Es ist ein Skandal mit Ansage, eine politische Provokation – und die große Frage ist, ob sie auch dieses Mal funktioniert. Es geht um die AfD, was sonst. Es geht um das bekannte Spiel mit umstrittenen Begriffen. Es geht um die 99. Sitzung des Brandenburger Landtags: Auf der Tagesordnung stehen 15 Punkte, vom Haushaltsgesetz über Fragen des Genderns bis zu Studentenwohnungen. Aber eigentlich dreht sich am Mittwoch alles um Tagesordnungspunkt 4 und der beginnt mit dem Unwort des Jahres. Die AfD fordert: „Remigrationsoffensive jetzt!“

Es ist 13.01 Uhr. Eigentlich sollte die Debatte bald beginnen, doch alles verzögert sich. Im Plenarsaal des Landtags ist es mucksmäuschenstill. Die Ruhe vor dem Sturm? Die Abgeordneten sind in der Pause. Nur drei sitzen noch in den Reihen. Dann wird es lauter, ein SPD-Mann telefoniert und organisiert eine Band für eine Demonstration.

Auch an diesem Wochenende sind überall in Deutschland Demos geplant. Es ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Bislang waren viele junge Leute dabei, die erstmals demonstrieren und vor allem wegen der „Remigrationspläne“ auf die Straße gehen. Selten hat ein Wort eine solche Blitz-Karriere hingelegt: Remigration. Eigentlich umschreibt dieser Fachbegriff die Rückkehr von Migranten in ihre alte Heimat. Inzwischen steht es für die Pläne von Rechtsextremisten, mit denen sie die massenhafte Zwangsrückführung von Ausländern erreichen wollen, von Asylbewerbern, aber auch von „nichtassimilierten“ Einwanderern mit deutschem Pass.

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23.01.2024

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Das Wort stand zwar schon im Dezember 2023 auf der Unwort-Liste, aber einer breiten Öffentlichkeit wurde es erst am 10. Januar bekannt, als das Recherchenetzwerk Correctiv über ein privates Treffen von Rechtsextremen, Unternehmern sowie Politikern von AfD und der Werteunion am Potsdamer Lehnitzsee berichtete. Dort war auch Martin Sellner, ein österreichischer Extremist, lange Jahre Chef der Identitären Bewegung. Er stellte seinen „Masterplan zur Remigration“ vor. Fünf Tage nach dem Bericht wurde es zum Unwort des Jahres gewählt, und am Tag danach stellte die AfD in Brandenburg ihren Remigrationsantrag. Der AfD wird vorgehalten, sie wolle Millionen Menschen zwangsdeportieren.

Bei dem Wort Deportation springt die AfD an. Auch im Brandenburger Landtag. „Von diesem Wort war nie die Rede“, sagt Hans-Christoph Berndt kurz vor der Debatte im Flur. Er ist AfD-Fraktionschef und wird laut Spiegel vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist eingeschätzt. Er sagt: Im Correctiv-Artikel sei das Wort Deportation nie benutzt worden. Die AfD spreche von Remigration und benutze dieses Wort schon lange. Es sei also gar keine Provokation. Berndt behauptet, beinahe jeder, der nach Deutschland komme, dürfe auch bleiben, egal ob er Flucht- oder Asylgründe hat oder ob er falsche Angaben macht. „Das kann nicht so bleiben.“

Er wiederholt auch seinen Satz zur Remigration: „Das ist kein Geheimplan, das ist ein Versprechen.“ Die AfD wolle doch nur, dass die gesetzlichen Regelungen angewendet würden gegen Ausländer, die kein Bleiberecht haben. Alles ganz gesetzeskonform. Er sagt. „Wir gehen jetzt auch mit Abmahnungen und gerichtlich dagegen vor, wenn behauptet wird, es gehe uns um Deportation.“

Da hat die AfD an diesem Tag viel zu tun. Denn das ist der Hauptvorwurf. Als die Abgeordnete Lena Korté den Antrag der AfD vorstellt, beginnt sie mit den Worten: „Der Begriff Remigration ist in aller Munde. Zu Recht.“ Er beschreibe jenen Teil des Migrationsprozesses, bei dem Menschen nach einer beträchtlichen Zeit im Ausland in ihr Heimatland zurückkehren. „Dieser Begriff hat rein gar nichts mit Deportation zu tun.“ Beifall ihrer Leute, Buhrufe der anderen.

Der Saal ist voll. Niemand geht. Das ist durchaus eine Überraschung, denn bislang wurde oft mit reiner Ablehnung auf die AfD reagiert. Doch diese Debatte ist wichtig, sie ist der Auftakt zum Superwahljahr 2024: Europawahl, Kommunalwahlen in neun von 16 Ländern und dann die Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, wo die AfD überall auf Platz eins steht.

Noch am Tag vor der Debatte in Potsdam war nicht klar, wie sich die politischen Gegner verhalten werden. „Wir sind noch in Gesprächen“, sagte Grünen-Fraktionschef Benjamin Raschke. Am nächsten Tag steht er im Treppenhaus mit dem schlohweißen italienischen Marmor und sagt: „Wir gehen nicht raus wie die Kollegen in Berlin.“

Umgang mit der AfD: Wussten Sie, dass die NSDAP im gesamten Deutschen Reich verboten wurde?

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Zwischenruf einer verkorksten Ostseele: Anti-AfD-Bewegung macht AfD stark

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Denn die Aktion der vergangenen Woche wird durchaus als Negativbeispiel im Umgang mit der AfD gesehen. Die Grünen hatten im Berliner Abgeordnetenhaus das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Als AfD-Chefin Kristin Brinker sprach, verließen alle anderen den Saal – außer die AfD. Das war zwar schön symbolisch, wurde aber auch als wenig hilfreich eingestuft. Mal hieß es: Feigheit vor dem Feind, mal hieß es: Der AfD darf nicht einfach kampflos ein hohes Haus der Demokratie überlassen werden.

Vor der Debatte in Potsdam eilt Steeven Bretz von der CDU gerade zu den Fahrstühlen, er will vor der großen Debatte noch in die Kantine. Der parlamentarische Geschäftsführer seiner Fraktion ist gegen rein symbolische Aktionen wie in Berlin: „Ich finde, die klügste Methode, damit umzugehen, ist, genau zuzuhören, was sie exakt sagen, und sich mit diesem Inhalt mit klugen Argumenten auseinanderzusetzen.“ Er macht eine kurze Pause. „Ich finde es völlig falsch, mit rein symbolischen Aktionen den anderen die Möglichkeit zu geben, von ihren Worten abzulenken. Wir sind allesamt stärker, wenn wir die Schärfe des Verstandes ausspielen und nicht die Schärfe der Symbole.“

Ein hoher Anspruch. Denn die Debatte im Landtag muss auch zeigen, wie die anderen Parteien damit umgehen, dass die AfD nicht mehr so schnell wieder weggeht oder in der Bedeutungslosigkeit verschwindet wie die Schill-Partei. Sie müssen Wege finden, sich mit den Gründen für die Erfolge der AfD zu befassen.

Doch auch in Potsdam bleiben symbolische Aktionen nicht aus. Mitten in der Rede der AfD-Abgeordneten stehen die Linken auf, ziehen sich rote Warnwesten an und drehen sich um: Auf der Rückseite steht: „Nie wieder ist jetzt“. Die Parlamentspräsidentin fordert sie auf, das zu lassen. Sie lassen es.

Die meisten Rednerinnen und Redner befassen sich vor allem mit dem Wort Remigration. Sie sagen: Das sei ein Euphemismus, eine Verharmlosung für geplante Zwangsdeportationen. Ursprünglich sei mit dem Begriff die persönliche Entscheidung von Auswanderern gemeint, etwa wenn Türken, die als Arbeitskräfte nach Deutschland geholt wurden, als Rentner wieder in die Türkei zurückkehren. Inzwischen ist es ein politischer Kampfbegriff.

Alle Redner außer der AfD haben den gleichen Tenor: Der SPD-Mann Ludwig Scheetz spricht von einem unsäglichen Antrag, von bewusster Provokation und Grenzüberschreitung. „Ihr Antrag ist ein Frontalangriff auf unsere demokratischen Werte, er ist menschenfeindlich und inhaltlich mehr als dünn.“

Barbara Richstein von der CDU sagt: „Jeder weiß, was die AfD uns sagen möchte: Es geht um Deportation.“ Gesagt werde aber nur Remigration. „Sie möchten dieses Wort salonfähig machen, aber meine Fraktion wird nicht über dieses Stöckchen springen.“

Die Grünen-Abgeordnete Ricarda Budke erinnert an die Herkunft anderer Worte, die ursprünglich auch harmlose Fachbegriffe waren, etwa Euthanasie und Endlösung. „Sprache wird durchtränkt mit Gift“, zitiert sie Victor Klemperer aus dessen Buch über die Sprache im Hitler-Deutschland. Matthias Stefke von den Freien Wählern sagt: „Ihr Antrag ist an Widerwärtigkeit und Geschichtsvergessenheit nicht zu überbieten.“

So geht es weiter: Innenminister Michael Stübgen von der CDU sagt, er sei sehr für schonungslose Debatten, aber die AfD überschreite Grenzen: „Sie wollen aus einem Rechtsstaat einen rechten Staat machen.“ Diesmal geht auch Dietmar Woidke, Ministerpräsident von der SPD, ans Rednerpult: „Nie wieder dürfen Rassisten und Rechtsextremisten unser Land ins Verderben stürzen.“

Zwischen AfD und „Remigration“: Wo zieht’s uns hin, wenn wir wegmüssen?

23.01.2024

Demos gegen die AfD: Widerstand in Brandenburg

23.01.2024

Die von der AfD beklagte Einheitsfront steht. Doch die Debatte geht auch ins Extreme; und überraschenderweise bestraft Parlamentspräsidentin Ulrike Liedke dann einen Linken wegen möglicher Relativierung des Holocausts. Es ist Linke-Fraktionschef Sebastian Walter, der die AfD laut angreift: „Wir werden es nicht zulassen, dass Faschisten uns wieder die Demokratie nehmen.“ Auch 1933 habe es damit begonnen, Menschen zu entrechten. Von den AfD-Bänken kommt der Zwischenruf: „Mauerschützenpartei.“

Walter sagt, die AfD spreche derzeit nur von Flüchtlingen. „Aber sie werden weitermachen.“ Mit Menschen, die anders sind, eine andere Religion haben oder mit politischen Gegnern. „Sie wollen wieder Listen schreiben, sie wollen wieder Menschen abholen“, ruft er unter den Buhrufen der AfD und dem Beifall der Linken.

„Sie wollen doch am Ende selbst an der Rampe stehen und entscheiden, wer leben darf oder wer sterben muss.“ Die AfD nehme millionenfachen Mord in Kauf. „Denn Deportation endet am Ende auch in Vernichtung. Und das wollen sie.“

Auch in anderen Reden ist an diesem Tag immer wieder das Treffen von Rechtsextremisten am Lehnitzsee vom November 2023 mit der Wannseekonferenz von 1942 verglichen worden. Dort hatten führende Vertreter der NS-Regierung und der SS die Deportation von Millionen Juden in ganz Europa geregelt. Auch deshalb spricht die Präsidentin nun dem Redner der Linken einen Ordnungsruf aus: „Wenn Sie die Ereignisse am Lehnitzsee vergleichen mit der Wannseekonferenz, dann beschönigen Sie das, was damals geschehen ist. So weit dürfen Sie nicht gehen.“

Ein Abgeordneter aus dem Koalitionslager von SPD, CDU und Grünen ärgert sich später außerhalb des Saales über den Linken, spricht von einem unnötigen Egotrip. Im Saal sagt Walter zur AfD: „Mit Ihrem Antrag haben Sie bewiesen, dass Sie, die AfD, der Faschismus im neuen Gewand sind.“ Er fordert nicht nur den Aufstand der Anständigen, sondern das Handeln der Zuständigen. „Sie haben bewiesen, dass Ihre Partei verboten gehört.“

In diesem Parlament wird an diesem Tag geredet und gemahnt, argumentiert und analysiert, debattiert und dazwischen gerufen. Der Saal ist so voll wie selten – und es ist laut. Die Abgeordneten klatschen, buhen, schreien und beleidigen sich, mal als Nachfolger der NSDAP, mal als Erben der SED, mal als Lügner, mal als potenzielle Mörder. Aber alles bleibt friedlich. Die Debatte ist trotz aller Polemik und Übertreibungen ein Beispiel für demokratische Streitkultur.

Für die Debatte war ein Zeitfenster von 13.14 bis 13.52 Uhr vorgesehen; sie dauert eine Stunde länger. Dann die Abstimmung: Nur die AfD stimmt für den eigenen Antrag, alle anderen dagegen. Die Präsidentin sagt: „Damit ist der Antrag mehrheitlich abgelehnt.“ Sie holt Luft. „Damit beende ich Tagesordnungspunkt 4. Mein Kollege wird fortsetzen.“

Im Saal ist es kurz ruhig. Alle scheinen erst mal ermattet, die Stille nach der Schlacht. Aber die öffentliche Empörung über die Remigrationspläne ist weiterhin groß. Für dieses Wochenende sind bundesweit etwa 200 Demos angemeldet, dieses Mal vor allem in kleineren Städten. Die Debatte hat die AfD in Umfragen zwar einige Prozente gekostet, aber in den drei relevanten Ostländern steht sie weiter auf Platz eins.

In Potsdam leert sich der Parlamentssaal nun auffällig. Der demokratische Showdown ist vorbei. Aber nur für diesen Tag. Es sind noch genau acht Monate bis zur Landtagswahl.

QOSHE - AfD bringt Remigration ins Parlament – und entfacht demokratischen Schlagabtausch - Jens Blankennagel
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AfD bringt Remigration ins Parlament – und entfacht demokratischen Schlagabtausch

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25.01.2024

Es ist ein Skandal mit Ansage, eine politische Provokation – und die große Frage ist, ob sie auch dieses Mal funktioniert. Es geht um die AfD, was sonst. Es geht um das bekannte Spiel mit umstrittenen Begriffen. Es geht um die 99. Sitzung des Brandenburger Landtags: Auf der Tagesordnung stehen 15 Punkte, vom Haushaltsgesetz über Fragen des Genderns bis zu Studentenwohnungen. Aber eigentlich dreht sich am Mittwoch alles um Tagesordnungspunkt 4 und der beginnt mit dem Unwort des Jahres. Die AfD fordert: „Remigrationsoffensive jetzt!“

Es ist 13.01 Uhr. Eigentlich sollte die Debatte bald beginnen, doch alles verzögert sich. Im Plenarsaal des Landtags ist es mucksmäuschenstill. Die Ruhe vor dem Sturm? Die Abgeordneten sind in der Pause. Nur drei sitzen noch in den Reihen. Dann wird es lauter, ein SPD-Mann telefoniert und organisiert eine Band für eine Demonstration.

Auch an diesem Wochenende sind überall in Deutschland Demos geplant. Es ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Bislang waren viele junge Leute dabei, die erstmals demonstrieren und vor allem wegen der „Remigrationspläne“ auf die Straße gehen. Selten hat ein Wort eine solche Blitz-Karriere hingelegt: Remigration. Eigentlich umschreibt dieser Fachbegriff die Rückkehr von Migranten in ihre alte Heimat. Inzwischen steht es für die Pläne von Rechtsextremisten, mit denen sie die massenhafte Zwangsrückführung von Ausländern erreichen wollen, von Asylbewerbern, aber auch von „nichtassimilierten“ Einwanderern mit deutschem Pass.

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23.01.2024

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Das Wort stand zwar schon im Dezember 2023 auf der Unwort-Liste, aber einer breiten Öffentlichkeit wurde es erst am 10. Januar bekannt, als das Recherchenetzwerk Correctiv über ein privates Treffen von Rechtsextremen, Unternehmern sowie Politikern von AfD und der Werteunion am Potsdamer Lehnitzsee berichtete. Dort war auch Martin Sellner, ein österreichischer Extremist, lange Jahre Chef der Identitären Bewegung. Er stellte seinen „Masterplan zur Remigration“ vor. Fünf Tage nach dem Bericht wurde es zum Unwort des Jahres gewählt, und am Tag danach stellte die AfD in Brandenburg ihren Remigrationsantrag. Der AfD wird vorgehalten, sie wolle Millionen Menschen zwangsdeportieren.

Bei dem Wort Deportation springt die AfD an. Auch im Brandenburger Landtag. „Von diesem Wort war nie die Rede“, sagt Hans-Christoph Berndt kurz vor der Debatte im Flur. Er ist AfD-Fraktionschef und wird laut Spiegel vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist eingeschätzt. Er sagt: Im Correctiv-Artikel sei das Wort Deportation nie benutzt worden. Die AfD spreche von Remigration und benutze dieses Wort schon lange. Es sei also gar keine Provokation. Berndt behauptet, beinahe jeder, der nach Deutschland komme, dürfe auch bleiben, egal ob er Flucht- oder Asylgründe hat oder ob er falsche Angaben macht. „Das kann nicht so........

© Berliner Zeitung


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