Der Start von Beitrittsverhandlungen ist für die Ukraine ein wichtiges Symbol im Kampf gegen Putin. Doch wenn es die EU ernst damit meint, kommt sie um schwierige Debatten nicht herum.

Europa steht am Abgrund, wieder einmal. Wenige Tage vor dem für die Ukraine entscheidenden EU-Gipfel herrscht erbitterter Streit um zwei zentrale Fragen. Es geht um 50 Milliarden Euro Hilfsgelder, mit denen die Ukraine durch die nächsten Jahre kommen soll. Und es geht um die Frage, ob die EU die Verhandlungen über den Beitritt des Landes zur Union startet. Allein: Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, Putins getreuer Handlanger, blockiert beide Vorhaben. Die EU, die sich mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen eigentlich zu einem geopolitisch ernstzunehmenden Akteur aufschwingen wollte, droht als außenpolitisches Leichtgewicht zu enden.

Vorneweg: am Geld wird der Gipfel nicht scheitern. Wenn Orbán nicht mitmacht, werden die 26 übrigen Mitglieder einen anderen, kreativen Weg finden, die Finanzspritze für die Ukraine zu stemmen.

Weit schwieriger ist die Frage nach dem Start der Beitrittsverhandlungen. Denn da müssen alle zustimmen. Sicher, der Start der Gespräche ist zunächst eher symbolischer Natur. Die Ukrainer kämpfen nicht nur für ihr Land, sondern auch für Europas Freiheit. Sollte sich Putin in der Ukraine durchsetzen, geraten EU-Mitglieder wie Estland, Lettland und Litauen in sein Visier. Das Mindeste, was Europa den Ukrainern daher anbieten kann, ist die Aussicht auf Aufnahme in einen Club, den sie schon heute verteidigen. Orbáns Widerstand dagegen ist schändlich und durchsichtig (er will gesperrte EU-Gelder für sein Land loseisen).

Das ändert allerdings nichts daran, dass sich auch die EU ehrlich machen muss. Ein Beitritt der Ukraine würde die Union dramatisch verändern. Die Ukraine wäre, was Größe, Bevölkerungsstärke und (fehlende) Wirtschaftskraft angeht, weit schwerer zu integrieren als jeder bisherige Beitrittskandidat. Agrarbeihilfen, mit denen die EU heute vor allem Frankreichs Landwirtschaft alimentiert, Strukturfonds, die die Lebensverhältnisse an der Grenze Polens zu Weißrussland an den EU-Durchschnitt heranführen sollen – all diese Hunderte Milliarden Euro würden künftig vor allem in eine Richtung fließen – nach Kiew. Der Widerstand polnischer Bauern, die sich mitten in Putins Krieg weigerten, ukrainische Getreideexporte in ihr Land zu lassen, ist nur ein Vorgeschmack auf die Verteilungskämpfe, die der EU bevorstehen könnten.

Ein Beitritt kann also nur ein Langzeitprojekt sein, eines, das nicht nur Reformen in der Ukraine erfordert, etwa bei der Korruptionsbekämpfung, sondern auch innerhalb der EU. Wie soll eine vergrößerte Union Entscheidungen treffen? Wie will es nach außen mit einer Stimme sprechen? Welche Regionen profitieren künftig von der großen Brüsseler Umverteilungsmaschinerie? Das sind nur einige der Fragen, die beantwortet werden müssen.

Die letzte große Erweiterung um die Länder Ost- und Mitteleuropas vor bald 20 Jahren zeigt die Dimension, um die es geht. Vom Fall des Eisernen Vorhangs bis zur Aufnahme der Länder von Polen bis Ungarn vergingen knapp 15 Jahre. In diesen eineinhalb Jahrzehnten hat sich die EU gewandelt wie selten zuvor. Die Gemeinschaft gab sich mit dem Euro eine neue Währung, und, etwas später, 2009, mit dem Vertrag von Lissabon zum Teil fast schon staatliche Strukturen – mit einem ständigen Ratspräsidenten, mehr Befugnissen für das europäische Parlament und der Möglichkeit, viele wichtige Entscheidungen mit Mehrheit zu treffen.

Europa hat sich neu erfunden, um die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts aufzunehmen. Genau darum geht es jetzt wieder. Nur wenn die Mitglieder die Reform der EU glaubhaft angehen, nur dann ist das Versprechen eines EU-Beitritts für die Ukraine ehrlich.

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Schwer zu integrieren: Europa muss sich bei der Ukraine ehrlich machen

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13.12.2023

Der Start von Beitrittsverhandlungen ist für die Ukraine ein wichtiges Symbol im Kampf gegen Putin. Doch wenn es die EU ernst damit meint, kommt sie um schwierige Debatten nicht herum.

Europa steht am Abgrund, wieder einmal. Wenige Tage vor dem für die Ukraine entscheidenden EU-Gipfel herrscht erbitterter Streit um zwei zentrale Fragen. Es geht um 50 Milliarden Euro Hilfsgelder, mit denen die Ukraine durch die nächsten Jahre kommen soll. Und es geht um die Frage, ob die EU die Verhandlungen über den Beitritt des Landes zur Union startet. Allein: Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, Putins getreuer Handlanger, blockiert beide Vorhaben. Die EU, die sich mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen eigentlich zu einem geopolitisch ernstzunehmenden Akteur aufschwingen wollte, droht als außenpolitisches Leichtgewicht zu enden.

Vorneweg: am Geld wird der Gipfel nicht scheitern. Wenn Orbán nicht mitmacht, werden die 26 übrigen Mitglieder einen anderen, kreativen Weg finden, die Finanzspritze für die........

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