Es ist Sonntag, der 3. Dezember 2023. In einem Studio des Fernsehsenders Keshet 12 nahe Jerusalem wird eine weitere Folge des Castingformats „HaKokhav HaBa – The Next Star“ aufgenommen. Seit einigen Jahren werden in dieser Nachwuchsshow Israels Vertreter für den Eurovision Song Contest ermittelt. Die Studioaufzeichnung findet ganz ohne Publikum statt, die derzeitige Sicherheitslage im Land lässt keine größeren Veranstaltungen zu. Lediglich sechs Jurorinnen und Juroren bewerten die einzelnen Auftritte.

Mit dabei an diesem Tag ist der 26-jährige Shaoli Grinlik. Als Soldat der israelischen Armee tritt er in Uniform vor das Mikrofon. Sein Vortrag in hebräischer Sprache gefällt der Jury, er kommt eine Runde weiter. Tage später wird die Liste der Teilnehmenden für die nächste Runde veröffentlicht, Grinliks Name ist nicht dabei, er ist kurz nach seinem Auftritt bei den Kämpfen gegen die Terrorgruppe Hamas getötet worden.

Seit dem brutalen Angriff von Hamas-Terroristen auf Israel am Morgen des 7. Oktober herrscht Krieg im Land und im Gazastreifen, und viele Israelis fragen sich, ob in dieser Situation noch Platz ist für eine Musiksendung wie diese Castingshow, die normalerweise über drei bis vier Monate läuft und bis zu 40 Sendungen umfasst. Vor allem die Angehörigen der Hamas-Geiseln protestieren dagegen, der Beginn der Showaufzeichnungen wird immer wieder verschoben. Trotzdem bleibt der Sender bei seinen Plänen, die Moderatoren der Sendung, Rotem Sela und Assi Azzar, äußern sich dazu öffentlich: „Nach vielen Wochen (…) haben wir das Gefühl, dass es an der Zeit ist, durchzuatmen und sich mit etwas anderem zu trösten. Wir sind überzeugt, dass Musik von allen Dingen auf der Welt der einfachste und beste Weg ist, um uns zu verbinden und aufzumuntern. Es wird keine normale Staffel sein, sie wird der Situation angepasst, aber wir sind sicher, dass ein bisschen Musik nur helfen kann.“

•heute

14.01.2024

12.01.2024

•gestern

14.01.2024

Erfolglose Jahre: Warum die deutschen ESC-Beiträge so schlecht abschneiden

14.05.2023

Absage: ESC-Vorentscheid ohne Jan Böhmermann

22.11.2023

Diese Erklärung überzeugt nicht alle, Einwände und Vorbehalte bleiben. Aber nicht nur in Israel selbst, auch aus dem Ausland werden zunehmend kritische Stimmen laut. In Island fordert die Vereinigung isländischer Komponisten und Lyriker (FTT) den isländischen Rundfunk RÚV auf, keinen Beitrag zum ESC zu entsenden, falls Israel daran teilnimmt. Das Land befinde sich derzeit im Krieg und müsse ebenso boykottiert werden wie Russland, das seit zwei Jahren wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine beim ESC nicht willkommen ist. Demonstranten überreichten dem RÚV-Intendanten eine entsprechende Petition, unterzeichnet von mehreren Tausend Menschen. Doch der Sender lässt sich nicht umstimmen, einen Boykott werde es nicht geben.

In Irland ist es ein Abgeordneter der Labour Party, Aodhán Ó Ríordáin, der öffentlich dazu auffordert, den ESC zu boykottieren, falls Israel dort auftrete. Irland sei das erfolgreichste Land in der Geschichte des ESC und finde sicher Gehör bei den anderen Teilnehmerländern, die dann ebenfalls dem Festival fernbleiben würden. „Wenn der ESC wegen der Teilnahme Israels nicht stattfindet, dann ist das eben so“, verkündet er selbstbewusst. Der Premierminister des Landes, Leo Varadkar, hält dagegen: „Etwas einseitig zu boykottieren, nur weil Israel dabei ist, bedeutet für mich, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.“ Mit einem Boykott könne man die Menschen ausgrenzen und entfremden, mit denen man eigentlich zusammenarbeiten müsse.

Es sind just diese beiden Länder, in denen 2019 schon einmal Stimmen laut wurden, Israels ESC-Teilnahme zu verhindern. Ohne Erfolg und ohne Resonanz, außer einer Geldstrafe für Island, da die Musiker der isländischen Band Hatari während der Punktevergabe die palästinensische Flagge in die Kamera hielten. Dafür gab es Buhrufe in der Halle, und der Sender RÚV musste 5000 Euro zahlen, eine Strafe am unteren Rand der möglichen Sanktionen des ESC-Veranstalters, der Europäischen Rundfunkunion (EBU).

Aber auch aus Finnland kommt Protest, über 1400 Personen aus der finnischen Musikindustrie haben eine Petition zum Ausschluss Israels vom diesjährigen Festival unterzeichnet. Sollte Israel dennoch teilnehmen, müsse Finnland dem ESC fernbleiben. Auch Jesse Markin, ein Teilnehmer beim finnischen Vorentscheid, hat bereits seine Kritik öffentlich geäußert. Sollte er gewählt werden, sein Land beim ESC zu vertreten, werde er nur daran teilnehmen, wenn Israel fernbleibt. „Dabei sollte man nicht nur auf seine eigene Stimme hören, sondern auch auf die Stimme des Volkes, denn in dieser Situation und bei diesem speziellen Thema weiß ich, dass viele Menschen mit mir übereinstimmen“, teilt er auf Instagram mit.

Weitere Künstlerinnen und Künstler aus dem ESC-Universum äußern sich vor allem in den sozialen Netzwerken kritisch zu einer Teilnahme Israels. Montaigne, die Australien 2021 beim ESC vertrat, fordert, dass Israel wegen der anhaltenden Bombardierung des Gazastreifens von der Teilnahme ausgeschlossen wird. „Israel hat zahlreiche grausame Gräueltaten begangen, die nicht zum Geist der Eurovision gehören.“ Ähnliches auch von La Zarra, der Vertreterin Frankreichs im vergangenen Jahr: „Lassen Sie uns Israel von diesem Wettbewerb ausschließen, so wie Russland wegen seiner Gräueltaten ausgeschlossen wurde“, fordert sie ihre Fans auf.

In dieser Liste der Kritikerinnen auch mit dabei Margaret Berger, die 2013 für Norwegen an den Start ging. Sie äußert sich besorgt über eine Teilnahme Israels und unterstützt damit eine israelkritische Demonstration in Oslo.

Eurovision Song Contest: Deutschland wird wieder Letzter, Schweden gewinnt

14.05.2023

Seit 100 Tagen Hamas-Geisel: „Die Vorstellung, dass sie vergewaltigt wird, raubt uns den Schlaf“

gestern

In Großbritannien ist es der bereits für 2024 gekürte Act Olly Alexander, der seine Haltung kundtut. Der schwule Sänger unterzeichnete eine propalästinensische Erklärung eines queeren Bündnisses, in der die Ereignisse in Gaza als „Eskalation des Apartheid-Regimes Israels“ bezeichnet werden. Umgehend meldet sich dazu die israelische Botschaft in London zu Wort: „Vor allem in diesen Zeiten ist die Entscheidung der BBC, einen Teilnehmer zum ESC zu schicken, der solche parteiischen Ansichten zu Israel unterstützt und eine derart entmenschlichende Sprache für Israelis verbreitet, ein großer Grund zur Sorge.“

Trotz der vielen Proteste hat die EBU eine Erklärung veröffentlicht, in der sie bekräftigt, Israel nicht vom ESC auszuschließen. „Der Eurovision Song Contest ist ein Wettbewerb für öffentliche Rundfunkanstalten aus ganz Europa und dem Nahen Osten. Es handelt sich um einen Wettbewerb für Rundfunkanstalten – nicht für Regierungen – und die israelische Rundfunkanstalt nimmt seit 50 Jahren am Wettbewerb teil.“ Die leitenden EBU-Organe hätten festgestellt, dass die israelische Rundfunkanstalt alle Wettbewerbsregeln einhalte. Zu den Vergleichen mit einem Ausschluss Russlands vom Wettbewerb heißt es weiter: „Im Jahr 2022, nach dem Einmarsch in die Ukraine, beschlossen die EBU-Gremien, Russland vom Eurovision Song Contest auszuschließen, wo es neben der Ukraine antreten sollte. (…) Nach wiederholten Verstößen gegen die Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft und gegen die Werte der öffentlich-rechtlichen Medien wurde Russland suspendiert.“

Israel nimmt seit 1973 am Wettbewerb teil und ist immer wieder ein Problemfall im Sendeverbund der derzeit 68 Rundfunkanstalten in 56 Staaten Europas, Nordafrikas und Vorderasiens. Bei der ersten Teilnahme einer Vertreterin Israels, die Sängerin Ilanit, waren – ein Jahr nach dem Attentat auf die Olympischen Spiele in München – die Sicherheitsvorkehrungen im Théâtre Municipal in Luxemburg besonders hoch. Ilanit stand unter ständigem Polizeischutz und die Fotografen im Saal wurden aufgefordert, zweimal die Saaldecke zu fotografieren. Damit sollte bewiesen werden, dass niemand eine Kamera als getarnte Waffe mit sich führte. Das Publikum im Saal wurde gebeten, beim Applaudieren sitzen zu bleiben, da ansonsten die Gefahr des Erschießens durch die im Saal befindlichen Scharfschützen bestünde. Auch 1975 stand die israelische Delegation unter besonderem Schutz, da die japanische Terroristengruppe Rote Armee einen Anschlag auf sie angekündigt hatte.

Da Israel sich immer wieder weigerte, mit einem Nachbarstaat im selben Programm aufzutreten, konnten EBU-Mitglieder wie Marokko, Tunesien oder der Libanon nie am Wettbewerb teilnehmen. Mit einer Ausnahme, 1980 musste Israel absagen, da das Finale ausgerechnet am Gedenktag Jom haZikaron stattfand, dem Tag, an dem in Israel der gefallenen Soldaten und der Opfer von Terrorismus gedacht wird. So konnte kurzfristig Marokko einspringen und schickte die Sängerin Samira Said an den Start. Zu einer solchen Ausnahme ist es nie mehr wieder gekommen.

Ganz andere Querelen, nämlich innenpolitischer Art, gab es 1998. Damals siegte eine transsexuelle Frau, Dana International, für Israel. Das führte zu viel Jubel und Anerkennung in der queeren Community weltweit, aber im Land selbst gab es lautstarke Proteste von jüdisch-orthodoxen Kräften dagegen, sich von einer Transsexuellen vertreten zu lassen.

Verteidigungsminister von Israel: Palästinenser werden Gazastreifen „in Zukunft regieren“

gestern

Das Versagen beim ESC und das Deutsche Fernsehen – das passt alles zusammen!

15.05.2023

Solange der Israel-Gaza-Krieg andauert, so lange wird auch die Debatte einer Teilnahme am diesjährigen ESC im schwedischen Malmö weitergehen. So wie im kriegerischen Konflikt scheinen auch hier bei einem musikalischen Unterhaltungswettbewerb die Fronten verhärtet, keiner will nachgeben.

Der ESC, 1956 als Gran Premio Eurovisione della Canzone Europea gegründet, um nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs die teilnehmenden Staaten friedlich in einem Musikwettbewerb zu vereinen, beweist wieder einmal, dass der gewünschte unpolitische Geist und Charakter der Veranstaltung nicht einzuhalten ist. Auch wenn die EBU wie in diesem Jahr ihre Haltung dazu wieder wie ein Mantra vor sich herträgt: „Der Eurovision Song Contest ist nach wie vor eine unpolitische Veranstaltung, die das Publikum auf der ganzen Welt durch Musik vereint.“

QOSHE - Der Eurovision Song Contest 2024 – „Lassen Sie uns Israel von diesem Wettbewerb ausschließen“ - Elmar Kraushaar
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Der Eurovision Song Contest 2024 – „Lassen Sie uns Israel von diesem Wettbewerb ausschließen“

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16.01.2024

Es ist Sonntag, der 3. Dezember 2023. In einem Studio des Fernsehsenders Keshet 12 nahe Jerusalem wird eine weitere Folge des Castingformats „HaKokhav HaBa – The Next Star“ aufgenommen. Seit einigen Jahren werden in dieser Nachwuchsshow Israels Vertreter für den Eurovision Song Contest ermittelt. Die Studioaufzeichnung findet ganz ohne Publikum statt, die derzeitige Sicherheitslage im Land lässt keine größeren Veranstaltungen zu. Lediglich sechs Jurorinnen und Juroren bewerten die einzelnen Auftritte.

Mit dabei an diesem Tag ist der 26-jährige Shaoli Grinlik. Als Soldat der israelischen Armee tritt er in Uniform vor das Mikrofon. Sein Vortrag in hebräischer Sprache gefällt der Jury, er kommt eine Runde weiter. Tage später wird die Liste der Teilnehmenden für die nächste Runde veröffentlicht, Grinliks Name ist nicht dabei, er ist kurz nach seinem Auftritt bei den Kämpfen gegen die Terrorgruppe Hamas getötet worden.

Seit dem brutalen Angriff von Hamas-Terroristen auf Israel am Morgen des 7. Oktober herrscht Krieg im Land und im Gazastreifen, und viele Israelis fragen sich, ob in dieser Situation noch Platz ist für eine Musiksendung wie diese Castingshow, die normalerweise über drei bis vier Monate läuft und bis zu 40 Sendungen umfasst. Vor allem die Angehörigen der Hamas-Geiseln protestieren dagegen, der Beginn der Showaufzeichnungen wird immer wieder verschoben. Trotzdem bleibt der Sender bei seinen Plänen, die Moderatoren der Sendung, Rotem Sela und Assi Azzar, äußern sich dazu öffentlich: „Nach vielen Wochen (…) haben wir das Gefühl, dass es an der Zeit ist, durchzuatmen und sich mit etwas anderem zu trösten. Wir sind überzeugt, dass Musik von allen Dingen auf der Welt der einfachste und beste Weg ist, um uns zu verbinden und aufzumuntern. Es wird keine normale Staffel sein, sie wird der Situation angepasst, aber wir sind sicher, dass ein bisschen Musik nur helfen kann.“

•heute

14.01.2024

12.01.2024

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14.01.2024

Erfolglose Jahre: Warum die deutschen ESC-Beiträge so schlecht abschneiden

14.05.2023

Absage: ESC-Vorentscheid ohne Jan Böhmermann

22.11.2023

Diese Erklärung überzeugt nicht alle, Einwände und Vorbehalte bleiben. Aber nicht nur in Israel selbst, auch aus dem Ausland werden zunehmend kritische Stimmen laut. In Island fordert die Vereinigung isländischer Komponisten und Lyriker (FTT) den isländischen Rundfunk RÚV auf, keinen Beitrag zum ESC zu entsenden, falls Israel daran teilnimmt. Das Land befinde sich derzeit im Krieg und müsse ebenso boykottiert werden wie........

© Berliner Zeitung


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