Das Cabuwazi in Marzahn ist eine echte Oase. In diesem Stadtteil, wo sich zehnstöckige Wohnblockriegel an der sechsspurigen Autotrasse der Märkischen Allee entlangziehen und Beton und Blech zum beherrschenden Lebensgefühl gehören, tut sich gegenüber dem S-Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße plötzlich ein Grünflecken auf, aus dem ein Zeltdach ragt. Ganz leicht zu finden ist der Zugang dennoch nicht, aber hat man weitere amtsmäßig umzirkelte Gelände passiert, steht man plötzlich in einem urigen, kleinen Zirkusdorf. Zwischen sympathischem Wildwuchs gruppieren sich hier hölzerne Wohnwagen und Hütten um ein stabiles Aufführungszelt.

Jeder, der hier zum ersten Mal hinkommt, wird begeistert sein. So auch Daniel Wetzel von der Recherche-Theatergruppe Rimini Protokoll und sein Dramaturg Aljoscha Begrich, die eine Woche vor der Premiere ihres neuen Stücks „La Danse d’Amazon“ in diesem Zelt ohne Arena, aber mit halbrunder Globe-Bühne zwar noch heftig rotieren zwischen tausend offenen Fragen, aber schon sicher sein können: Dieser so zauberhafte wie widersprüchlich assoziationsreiche Ort ist ein Erfolgsgarant.

Für die Jugendlichen, die in dieser soziokulturellen Einrichtung ihre Artistenkurse betreiben, ist der „Chaotisch Bunte Wanderzirkus“, kurz Cabuwazi, den es mittlerweile in fast allen Stadtteilen Berlins gibt, zuerst einmal ein Ort der kreativen Selbstfindung. Kein Leistungsdruck herrscht hier, sondern die Lust am Ausprobieren von nicht Alltäglichem, vor allem der Möglichkeiten des eigenen Körpers.

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Gleich zu Beginn der Probe an diesem Abend stürmt eine muntere Seilspringgruppe dieser Cabuwaziler auf die Bühne und legt zu ansteckendem Rap eine Springnummer hin, dass man sofort versteht, wie viel Empowerment darin steckt, wenn sich individuelle Energie in kreative Gemeinschaftsarbeit wandelt. Aber das ist nur die lockere Eröffnung des dann folgenden, großen Recherche-Zirkus, den Daniel Wetzel zusammen mit Experten aus E-Commerce und Artistenwelt zu einer multiperspektivischen Aufklärungsschau über den gar nicht mehr so freundlichen Zirkus des Internetkonzerns Amazon ausweiten wollen.

Ist Amazon mit seinen zig Unterplattformen, auf denen Klick-Arbeiter, Einzelhändler und Käufer gleichermaßen aufschwingen wie abstürzen können, ein Zirkus? Vielleicht. Vor allem aber initiiert Amazon einen „endlosen Tanz der Waren und Daten“, sagt Wetzel. Welche verschlungenen Wege sie dabei genau nehmen und wer oder was dabei auf der Strecke bleibt und als Dumping-Angebot wieder auftaucht, werden sieben „Experten des Alltags“ peu à peu ans Licht bringen.

Wetzel will dabei als eine Art Erzähler des Abends fungieren und damit erstmals selbst in einem eigenen Projekt mitspielen. Auf die Frage, ob er eher Zirkusdirektor oder Dompteur dabei ist, winkt er lachend ab. Beides auf keinen Fall! Jeglichen Macht- oder Bestimmungsgestus schiebt er weit von sich. Deshalb trage er bis jetzt auch nur die für Amazons Lagerarbeiter typische Warnweste über dem Pulli, ähnlich wie alle mitspielenden Experten in glitzernd-sportliche warnwestenartige Trikots gekleidet sind. Wenn, dann sind sie alle eher Vertreter dieser Lagerarbeiter, auch wenn Wetzel seine Weste zur Premiere gegen eine leicht Brecht’sche Arbeiterkluft austauschen wird.

Ihn dagegen als Jongleur und das Ganze als etwas waghalsige Jonglage mit einer Überfülle an Materialbällen zu bezeichnen, gibt es keinen Einwand. 600 Seiten dick ist das zugrundeliegende Recherche-Buch, das Wetzel zusammen mit Jean Peters vom „Peng!“-Kollektiv vor über einem Jahr begonnen hatte. Überhaupt stammt die Idee, das wuchernde Dschungel-Imperium von Jeff Bezos mit dem dressierten Zirkus zu verbinden, eher von Peters, so Wetzel. Das langsame Heranrobben an dieses komplexe Crossover über Dutzende Seitenwege aus verschiedensten Richtungen ist aber die gute alte Rimini-Methode.

Am Ende soll durch die flirrende Zirkuswelt, deren artistisches Spiel mit der Gefahr, den Täuschungen und Verschiebungen von Körpergrenzen natürlich das System des E-Commerce kenntlich werden, in dem Ausbeutung und rücksichtslose Machtkonzentration herrschen. Ob das gelingt, sind sich Wetzel und Aljoscha Begrich auch eine Woche vor der Premiere noch gar nicht sicher, aber so locker und gut gelaunt, wie sie durch diese Probe swingen, hat man wenig Furcht.

Sichere Konstanten ihres Unternehmens sind ohnehin die Experten und ihre Geschichten. Dabei konnten bis zu diesem Zeitpunkt nicht mal alle zusammenkommen. Die Zeitfenster sind einfach zu knapp für den „Sourcing“-Experten Sebastian Herz zum Beispiel, der sich dem Skript zufolge selbst als „Connecter“ bezeichnet und erklären will, wie man Geld verdient, indem man richtig einkauft. Oder für die „Lokalisierungs“-Expertin Jana Krekic, die verraten will, wie sie die Sichtbarkeit von Produkten auf den digitalen Marktplätzen optimiert.

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Alle Zeit der Welt dagegen bringt das Ehepaar Winkler mit, das auch an diesem Probenabend geduldig in der ersten Reihe sitzt. Als exzellente Zirkuskenner und ehemalige Sprecher des DDR-Staatszirkus haben sie über die vergangenen Jahrzehnte ein Zirkusarchiv aufgebaut, das einzigartig ist. Auch dieser Abend profitiert davon mit Fotos und Video-Einspielungen, während sie selbst für ihre Nummer auf einem Thron aus Büchern Platz nehmen, einige davon selbst geschrieben. Sie erzählen von der auch international großen Zeit des Staatszirkus Mitte der 1980er-Jahre, von den zehn großen Eisbären. Eine spektakuläre Zeit war das, kurz bevor in den Neunzigern plötzlich eine andere Gefahr aus der Deckung sprang: die Treuhand, Pfleger in Sachen Raubtierkapitalismus, wickelte den Zirkus kurzerhand ab.

Und neben all diesen Berichten von Glanz und Grauen, „Waren-Pickern“ und „Klick-Arbeitern“ turnt der kanadische Artist Basile Herrmann Philippe als verzauberter Amazon-Bote über eingeschobene Regale und Kistentürme und spielt wie auch seine peruanische Kollegin Laleshka Salas Salazar am Hängeseil unter der Kuppel mit der Schwerkraft. Dass sich all diese Fäden ineinander schlagen und Wort-, Licht- und Körperbilder gegenseitig durchleuchten, wird der Balanceakt des Abends sein. Und echter Kamelkot kommt als Bonusduft am Ende obendrauf.

La Danse d’Amazon im Cabuwazi in Marzahn, Otto-Rosenberg-Straße 2, vom 23. bis 26.11., 20 Uhr, Karten über die Volksbühne, Tel.: 240 65 777 oder www.volksbuehne.berlin

QOSHE - Recherchetheater in Marzahn: Eine Manege für den Raubtierkapitalismus - Doris Meierhenrich
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Recherchetheater in Marzahn: Eine Manege für den Raubtierkapitalismus

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21.11.2023

Das Cabuwazi in Marzahn ist eine echte Oase. In diesem Stadtteil, wo sich zehnstöckige Wohnblockriegel an der sechsspurigen Autotrasse der Märkischen Allee entlangziehen und Beton und Blech zum beherrschenden Lebensgefühl gehören, tut sich gegenüber dem S-Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße plötzlich ein Grünflecken auf, aus dem ein Zeltdach ragt. Ganz leicht zu finden ist der Zugang dennoch nicht, aber hat man weitere amtsmäßig umzirkelte Gelände passiert, steht man plötzlich in einem urigen, kleinen Zirkusdorf. Zwischen sympathischem Wildwuchs gruppieren sich hier hölzerne Wohnwagen und Hütten um ein stabiles Aufführungszelt.

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Für die Jugendlichen, die in dieser soziokulturellen Einrichtung ihre Artistenkurse betreiben, ist der „Chaotisch Bunte Wanderzirkus“, kurz Cabuwazi, den es mittlerweile in fast allen Stadtteilen Berlins gibt, zuerst einmal ein Ort der kreativen Selbstfindung. Kein Leistungsdruck herrscht hier, sondern die Lust am Ausprobieren von nicht Alltäglichem, vor allem der Möglichkeiten des eigenen Körpers.

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