Es geht in den Düppeler Forst, einmal pro Woche, acht Wochen lang. Es geht um die Gesundheit, deshalb müssen diejenigen, die sich in dem Zehlendorfer Waldstück versammeln, Beschwerden haben, krank sein. Es geht um Waldbaden und eine Studie dazu. Die Ausschreibung der Hochschulambulanz für Naturheilkunde der Charité am Immanuel-Krankenhaus Berlin beginnt mit zwei Fragen: „Haben Sie Übergewicht und erhöhten Blutdruck? Wollen Sie aktiv auf Ihre Gesundheit Einfluss nehmen?“

Gesucht werden zehn Teilnehmer für den vierten von fünf Durchgängen des wissenschaftlichen Projekts, der Mitte Mai startet. Parallel läuft eine weitere Studie im Berliner Tiergarten, gleiches Prinzip, nur eben in der Stadtnatur. Auch hieran sind jeweils zehn Probanden beteiligt. „Wir gehen gestaffelt vor“, erklärt Charité-Mediziner Michael Jeitler: eine Staffel im Herbst, eine im Frühjahr – jetzt also ist wieder eine Frühjahrsstaffel an der Reihe. Über anderthalb Jahre laufen beide Studien insgesamt. Am Ende werden 100 Menschen im Alter zwischen 18 und 70 Jahren daran teilgenommen haben.

Naturheilkunde gewinnt in der Medizin immer stärker an Bedeutung. Bisher subjektiv empfundene Effekte werden Stück für Stück wissenschaftlich belegt und zur Vorbeugung von Erkrankungen nutzbar gemacht, aber auch für deren Behandlung, bei Therapien, als Ergänzung zur Schulmedizin. Bei Übergewicht und Bluthochdruck zum Beispiel, gegen Diabetes mellitus Typ 2, Störungen des Stoffwechsels, Beschwerden von Herz und Kreislauf. Auf diese Krankheitsbilder ist nun das Studiendesign für den Düppeler Forst ausgerichtet.

Die Versuchsreihe im Tiergarten konzentriert sich derweil auf Personen mit erhöhtem Stress und dessen Folgen: chronische Erschöpfung, Rückenprobleme, Kopfschmerzen, Angststörung, Depression. „In dieser Studie wollen wir herausfinden, ob Stadtnatur positive Effekte auf Stressempfindung und Lebensqualität hat“, sagt Jeitler.

30.04.2024

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Waldbaden also, auf Japanisch Shinrin Yoku: Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes. In Asien hat sich diese Art der Therapie etabliert, ihre Wirkung wird immer besser verstanden. „Auch in Europa gibt es erste Studien“, sagt Jeitler. In Berlin laufen sie nach einem bewährten Schema ab. Eine Gruppe macht Übungen, absolviert in den acht Tagen über die acht Wochen verteilt. Anderthalb Stunden dauert ein solcher Termin. Um Vergleiche ziehen zu können, gibt es zwei Kontrollgruppen; eine unternimmt achtmal einen Spaziergang im Wald oder in einem städtischen Kiez, die zweite macht erst einmal nichts, kann jedoch später von einem Programm für Naturtherapie profitieren.

„Durch dieses Verfahren haben wir die Möglichkeit, die absoluten Interventionseffekte zu messen“, sagt Jeitler. Im Tiergarten analysieren die Forscher vor und nach der Versuchsreihe eine Haarprobe, bestimmen, wie viel sie von dem Stresshormon Kortisol enthält. Ein Langzeit-EKG wird gemacht. „Es gibt Aufschluss über die sogenannte Herzfrequenzvariabilität“, sagt Jeitler. Schwankt der Puls, ist er hoch, niedrig, bleibt er konstant? „Das ist ebenfalls ein guter Parameter, um die Stressbelastung zu objektivieren.“

Der Bedarf an Strategien gegen Stress ist groß. Das belegen unter anderem Zahlen einer Umfrage im Auftrag der Techniker-Krankenkasse. Demnach gaben 26 Prozent an, häufig gestresst zu sein, 38 Prozent immerhin manchmal und lediglich neun Prozent nie gestresst zu sein. Der Anteil derjenigen, die sich seelisch unter Druck fühlen, hat in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen, um fast ein Drittel. Hauptursachen sind Beruf, Studium, Schule und hohe Ansprüche an die eigenen Leistungen.

Waldbaden kann auf verschiedene Weise praktiziert werden, aber grundsätzlich geht es darum, achtsam die Natur zu erleben und sich bewusst mit der natürlichen Umgebung zu verbinden.

Und was kann nun die Natur gegen dieses Phänomen ausrichten, dadurch, dass sie einfach nur da ist? „Waldbaden kann auf verschiedene Weise praktiziert werden“, sagt Jeitler, „aber grundsätzlich geht es darum, achtsam die Natur zu erleben und sich bewusst mit der natürlichen Umgebung zu verbinden.“ Verschiedene Sinneskanäle werden angesteuert: Hören, Sehen, Riechen. Mal konzentrieren sich die Probanden auf das eine, mal auf das andere, angeleitet von einem „Waldbademeister“ – der offizielle Titel lautet Natur- und Waldtherapeut. Eine geschützte Bezeichnung ist das nicht. „Eigentlich kann sich jeder so nennen und sich im Prinzip sein eigenes Konzept überlegen“, sagt Jeitler. „Es gibt allerdings eine große Schnittmenge bei den unterschiedlichen Natur- und Waldprogrammen im Bereich der Sinnesübungen, bei denen die Sinneskanäle nacheinander durchgegangen werden.“

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Die Natur- und Waldtherapeuten am Immanuel-Krankenhaus sind zertifiziert. „Es handelt sich in unseren Studien überwiegend um Mind-Body-Therapeuten mit zumeist psychologischem Hintergrund“, sagt Jeitler. Mind-Body-Medizin beschäftigt sich mit Methoden, durch Entspannung Angstzustände oder Stress zu dämpfen, während einer schweren Erkrankung oder eines Klinikaufenthalts. Die Mitarbeiter, die das Berliner Projekt begleiten und die Gruppen anleiten, haben eine Fortbildung absolviert. „Wichtig ist, dass alle Übungen in einem Studienmanual festgehalten sind und den Teilnehmern strukturiert vermittelt werden“, sagt der Charité-Arzt.

Derartige wissenschaftliche Untersuchungen zu finanzieren, ist nicht immer einfach. Öffentliche Mittel sind im Forschungssegment der klinischen Naturheilkunde rar. Viele Projekte bewerben sich auf die Ausschreibungen weniger Stiftungen. Dabei liegen die Kosten zumeist nur im sechsstelligen Bereich, sind verglichen mit Studien zu konventionellen Therapiestudien niedrig. Um zum Beispiel ein Medikament zu entwickeln, investiert die Pharmaindustrie nach Branchenangaben auch schon mal an die anderthalb Milliarden Euro.

QOSHE - Waldbaden: Wie lassen sich Stress und Angstzustände lindern? - Christian Schwager
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Waldbaden: Wie lassen sich Stress und Angstzustände lindern?

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02.05.2024

Es geht in den Düppeler Forst, einmal pro Woche, acht Wochen lang. Es geht um die Gesundheit, deshalb müssen diejenigen, die sich in dem Zehlendorfer Waldstück versammeln, Beschwerden haben, krank sein. Es geht um Waldbaden und eine Studie dazu. Die Ausschreibung der Hochschulambulanz für Naturheilkunde der Charité am Immanuel-Krankenhaus Berlin beginnt mit zwei Fragen: „Haben Sie Übergewicht und erhöhten Blutdruck? Wollen Sie aktiv auf Ihre Gesundheit Einfluss nehmen?“

Gesucht werden zehn Teilnehmer für den vierten von fünf Durchgängen des wissenschaftlichen Projekts, der Mitte Mai startet. Parallel läuft eine weitere Studie im Berliner Tiergarten, gleiches Prinzip, nur eben in der Stadtnatur. Auch hieran sind jeweils zehn Probanden beteiligt. „Wir gehen gestaffelt vor“, erklärt Charité-Mediziner Michael Jeitler: eine Staffel im Herbst, eine im Frühjahr – jetzt also ist wieder eine Frühjahrsstaffel an der Reihe. Über anderthalb Jahre laufen beide Studien insgesamt. Am Ende werden 100 Menschen im Alter zwischen 18 und 70 Jahren daran teilgenommen haben.

Naturheilkunde gewinnt in der Medizin immer stärker an Bedeutung. Bisher subjektiv empfundene Effekte werden Stück für Stück wissenschaftlich belegt und zur Vorbeugung von Erkrankungen nutzbar gemacht, aber auch für deren Behandlung, bei Therapien, als Ergänzung zur Schulmedizin. Bei Übergewicht und Bluthochdruck zum Beispiel, gegen Diabetes mellitus Typ 2, Störungen des Stoffwechsels, Beschwerden von Herz und........

© Berliner Zeitung


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