Bauarbeiters, der Kieselsteine in der linken Hosentasche trägt, und wenn er etwas Schönes erlebt, packt er einen Stein in die rechte Tasche. Abends im Bett nimmt er zwei Kiesel aus der rechten Tasche und denkt an die Dinge, an die sie ihn erinnern sollen, das Zwitschern der Amseln, der Kaffee mit der Kollegin. Er schläft zufriedener ein.

So einfach ist das. Aber es ist auch schwer. Ich habe längst alle blühenden Bäume im Kiez bestaunt und allen Vögeln gelauscht. Aber wir müssen ja nicht alles dem Zufall überlassen. An unserem freien Tag sagt mein Sohn, dass er nur einen Plan........

© Berliner Zeitung


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