Was musste der arme Karl May in den vergangenen zwei Jahren nicht alles aushalten. Rassismus ist seinen Romanen vorgeworfen worden, kulturelle Aneignung sowieso, wobei er auf seinen literarischen Abenteuerreisen doch immer mit den unterdrückten, schwächsten Völkern sympathisierte.

Gewalt und Arroganz kolonialer Machthaber war doch, was Helden wie Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi zu bekämpfen halfen. Und dennoch, setzt man die historisch kritische, auch sprachsensibilisierte Brille der 2020er-Jahre auf, findet man natürlich Spuren beider Vorwürfe zuhauf.

Dass „Indianer“ eine kolonialistisch oktroyierte Bezeichnung ist, müsste mittlerweile aber auch jeder wissen. Ebenso, dass der „edle Wilde“, wie Karl May Winnetou nannte, nicht viel mehr ist, als die selbstherrlich idealisierte Projektionsfigur seines, in der europäischen Heimat geplagten Erfinders.

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Genau dieser Projektionsvorgang, den Karl May im Laufe seines Lebens zur Perfektion ausbaute – seine Kindheit war bitterarm und wegen wechselnder Kleindelikte verbrachte er etliche Jahre im Gefängnis –, ist aus heutiger Sicht vielleicht das Interessanteste an den zahllosen Fortsetzungsgeschichten, mit denen der Reisemuffel May sich seit Ende der 1870er von Sachsen aus in den fernen Westen und Nahen Osten fortfantasierte. Die Autoren Enis Maci und Mazlum Nergiz haben das klug erkannt und genau diese Projektionsstrategien, ihre psychologischen Voraussetzungen, politischen Hintergründe und historischen Folgen zum Gegenstand ihres neuen Stücks „Karl May“ gemacht, das sie in den Prater Studios der Volksbühne auch selbst zur Uraufführung brachten.

Misst man den Abend an den Vorgängern der Prater-Reihe, dann ist mit dem Bilderfundus und der Assoziationskraft dieser losen Szenenfolge ein munterer Fortschritt zu verzeichnen. Vor allem, weil Leonard Neumann das gesichtslose Einheits-Bühnengerüst in eine Arena verwandelt hat, deren Panoramawände nordamerikanische Prärie- und Wasserlandschaften zeigen, die einem mechanischen Rodeo-Bullen in der Mitte eine schillernde Traumkulisse liefern. Real-Surreal ist hier alles und bald verwischt sich die Prärie auch zu einem Parkplatz im öden Nirgendwo, dort, wo der abgehalfterte Bullriding-Betreiber Scotty, alias Martin Wuttke mit fettigem Langhaar und schlacksiger Nonchalance seinen Lastzug geparkt hat. Hier wird nicht nur mit lockerem Rodeoimitat die Zeit totgeschlagen, sondern vor allem mit den Parkplatz-Bekanntschaften Anne Göbel und Oskar Olivo über traumatische Hotelnächte, das Auswandern und das Abenteuer der Fremdheit diskutiert und wie man dabei ein besserer, vor allem „lebendigerer“ anderer wird.

Macis dichter Text nähert sich aus verschiedensten Ecken der genialen literarischen Hochstapelei Mays, wobei vor allem ihre Einflechtung der realhistorischen Hintergründe aufklärende Kraft entfaltet. Dennoch hängt so mancher Faden der überkomplexen Arbeit an diesem Abend in der Luft. Wer aber könnte auch Luftjonglagen lässiger händeln als Scotty Wuttke?

„Karl May“ - Volksbühne, 23.12., 2., 25., 30.1., Tel: 24065777

QOSHE - „Karl May“ an der Volksbühne Berlin: Ein Sattelzug voller Träume - Doris Meierhenrich
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„Karl May“ an der Volksbühne Berlin: Ein Sattelzug voller Träume

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17.12.2023

Was musste der arme Karl May in den vergangenen zwei Jahren nicht alles aushalten. Rassismus ist seinen Romanen vorgeworfen worden, kulturelle Aneignung sowieso, wobei er auf seinen literarischen Abenteuerreisen doch immer mit den unterdrückten, schwächsten Völkern sympathisierte.

Gewalt und Arroganz kolonialer Machthaber war doch, was Helden wie Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi zu bekämpfen halfen. Und dennoch, setzt man die historisch kritische, auch sprachsensibilisierte Brille der 2020er-Jahre auf, findet man natürlich Spuren beider Vorwürfe zuhauf.

Dass „Indianer“ eine kolonialistisch oktroyierte Bezeichnung ist, müsste mittlerweile aber auch jeder wissen. Ebenso, dass der „edle Wilde“, wie Karl May Winnetou nannte, nicht viel mehr ist, als die selbstherrlich idealisierte Projektionsfigur........

© Berliner Zeitung


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