Berlin ist keine Stadt, Berlin ist eine Ansammlung von Dörfern und Kiezen. Früher hieß es: Damit ein Dorf lebendig ist, braucht es drei Dinge: Schule, Kirche, Kneipe. Doch nicht nur in Brandenburg oder Bayern müssen viele Dörfer schon lange ohne Schule und Pfarrer auskommen – und nun auch immer öfter ohne Kneipe. Immer mehr Orte werden zu „Schlafdörfern“.

Ohne Kneipe fehlen nicht nur Orte zum Essen und Trinken, sondern Orte zum Genießen, Feiern und Reden; Orte der Geselligkeit, des sozialen Zusammenseins.

Berlin ist anders. Gerade weil es aus so vielen ehemaligen Dörfern besteht, ist Berlin auch die Hauptstadt der gastronomischen Vielfalt. Jeder Kiez ein eigenes Dorf rund um die Kirche, auch deshalb kommt Berlin auf 21.000 Gastrobetriebe. Nun aber ist der Januar 2024 vorbei, der Schreckensmonat für Wirte, der Monat der Mehrwertsteuererhöhung. Die Ampel hat die Steuer um zwölf Prozentpunkte auf 19 Prozent erhöht. Jene Steuer, die in der Pandemie extra gesenkt wurde, damit die Gastronomie überlebt. Nun fürchtet die Branche eine Pleitewelle.

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Kommt das Kneipensterben auch nach Berlin? „Aufgrund der hohen Kostensteigerungen und der Mehrwertsteuererhöhung machen wir uns große Sorgen, dass eine Vielzahl von Betrieben schließen muss“, sagt Berlins Verbandschef Thomas Lengfelder. Doch die Dehoga habe noch keine aktuellen Zahlen. Deshalb soll das Problem der ganzen Branche anhand eines Berliner Innenstadtkiezes erzählt werden: des Samariterviertels in Friedrichshain.

Eigentlich ist das Viertel mit seinen 22.000 Einwohnern zu groß für ein Dorf, und doch ist es so ähnlich: Die Bewohner haben alles, was sie brauchen: einen Park, Bahnhöfe, zwei Schulen, Supermärkte, viele kleine Läden. Alles wird überragt von der Samariterkirche. Und es gibt Dutzende Restaurants, Cafés, Kneipen, Imbisse, Bars.

01.02.2024

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30.01.2024

31.01.2024

Zum Beispiel Die Kaffeefreunde, ein wunderbarer Ort für einen Kurzausstieg aus der Großstadthektik. An der Tür des Cafés steht: „Sorry, kein Wifi. Unterhaltet euch!“ Drinnen ist alles, wie es sein soll: Die Gäste trinken Kaffee und reden oder lesen. Die chillige Loungemusik wird nur vom Klappern der Löffel übertönt oder dem Zischen der Kaffeemaschine.

Es ist sofort zu sehen, wer hier der Chef ist. Passenderweise trägt Oliver Koster an diesem Nachmittag den Schriftzug „Boss“ auf seiner Brust. Mit seinem durchtrainierten Körper könnte er auch Fitnesstrainer sein, ist aber ein Gastromensch durch und durch: Er lächelt einladend, ist höflich, spricht dezent. Seit nunmehr 20 Jahren ist der 42-Jährige im Geschäft, erst als Angestellter, dann erfüllte er sich 2016 seinen Traum: ein eigenes Café.

Er sagt: „Natürlich mussten wir die Steuererhöhung auf die Preise umlegen, sonst könnten wir unsere Rechnungen nicht bezahlen.“ Es kommen nun weniger Leute, vielleicht 30 Prozent. Trotzdem öffnet er jeden Tag, steht morgens um 7 Uhr im Großmarkt und schließt um 19 Uhr das Café ab, zwölf Stunden jeden Tag. Das Privatleben komme zu kurz, seine Frau, die beiden Kinder. Auf die Frage, wie sich die miese Lage ganz konkret auswirke, sagt er. „Dieser Januar ist schon sehr speziell. Ich werde mir als Chef diesen Monat kein Gehalt auszahlen können.“

Ein Gast kommt herein. Da sein Kellner beschäftigt ist, steht er auf und macht den nächsten Kaffee. Die Handgriffe sitzen, er schenkt die Milch so geschickt ein, dass das dunkle Getränk vom schaumigen Bild einer hellen Blume geziert wird. Er sagt: „Die Lage ist ernst, die Stimmung ist mies, aber aufgeben werden wir nicht so schnell.“

Aufgegeben haben schon viele. Das Kneipensterben grassiert schon ewig: 2001 gab es bundesweit noch 249.000 Betriebe im Gastgewerbe, 20 Jahre später waren es nicht mal 187.000 – ein Minus von 25 Prozent. Die aktuellsten Zahlen stammen von 2021. Da fehlen noch die Pleiten nach der Pandemie, es geht um geschätzt 30.000 Schließungen.

Das schleichende Sterben ist auch im Samariterkiez zu erkennen. In der Coronazeit bekam die Branche Hilfsgelder und kaum jemand musste schließen. Aber aktuell hängen gleich an zwei Gastwirtschaften frische Schilder mit der Aufschrift: „Mieter gesucht.“ Es waren keine kleinen Imbisse, an denen die meisten sowieso vorbeirennen. Es war eine große Eckkneipe und ein gut besuchtes Café an einem Spielplatz.

Noch ist dieser Kiez von der typischen Berliner Vielfalt geprägt: Am Donnerstag sind dort 93 gastronomische Orte in Betrieb: 29 Imbisse, 24 Restaurants, 16 Cafés, neun Kneipen, der Rest sind Eisdielen, Bars, Spätis und eine Bowlingbahn. Das ist genau jener Luxus, der Berlin von anderen Städten unterscheidet. Doch auch hier ist die Schließungsquote beachtlich: 17 Läden sind dicht, nur zwei waren Imbisse, alles andere sind Cafés und Restaurants. Von einem Steakhaus sind nur die Aufkleber an den Fenstern übrig: „Jubiläum 25 Jahre“. Vor der Tür des Pho Vietnam, einem einst beliebten Mittagsrestaurant, liegt eine dreckige Matratze.

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Oliver Koster von den Kaffeefreunden schaut in die Küche. Dort schneidet die Köchin Marina eine Avocado auf und bestreut eine Hälfte mit ihrer speziellen Gewürzmischung. Es wird ein vegetarisches Frühstück, mit Guacamole, Hummus und Marmelade, alles selbstgemacht. „Das kostet 12,90 Euro“, sagt der Boss. „Anfangs waren es 8,90 Euro.“ Vorn im Gastraum zeigt er auf die Tafel mit den Preisen: Cappuccino 3,50 Euro. „Angefangen haben wir mit 2,30 Euro.“ Er rechne die Preise noch immer in DM um und bekomme jedes Mal einen Schreck: 7 Mark für eine Tasse. „Die Preise haben wir nicht freiwillig erhöht, ich habe definitiv keinen Ferrari vor der Tür.“ Er schüttelt den Kopf und macht den nächsten Kaffee.

Dabei erzählt er von den Mieten, erzählt von einem Imbiss. „Gerade mal zehn Quadratmeter, kein Gastraum, sondern eine Art Fensterverkauf. Aber weil er guten Umsatz macht, verlangt der Vermieter 3800 Euro.“ Er selbst ist hier damals in einen günstigen Fünf-Jahres-Vertrag eingestiegen. Als der ablief, wollte der Vermieter 50 Prozent mehr. „Ich konnte auf 40 runterhandeln.“ Eine Kneipe in der Nähe ist wegen solch einer Erhöhung ausgezogen. „In diesem Frühjahr sind wieder fünf Jahre um. Ich weiß nicht, wie hoch die Miete steigen soll.“ Aber er sei an der Belastungsgrenze, 40 Prozent mehr seien nicht drin. „Das wäre das Ende.“

Er wäre verschuldet. Er musste 30.000 Euro Ablöse zahlen, dazu die große Kaffeemaschine, die allein fast 20.000 Euro gekostet habe. Er könne sich auch keinen neuen Laden in Berlin mieten, überall sei es teuer. Außerdem lebt er vom Stammpublikum, das er sich erst erarbeiten musste. „Das kann ich nicht mit nach Brandenburg aufs Dorf nehmen, wo die Mieten vielleicht noch bezahlbar sind“, sagt er und bringt ein Nachmittagsfrühstück zu einem Gast.

An der Wand schaut Albert Einstein von einer Tafel. Dort steht dessen Spruch: „Es gibt viele Wege zum Glück. Einer davon ist, aufhören zu jammern.“ Oliver Koster lacht. „Es wäre schön, wenn das derzeit möglich wäre.“ Er kenne viele in der Branche, fast alle jammern. Nur die großen Ketten wie McDonald’s oder Burger King kämen mit der Steuererhöhung klar. „Aber alle Gastwirte, die nur einen Laden betreiben, haben Probleme.“ Er sagt es recht leise, denn es kommt doch noch ein Gast. Er steht auf: „Arbeit. Wunderbar.“

Der Januar ist immer hart: Nach dem Rausch der vielen Weihnachtsfeiern im Dezember folgt die große Flaute. Dieses Jahr besonders. Ganz früher hieß es, dass eine Dorfkneipe mit fünf Säufern am Abend irgendwie überleben kann, aber die Zeiten sind längst vorbei. In diesem Januar sind viele Läden noch leerer. Die beiden Pizzerias im Kiez – eine immerhin unter den Top 100 weltweit – sind meist auch abends voll. Am Mittwoch um 22 Uhr sitzen dort nicht mal ein halbes Dutzend Gäste. In der Wikingerbar trinken zwei Männer Bier, beim Koreaner sitzt ein Pärchen, beim Inder nebenan ein Gast und in der Bierkneipe Mikes im T hocken zwei Männer an den Spielautomaten. Dieser Januar ist hart. Am Donnerstag ist immerhin in den Kneipen mehr los. Das Wochenende naht. Berlin ist noch kein Schlafdorf.

Lange Zeit boten viele Wirte mindestens eine Speise für unter zehn Euro an. Das war für etliche Gäste eine magische Grenze. Inzwischen kosten selbst Döner sieben Euro und ein echtes Wiener Schnitzel 35 Euro. Essengehen wird Luxus. Wer nach Gerichten unter zehn Euro sucht, wird aber auch im Samariterkiez fündig. Etwa im Thai Curry. Dort kocht Tu Tran und zeigt auf die Karte: Die Spezialität des Hauses heißt Pad Pao. Vor drei Jahren war es ihr Sommerspezial und kostete mit Hühnchen 7,80 Euro, nun 9,20 Euro. Und da ist die höhere Steuer noch nicht dabei.

Der 34-Jährige geht in die Küche, dreht die Flamme am Herd hoch und schüttet Öl in den Wok. Erst als es richtig heiß ist, kommt reichlich Gemüse dazu: Paprika, Zucchini, Pilze, Brokkoli, Pak Choi, Möhren, Sojasprossen, Bohnen, Spitzkohl, Zwiebeln, Zitronengras, Lauch, Limonenblätter, Galgant. Es brutzelt, es zischt. Er rührt, gibt Sambal Oelek dazu, Knoblauch und Hähnchen. Er rührt. Ein wenig von der selbstgemachten Hühnerbrühe dazu, Salz, Zucker, Fischsoße, Chili, zwei unterschiedliche Sojasoßen. Rühren, reduzieren, warten. Zum Schluss einen Hauch Mehl an die Soße zum Abbinden. Nach 3,52 Minuten ist das Essen fertig. Tu Tran lächelt.

Nicht nur in dieser Gegend gibt es kaum eine Gaststätte, die die Fernost-Küche so gut, so frisch, so asiatisch serviert – und auch noch so preiswert. „Meine Mutter hängt an den alten Preisen“, sagt er. Und sie hören auf Huyen, die Mutter, denn sie ist schlau. Die heute 60-Jährige fing vor 20 Jahren mit einem kleinen Restaurant im Prenzlauer Berg an. Eine Vietnamesin, die bei einem Thai lernte, Thailändisch zu kochen, weil Vietnamesisch damals noch nicht in war. „Damals war Thailändisch der große Trend“, sagt sie. Dann der größere Laden hier, passend für einen Familienbetrieb mit Vater, Mutter, zwei Söhnen.

Nun grübeln sie, wann sie die Preise erhöhen. „Nicht zu früh“, sagt Tu Tran. „Am Anfang des Jahres kommen viel weniger Gäste, die wollen wir nicht verschrecken.“ Sie dürfen aber auch nicht bis Juni warten, sonst könnte jemand denken, sie hätten schon im Januar erhöht und noch mal im Sommer.

Solche Überlegungen können sie nur wagen, weil die Mutter so schlau war und den Laden vor Jahren gekauft hat. Ihnen droht keine Mieterhöhung. „Das hat uns durch die Pandemie gebracht“, sagt Tu Tran. „Und unsere Stammgäste werden uns auch durch diese Krise bringen.“ Er heizt den Wok wieder an, zwei Bestellungen außer Haus. „Das nimmt immer mehr zu“, sagt er.

Die Steuererhöhung der Ampel wirkt wie eine antisoziale Aktion. Sie gilt für Speisen im Restaurant, nicht aber am Imbiss, auch Lieferdienste profitieren. Sie brauchen keine großen Läden und weniger Personal, sie zahlen weniger Mieten und nun auch weniger Steuern, sie machen mehr Gewinn. Das hat fatale Folgen. Gaststätten verdienen nicht so sehr an den Speisen, sondern an Getränken. Doch sie werden immer mehr zu Orten, an denen manche Leute nur ein- oder zweimal das Essen probieren. Dann bestellen sie nach Hause, aber nur Essen, und den Gaststätten entgeht der überlebenswichtige Gewinn aus den Getränken. Ein Teufelskreis.

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Es ist wie mit dem Kinosterben. Natürlich ist ein Film auf großer Leinwand viel beeindruckender, aber wenn in Krisenzeiten das Monatsabo von Netflix so viel kostet wie ein Kinobesuch, sitzt Deutschland auf der Couch und glotzt Dauerserien. Das Essen dazu wird an die Tür geliefert, und das Sozialleben findet auf dem Handy statt. Und draußen stirbt die Stadt.

Auch das Anastasia ist nicht übervoll. Die Chefs sind usbekischer Abstammung, Männer von ausgesuchter Freundlichkeit, doch niemand sagt, wie viele sie sind. Drei, vier, fünf? „Verraten wir nicht“, sagt Erkin Tashqin, der Chef. „Wer es richtig rät, bekommt ein Gratisgetränk.“ Auf dem Tresen steht nicht nur Merlot aus Frankreich, sondern auch georgischer Wein, nicht nur eine 4,5-Liter-Flasche Johnnie Walker, sondern auch usbekischer Cognac.

Trotz Pandemie, Krieg, Inflation und Steuererhöhung bleibt der 46-Jährige ruhig. Seinen Zehn-Jahres-Mietvertrag muss er erst 2027 neu verhandeln. Es ist noch Luft. Und er punktet mit usbekischer Küche, die selten ist: Spezialitäten wie Plov – ein Reisgericht mit Lamm, Möhren und Rosinen – oder Lagman, spezielle handgemachte Nudeln. „Wir leben zu etwa 70 Prozent von Stammgästen“, sagt der Mann, der physikalische Ingenieurwissenschaften studiert hat. Und das Anastasia ist nicht nur eine Dorfkneipe für den Kiez: Wenn sie hier im März das usbekische Neujahrsfest feiern, kommen Gäste aus ganz Berlin, aber auch aus Braunschweig oder Stuttgart.

Bei anderen im Kiez bröckelt es: Angeblich stand eine Kneipe, die noch geöffnet hat, schon bei Immoscout. Ein Traditionsrestaurant sucht neue Betreiber. Andere wollen die Speisekarte zusammenstreichen, um Personal in der Küche zu sparen. Vielleicht wird das Restaurant zur Bar, denn bei Cocktails ist die Gewinnspanne viel höher als bei Speisen.

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„Wir machen weiter wie bisher“, sagt Tashqin. „Gutes Essen, gute Getränke.“ Aber seit Corona sei alles unberechenbar. Früher waren die Wochenenden voll, er konnte das Personal besser planen. „Jetzt kommen manchmal so wenige, dass der Koch Däumchen drehen kann.“ Oder es sei mitten in der Woche rappelvoll, aber kein Personal da. „Aber ich habe ja meine Brüder.“ Die springen ein. Er muss jeden Tag vorbereitet sein, kein Gast darf enttäuscht werden.

„Ich glaube an die Gesetze der Natur“, sagt Erkin Tashqin, „nach jeder dunklen Nacht kommt ein Tag.“ Er lacht. „Ich bleibe Optimist: Wir haben dieses Jahr eine Fußball-EM, dann ist hoffentlich wieder alles voll und die Leute begreifen wieder, warum sie solche Orte wie uns brauchen.“

Es ist tatsächlich fast wie in einer Dorfkneipe, eine alte Dame zahlt und lässt sich von ihrer Enkelin beim Gehen helfen. Sie sagt zum Chef: „Es hat wieder hervorragend geschmeckt.“ Zwar ist die Gesamtlage mies, aber sie trübt nicht die Freundlichkeit von Erkin Tashqin. Er bedankt sich, reicht zum Abschied die Hand und legt die andere aufs Herz: „Hoffentlich auf bald.“

Dann räumt er den Tisch ab. „Wir sind dazu da, alle anderen glücklich zu machen“, sagt er. „Wir kochen den Gästen tolles Essen, bereiten ihnen einen wunderbaren Abend. Und dem Staat füllen wir mit unseren Steuern die Kassen. Aber wir müssen eben auch selbst davon leben können.“

Eine blonde Frau mit rotem Mantel kommt durch die Tür. Ein Stammgast, Erkin Tashqin begrüßt sie mit usbekischer Herzlichkeit: „Hallo, schön, dich zu sehen. Komm doch bitte herein.“

QOSHE - Berlins Kneipen sterben: „Ich kann mir als Chef diesen Monat kein Gehalt auszahlen“ - Jens Blankennagel
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Berlins Kneipen sterben: „Ich kann mir als Chef diesen Monat kein Gehalt auszahlen“

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03.02.2024

Berlin ist keine Stadt, Berlin ist eine Ansammlung von Dörfern und Kiezen. Früher hieß es: Damit ein Dorf lebendig ist, braucht es drei Dinge: Schule, Kirche, Kneipe. Doch nicht nur in Brandenburg oder Bayern müssen viele Dörfer schon lange ohne Schule und Pfarrer auskommen – und nun auch immer öfter ohne Kneipe. Immer mehr Orte werden zu „Schlafdörfern“.

Ohne Kneipe fehlen nicht nur Orte zum Essen und Trinken, sondern Orte zum Genießen, Feiern und Reden; Orte der Geselligkeit, des sozialen Zusammenseins.

Berlin ist anders. Gerade weil es aus so vielen ehemaligen Dörfern besteht, ist Berlin auch die Hauptstadt der gastronomischen Vielfalt. Jeder Kiez ein eigenes Dorf rund um die Kirche, auch deshalb kommt Berlin auf 21.000 Gastrobetriebe. Nun aber ist der Januar 2024 vorbei, der Schreckensmonat für Wirte, der Monat der Mehrwertsteuererhöhung. Die Ampel hat die Steuer um zwölf Prozentpunkte auf 19 Prozent erhöht. Jene Steuer, die in der Pandemie extra gesenkt wurde, damit die Gastronomie überlebt. Nun fürchtet die Branche eine Pleitewelle.

Warum die Gewinnspanne bei einem 250-Euro-Menü kleiner ist als bei McDonald’s

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Eigentlich ist das Viertel mit seinen 22.000 Einwohnern zu groß für ein Dorf, und doch ist es so ähnlich: Die Bewohner haben alles, was sie brauchen: einen Park, Bahnhöfe, zwei Schulen, Supermärkte, viele kleine Läden. Alles wird überragt von der Samariterkirche. Und es gibt Dutzende Restaurants, Cafés, Kneipen, Imbisse, Bars.

01.02.2024

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30.01.2024

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Zum Beispiel Die Kaffeefreunde, ein wunderbarer Ort für einen Kurzausstieg aus der Großstadthektik. An der Tür des Cafés steht: „Sorry, kein Wifi. Unterhaltet euch!“ Drinnen ist alles, wie es sein soll: Die Gäste trinken Kaffee und reden oder lesen. Die chillige Loungemusik wird nur vom Klappern der Löffel übertönt oder dem Zischen der Kaffeemaschine.

Es ist sofort zu sehen, wer hier der Chef ist. Passenderweise trägt Oliver Koster an diesem Nachmittag den Schriftzug „Boss“ auf seiner Brust. Mit seinem durchtrainierten Körper könnte er auch Fitnesstrainer sein, ist aber ein Gastromensch durch und durch: Er lächelt einladend, ist höflich, spricht dezent. Seit nunmehr 20 Jahren ist der 42-Jährige im Geschäft, erst als Angestellter, dann erfüllte er sich 2016 seinen Traum: ein eigenes Café.

Er sagt: „Natürlich mussten wir die Steuererhöhung auf die Preise umlegen, sonst könnten wir unsere Rechnungen nicht bezahlen.“ Es kommen nun weniger Leute, vielleicht 30 Prozent. Trotzdem öffnet er jeden Tag, steht morgens um 7 Uhr im Großmarkt und schließt um 19 Uhr das Café ab, zwölf Stunden jeden Tag. Das Privatleben komme zu kurz, seine Frau, die beiden Kinder. Auf die Frage, wie sich die miese Lage ganz konkret auswirke, sagt er. „Dieser Januar ist schon sehr speziell. Ich werde mir als Chef diesen Monat kein Gehalt auszahlen können.“

Ein Gast kommt herein. Da sein Kellner beschäftigt ist, steht er auf und macht den nächsten Kaffee. Die Handgriffe sitzen, er schenkt die Milch so geschickt ein, dass das dunkle Getränk vom schaumigen Bild einer hellen Blume geziert wird. Er sagt: „Die Lage ist ernst, die Stimmung ist mies, aber aufgeben werden wir nicht so schnell.“

Aufgegeben haben schon viele. Das Kneipensterben grassiert schon ewig: 2001 gab es bundesweit noch........

© Berliner Zeitung


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