Als wir den Schauspieler Thorsten Merten für ein Interview zum Thema Vereinsliebe anfragen, hat er zunächst Bauchschmerzen. Sich als Alt-Unioner zu präsentieren, das komme ihm merkwürdig vor, schreibt er. Schließlich habe er viele Jahre an der Alten Försterei verpasst, sei bei etlichen Fanaktionen nicht dabei gewesen.

Dann aber gerät der gebürtige Thüringer doch ins Schwärmen, erzählt davon, warum er nach langen Jahren der Abstinenz nun so richtig eisern unterwegs sei und dass er seit 2018 versuche, in jedem seiner Filme etwas von Union unterzubringen. Auch auf roten Teppichen sieht man ihn oft mit Fanartikeln aus dem Zeughaus.

Und so erklärt sich der 60-Jährige schließlich doch bereit für ein Treffen in seiner Prenzlauer Berger Lieblingsfußballkneipe, dem Uluru, um das die sonst allerorts grassierende Gentrifizierung und Hipsterisierung irgendwie einen Bogen gemacht hat. Bei einem Bier und vielen Zigaretten erzählt Merten, der seinen Durchbruch einst im Andreas-Dresen-Film „Halbe Treppe“ feierte, seine Fußballgeschichte.

Die vielleicht keine geradlinige ist, aber dann doch wieder beispielhaft für einen Ostler, der das Leben, die Familie, die Wende managen musste – und unter all diesen Schichten irgendwann seine Liebe wiederentdeckte für die Köpenicker und ihren Fußball.

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03.04.2024

Herr Merten, erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Fußballerlebnisse?

Als Kind, das in Thüringen aufwuchs, habe ich zunächst versucht, mit Rot-Weiß Erfurt warm zu werden. Meine Familie war überhaupt nicht fußballaffin, aber als ich so zwölf, dreizehn Jahre alt war, trampelte ich so lange, bis ich ins Stadion durfte.

Meine Oma strickte mir einen Schal und nähte eine Fahne. So ausgestattet, fuhr ich allein mit dem Zug nach Erfurt. Allerdings landete ich wegen mangelnder Orientierung im Gästeeingang von Chemie Leipzig und stand nach zehn Minuten wieder vor dem Stadion – weinend, ohne Schal und mit zerbrochener Fahne.

Danach verfolgte ich im Fernsehen noch ein bisschen den 1. FC Magdeburg. Der war ja deutlich erfolgreicher, und das interessiert einen als Kind nun mal. Allerdings: Bayern-München-Fan war ich nie. Ich hab immer zu den Ost-Vereinen gehalten.

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Und wie kamen Sie dann mit dem 1. FC Union Berlin in Berührung?

1986 fing ich an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Schöneweide an; das Wohnheim stand in Karlshorst, von da aus war es nicht weit zum Stadion. Ich sah immer, wie die Fans am Sonntag rausfuhren, und einmal, als es gegen Magdeburg ging, stieg ich einfach mit ein in die Bahn zur Alten Försterei. Damals war, glaube ich, mein Jugendidol Joachim Streich gerade Trainer geworden.

Jedenfalls war das mein erstes richtiges Stadionerlebnis. Es war natürlich geil, man spürte gleich die Union-Familie, auch wenn ich nicht sofort zum Hardcore-Fan wurde. Die Schauspielausbildung forderte mich sehr, aber wenn mir das Szenenstudium wieder zu viel wurde oder ich dachte, das wird alles nichts, dann bin ich ins Stadion gefahren. Man regt sich ja als Berufsanfänger so auf, zittert, übergibt sich vor jedem Auftritt – der Fußball hat mich auf andere Gedanken gebracht. Das war positiver Stress.

Trotzdem hörten die Stadionbesuche irgendwann wieder auf.

1989 gingen wir ins letzte Studienjahr, diese Umbruchszeit war überhaupt sehr unruhig. Wir mussten schauen, wie wir in den Beruf kamen, die Mauer fiel, auf einmal war Union komplett weg. Ich fing an, auf Bühnen in Schwerin, Lausanne, Klagenfurt, Recklinghausen und Taschkent zu spielen. Musste mein Geld in der heruntergesparten Theaterlandschaft verdienen, um meine drei Kinder, von denen alle fünf Jahre eines auf die Welt kam, zu finanzieren und zu betreuen.

In diesem liederlichen Beruf, in dem man viel tourt, in dem man vor allem freitags und am Wochenende auf der Bühne steht, war plötzlich gar kein Platz mehr für Fußball. Ich lebte meist dort, wo ich gerade engagiert war. Die Gagen waren schlecht, die Intendanten aus dem Westen, das waren krasse Zeiten, zumal mit Familie.

Meine damalige Frau war auch Schauspielerin, das heißt, wir standen oft beide auf der Bühne und mussten eine Möglichkeit suchen, unsere Tochter zu betreuen. Die Theater hatten ja keine Kindergärten mehr. Und so ging das in einem fort, man konnte nie entspannen. Es waren quasi 20 Jahre mit fünf Stunden Schlaf pro Nacht.

Wann kehrten Sie zurück nach Berlin?

Das war 2004, als das dritte Kind kam, mit meiner zweiten Frau damals. Aber selbst da bin ich noch rumgesaust, zwischen den hiesigen Theatern. Und dann, 2008, sah ich auf einmal ein Plakat: Union spielt gegen Bayern II, dritte Liga, im Jahn-Sportpark. Und da klingelte etwas in mir. Ich wollte da hin. Meiner Frau, die für Fußball wenig Begeisterung zeigte, sagte ich, ich ginge zu einer Lesung.

Das Spiel war ein merkwürdiges Erlebnis. Ein Null-zu-Null-Gekicke, das Stadion nicht voll, es spielte Torsten Mattuschka, von dem ich gar nicht wusste, was er für ein Union-Held war. Damals dachte ich: Mist, wo dümpelt denn Union rum? Man wusste ja, dass alle Ostvereine Schwierigkeiten hatten, nachdem die Westvereine die besten Spieler weggekauft hatten und die ganzen Betriebe weg waren. Aber bei Union schmerzte es mich besonders.

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Es ging aber in Köpenick dann irgendwann wieder bergauf.

Genau, die Jahre in der zweiten Liga, und plötzlich war sogar die Rede vom Aufstieg in die erste Bundesliga. 2016 fing das für mich wieder an, plötzlich spielten die gut, und ich dachte, was ist denn hier los? Ich hatte nur manchmal in der Zeitung oder im Fernsehen was aufgeschnappt, Aktionen wie „Bluten für Union“ oder der Stadionbau gingen komplett an mir vorbei.

Als ich dann nach Jahren der Abstinenz wieder in die Alte Försterei kam, war nicht nur das Stadion neu, sondern auch die Haupttribüne schon gebaut. Und ich war sofort wieder angefixt. Endlich hatte ich auch Zeit dafür: Ich hörte auf mit dem Theaterspielen, drehte Filme, reiste weniger, die Kinder wurden größer. Das gab mir die Chance, die Spiele zu sehen. Seit 2018 nahm Union bei mir wieder völlige Fahrt auf.

Wie fühlte sich diese Rückkehr für Sie an?

Für mich war es die Chance, meine Jugend nachzuholen. Und das, was in den letzten 20 Jahren bei Union passiert war. Sobald ich eine Karte bekam, ging ich ins Stadion. Hinzu kam, dass meine Söhne, die eigentlich nie Interesse an Fußball zeigten, durch ihr Fifa-Gezocke plötzlich wahnsinnige Fußballnarren wurden.

Also nahm ich sie mit ins Stadion, und nun bezahle ich jedes Jahr zum Kindertag ihren Union-Mitgliedsbeitrag, auch wenn sie längst erwachsen sind. Wir treffen uns zu jedem Heimspiel mit der ganzen Familie im Stadion, ein richtiges Ritual für meine Söhne, die Schwiegertöchter, mich und meine Freundin. Wir essen bei mir Mittag, dann werfen wir uns in unsere Fankluft und fahren mit der S-Bahn nach Köpenick. Das ist immer ein richtiges Fest, aber auch Stress.

Wieso denn das?

Wir haben nur eine Dauerkarte, also müssen wir aufs Losverfahren hoffen und ansonsten logistische Meisterleistungen für die anderen Tickets erbringen. Inzwischen habe ich ein Netzwerk von 30 Telefonnummern, wo ich betteln gehe. Bis auf eine Partie sind wir bis jetzt, den Lockdown ausgenommen, in alle Spiele reingekommen.

Für das letzte Weihnachtssingen haben Losverfahren und alle Bettelei versagt. Da musste ich 1000 Euro für die Lounge raushauen. Aber Weihnachtssingen muss sein.

Das klingt nach Schwerstarbeit!

Ja, inzwischen ist mein Beruf fast zur Nebensache geworden. Manchmal fühle ich mich wie ein pubertierendes Kind. Seit 2018 versuche ich in jeden Film irgendwas mit Union reinzuschmuggeln. In der Netflix-Serie „Das letzte Wort“ mit Anke Engelke wird ein Union-Fan zur Hymne von Nina Hagen in einer rot-weißen Urne beerdigt, in „Nackt über Berlin“ von Axel Ranisch spiele ich einen Hardcore-Unioner. Manchmal sage ich auch einfach mal „eisern“ am Satzende oder bringe einen kleinen Wimpel unter. Oft wird es rausgeschnitten, aber manchmal bleibt es auch drin.

Außerdem versuche ich natürlich immer dafür zu sorgen, dass die Union-Spiele im Drehplan berücksichtigt werden, damit ich da frei habe. Klappt auch fast immer.

Wie sieht Ihre Wohnung aus?

Viel Rot-Weiß. Alle Familienmitglieder haben mindestens 20 T-Shirts, Union-Bademäntel, Wintermäntel. Meine kanadische Schwiegertochter näht Bierhalter in Vereinsfarben, die wir ins Stadion mitnehmen. Wir stehen fast immer im Sektor 3, nahe der Mittellinie.

Wenn wir in den Urlaub fahren, sind Badetücher, Feuerzeuge, Hoodies und Caps natürlich aus dem Zeughaus. Vor kurzem sind wir durch die 4000 Jahre alten Tempel von Luxor in Ägypten gestapft, und da kam uns ein anderer Unioner entgegen. „Eisern!“, hallte es durch das Pharaonengestein. Erhebend, ja geradezu biblisch!

Dennoch haben Sie ein schlechtes Gewissen, sich als echter Union-Fan zu präsentieren.

Das hat auch damit zu tun, dass ich seit ewigen Zeiten, mit Unterbrechungen, im Prenzlauer Berg wohne. Dort hat sich die Bevölkerung um geschätzte 90 Prozent ausgetauscht. Jetzt laufen da auch viele Gentrifizierungs-Unioner rum. Ich hab einfach Angst, durch meine lange Union-Abstinenz auch als solcher zu gelten.

Und es wäre auch nicht fair gegenüber denen, die seit 30 Jahren Union bedingungslos die Treue gehalten, die für den Verein geblutet und ihn so einzigartig gemacht haben. Die im Stadion neben mir stehen.

Bereuen Sie, dass Sie die schlechteren Zeiten nicht miterlebt haben?

Das ist ja nun nicht mehr zu ändern. Ich genieße die Zeit im Stadion, das Davor und Danach mit meiner Familie. In der Alten Försterei bin ich glücklich. Im Stadion hörst du noch Ost-Berliner Slang, und du hast das Gefühl, das ist immer noch eine Ost-Berliner Geschichte. Ich meine, die Karl-Marx-Allee ist verramscht, das SEZ wird abgerissen, man kann sich ja nicht nur am Ampelmännchen festhalten.

Dazu ist Union ein gemeinnütziger Verein mit einem ehrenamtlichen Präsidenten. Dirk Zingler, der unter der Dachschräge im Forsthaus mal eben Extra-Fanflieger für die Champions-League-Spiele chartert: Das ist schon immens alles, auch im Gegenschnitt zu Mannschaften wie Bayern oder Dortmund. Kein Vergleich einfach. Ich hoffe jetzt mal, dass Union die Klasse halten kann. Wenn nicht, geht’s trotzdem weiter. Die Fans haben schon ganz andere Zeiten erlebt.

QOSHE - Thorsten Merten über den 1. FC Union Berlin: „Das ist immer noch eine Ost-Berliner Geschichte“ - Anne Vorbringer
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Thorsten Merten über den 1. FC Union Berlin: „Das ist immer noch eine Ost-Berliner Geschichte“

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06.04.2024

Als wir den Schauspieler Thorsten Merten für ein Interview zum Thema Vereinsliebe anfragen, hat er zunächst Bauchschmerzen. Sich als Alt-Unioner zu präsentieren, das komme ihm merkwürdig vor, schreibt er. Schließlich habe er viele Jahre an der Alten Försterei verpasst, sei bei etlichen Fanaktionen nicht dabei gewesen.

Dann aber gerät der gebürtige Thüringer doch ins Schwärmen, erzählt davon, warum er nach langen Jahren der Abstinenz nun so richtig eisern unterwegs sei und dass er seit 2018 versuche, in jedem seiner Filme etwas von Union unterzubringen. Auch auf roten Teppichen sieht man ihn oft mit Fanartikeln aus dem Zeughaus.

Und so erklärt sich der 60-Jährige schließlich doch bereit für ein Treffen in seiner Prenzlauer Berger Lieblingsfußballkneipe, dem Uluru, um das die sonst allerorts grassierende Gentrifizierung und Hipsterisierung irgendwie einen Bogen gemacht hat. Bei einem Bier und vielen Zigaretten erzählt Merten, der seinen Durchbruch einst im Andreas-Dresen-Film „Halbe Treppe“ feierte, seine Fußballgeschichte.

Die vielleicht keine geradlinige ist, aber dann doch wieder beispielhaft für einen Ostler, der das Leben, die Familie, die Wende managen musste – und unter all diesen Schichten irgendwann seine Liebe wiederentdeckte für die Köpenicker und ihren Fußball.

•vor 4 Std.

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03.04.2024

Herr Merten, erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Fußballerlebnisse?

Als Kind, das in Thüringen aufwuchs, habe ich zunächst versucht, mit Rot-Weiß Erfurt warm zu werden. Meine Familie war überhaupt nicht fußballaffin, aber als ich so zwölf, dreizehn Jahre alt war, trampelte ich so lange, bis ich ins Stadion durfte.

Meine Oma strickte mir einen Schal und nähte eine Fahne. So ausgestattet, fuhr ich allein mit dem Zug nach Erfurt. Allerdings landete ich wegen mangelnder Orientierung im Gästeeingang von Chemie Leipzig und stand nach zehn Minuten wieder vor dem Stadion – weinend, ohne Schal und mit zerbrochener Fahne.

Danach verfolgte ich im Fernsehen noch ein bisschen den 1. FC Magdeburg. Der war ja deutlich erfolgreicher, und das interessiert einen als Kind nun mal. Allerdings: Bayern-München-Fan war ich nie. Ich hab immer zu den Ost-Vereinen gehalten.

Thorsten Merten über Berlin: „Ich meide definitiv Mitte und die geleckten Bezirke“

26.06.2023

Interview mit Union-Fan Claus Peymann: „Köpenick ist das beste Fußballdorf Europas!“

26.05.2023

Und wie kamen Sie dann mit dem 1. FC Union Berlin in Berührung?

1986 fing ich an der Schauspielschule „Ernst Busch“ in Schöneweide an; das Wohnheim stand in Karlshorst, von da aus war es nicht weit........

© Berliner Zeitung


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