Warum der Zirkus gegenwärtig so attraktiv ist für viele Postdramatiker, ist schnell erklärt: Kaum eine andere Spielform vereinigt so locker und schön so viele Widersprüche. Streng organisiert ist alles darin, und doch ist es ein Sammelsurium von Individualisten. Hochdramatisch ist jede Nummer und doch nie gebunden in die Logik einer Erzählung. Alles schwebt, alles steht für sich, und doch spiegelt sich zugleich die erbarmungslose Gewalt darin, mit der hochkultivierte Gesellschaften sich Natur zurechtdressieren. Kurz: Zirkus ist schönstes Bild für den Raubtierkapitalismus schlechthin. Und für dessen Überwindung zugleich, denn jeder Artist, der die Schwerkraft austrickst, zeigt, dass es auch anders geht.

Genau solche Artisten und Luftgeister, die gegen Konventionen und Schwerkräfte aller Art agieren, hat Thomas Köck in seinem neuesten Stück „Aerocircus“ versammelt, das speziell für das zirzensische Inklusionstheater RambaZamba entstand und im Performing-Arts-Programm der Berliner Festspiele nun auf deren große Bühne kam. Auch dieser Luftzirkus ist eine Schimäre: Als letztes Überbleibsel einer längst untergegangenen Welt rollt ein Mutter-Courage-Wagen ein, trotten wunderbare Elefanten-Atrappen und Zebras hinterher und springen Seiltänzerinnen neben Jongleuren auf, doch zugleich merkt man den leicht unzufriedenen Glitzer-Clowns der Rambazambas an, dass sie in der postapokalyptischen Zukunft hier noch nicht wirklich angekommen sind.

Gleich der erste Song zur ratternd beschwingten Livemusik handelt davon: Die Luft ist vergiftet, die Welt abgebrannt, kein Mensch mehr in Sicht. Und doch müssen sich die launischen Luftikusse auf dieser Bühne, von der sie wissen, dass Personen wie sie früher keinen Platz darauf hatten, nun neu sortieren. Die mit ihren 79 Jahren umwerfend agile Ilse Ritter als schelmisch sonores Orakel hilft dabei.

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Ein toller Beginn, der thematisch gleich alle Mauern zum Einsturz bringt und die verschiedensten Begriffe, Zeiten, Genres ineinanderblendet. Zu verdanken ist das Köcks parodistisch-poetischem Text, der furchtlos mit ökosozialer Kapitalismuskritik jongliert und so erhellend schreibt, wie der Künstler Tomas Saraceno eigentlich seine filigranen Netz-Installationen spannt. Für diesen Abend aber hat Saraceno nur vier riesige Kunsttoffgloben an die Decke gehängt, die mit den Rambazambas darunter kaum Vibrationen tauschen.

Und da wären wir auch schon bei der unerwarteten Schwäche des Abends. Denn bei aller Kraft der einzelnen Künstler und ihrer Konzepte fehlt das spielerische Ineinandergreifen. Es fehlen vor allem die sich verselbstständigenden Momente, in denen man merkt, wie die eigensinnig feinsinnigen Rambazambas sich zu Hause fühlen in dem Stück und es mit unplanbaren Affekten und Bedeutungen anreichern. Dafür mag der Text zu kompliziert sein, doch Regisseur Jacob Höhne fällt wenig ein, um seine Truppe dagegen ins Spiel zu bringen. Stattdessen Rampenstehen und Sätze buchstabieren. Schade.

Haus der Berliner Festspiele, 9. und 10. Dezember, Tel: 25489100

QOSHE - „Aerocircus“ im Haus der Berliner Festspiele: Warum sind die Glitzer-Clowns so unzufrieden? - Doris Meierhenrich
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„Aerocircus“ im Haus der Berliner Festspiele: Warum sind die Glitzer-Clowns so unzufrieden?

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06.12.2023

Warum der Zirkus gegenwärtig so attraktiv ist für viele Postdramatiker, ist schnell erklärt: Kaum eine andere Spielform vereinigt so locker und schön so viele Widersprüche. Streng organisiert ist alles darin, und doch ist es ein Sammelsurium von Individualisten. Hochdramatisch ist jede Nummer und doch nie gebunden in die Logik einer Erzählung. Alles schwebt, alles steht für sich, und doch spiegelt sich zugleich die erbarmungslose Gewalt darin, mit der hochkultivierte Gesellschaften sich Natur zurechtdressieren. Kurz: Zirkus ist schönstes Bild für den Raubtierkapitalismus schlechthin. Und für dessen Überwindung zugleich, denn jeder Artist, der die Schwerkraft austrickst, zeigt, dass es auch anders geht.

Genau solche Artisten und Luftgeister, die gegen Konventionen und Schwerkräfte aller Art agieren, hat Thomas Köck in........

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