Berlin/München - Sie gilt vielen als Hoffnung, den Aufstieg der AfD zu stoppen: die künftige Wagenknecht-Partei. Denn Sahra Wagenknecht und ihre Getreuen buhlen bundesweit gezielt um die Wähler der Rechtsextremen. Als sich am Dienstag vergangener Woche der für den Landesvorsitz als gesetzt geltende Klaus Ernst in München vorstellte, umschmeichelte er geschickt jene, die sich von den etablierten Parteien abgewandt haben.

Unter Applaus des Publikums sagte der Schweinfurter Bundestagsabgeordnete: "Der Meinungskorridor wird bei uns so eng, dass du dir schon überlegen musst, mit wem du beim Pinkeln stehst." Heftig kritisierte der 69-Jährige frühere Impfpflichtpläne. Und über AfD-Wähler sagte er, viele von ihnen seien nicht rechtsradikal.

Seiner alten Partei warf der Ex-Linke vor, diese sei zuletzt "nur mehr auf Minderheitenthemen eingegangen". Unter tosendem Beifall sagte er: "Wenn die Umbenennung der Mohrenköpfe urplötzlich wichtiger wird als die Höhe der Renten, dann hat der Rentner damit ein Problem." Ernst hat beste Chancen bayerischer Spitzenkandidat für die Europawahl zu werden.

Punkten will die Partei laut dem früheren Gewerkschafter mit der Forderung nach höheren Renten und Löhnen sowie einer Stärkung der Arbeitnehmervertreter. Auch die Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine sowie eine strikte Begrenzung der Flüchtlingszahlen gehören zur DNA der Partei, die am 8. Januar gegründet werden soll.

In Ostdeutschland kommt die Wagenknecht-Bewegung mit diesem Themenmix in Umfragen auf Top-Werte. Doch in Bayern ist die Konkurrenz an Parteien, die Ampel-Gegnern ein Ventil bieten, nicht zuletzt dank Populisten-Ikone und Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger weit größer.

Zudem ist in Städten wie München und Nürnberg das Wählerklientel der Unzufriedenen ein anderes als in Ostdeutschland: Hier hat der Industriearbeiter, der wegen des Verbrenner-Ausstiegs oder der hohen Energiepreise um seinen Job bangt, oft einen Migrationshintergrund - ebenso das Heer an schlecht bezahlten Paketboten, Altenpflegerinnen, Fleischern oder Reinigungskräften. Das weiß auch das Wagenknecht-Lager.

"Wir sollten alle, die Migrationshintergrund haben und seit Jahren in Deutschland arbeiten, Steuern zahlen und irgendwie versuchen, über die Runden zu kommen, ansprechen", sagt Hans-Christian Lange. Viele dieser Menschen hätten Ängste, weil sich "die Zuwanderung überschlage".

Lange zählt als bayerischer "Aufstehen"-Vorsitzender zu den Strippenziehern bei der Gründung des Landesverbands. Die außerparlamentarische Bewegung "Aufstehen" wurde 2018 von Wagenknecht ins Leben gerufen, war letztlich jedoch ein Rohrkrepierer.

Eine maßgebliche Rolle in der Wagenknecht-Partei werden auch Mitglieder der IG Metall spielen – allen voran Harald Flassbeck, früherer Bevollmächtigter der IG Metall München. Er sagt: "Viele Arbeitnehmer mit und ohne Migrationshintergrund haben bei der derzeitigen unkontrollierten Zuwanderung die Befürchtung, dass unser Sozialsystem kollabiert." Auch gebe es bereits heute "viel zu wenige Sozialwohnungen".

Er warnt in Zeiten knapper Haushalte und hoher Kosten für Flüchtlinge vor Einsparungen bei der Arbeitslosen-, Renten,- und Krankenversicherung. Schließlich sei die Sozialversicherung das "Kapital für Menschen, die kein eigenes Kapital besitzen". Flassbeck: "Wenn die Altparteien die Zukunftsängste dieser Menschen ignorieren, treiben sie sie in die Arme von rechtsradikalen Parteien."

Auch Daniel Abdelati, der als Facharbeiter in der Autobranche arbeitet, hat sich der Wagenknecht-Bewegung angeschlossen, weil er sich Sorgen um die Demokratie macht, sagt er. Sowohl unter Arbeitern mit als auch ohne Migrationshintergrund gebe es im Autobau "einen Rechtsruck".

Der 38-Jährige, dessen Vater 1978 aus Ägypten nach Deutschland kam, durfte sich am Dienstag ebenfalls den knapp 100 Sympathisanten vorstellen: "Viele Menschen mit Migrationshintergrund sind gegen unkontrollierte Zuwanderung." Sie fürchteten Lohndumping, höhere Sozialkosten und hätten Angst um den sozialen Frieden, warnte Abdelati.

Zu den bayerischen Wagenknecht-Anhängern zählt auch Murat Yilmaz: Der frühere Bandarbeiter und heutige Taxifahrer machte als "Betriebsrats-Rebell bei BMW" Schlagzeilen. Der frühere Chef einer kleinen Bandarbeiter- und Leiharbeitergewerkschaft ist überzeugt: "Geringverdiener oder die migrantische Unterschicht sind doch die großen Verlierer der heutigen Politik." Yilmaz kritisiert die Flüchtlingspolitik scharf. Wenn mehr als zwei Millionen Schutzsuchende in weniger als einem Jahrzehnt nach Deutschland kämen, würde dies vor allem für Zugewanderte, die schon lange hier leben, massive Konkurrenz um knappe Ressourcen bedeuten. Bei Wohnraum oder Kita-Plätzen etwa.

Für Aufstehen-Chef Lange ist jedenfalls klar: "Wir werden künftige Wahlkämpfe auch stark auf Menschen mit Migrationshintergrund ausrichten."

QOSHE - Welche überraschende Zielgruppe die Wagenknecht-Partei ansprechen will - Tobias Lill
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Welche überraschende Zielgruppe die Wagenknecht-Partei ansprechen will

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22.12.2023

Berlin/München - Sie gilt vielen als Hoffnung, den Aufstieg der AfD zu stoppen: die künftige Wagenknecht-Partei. Denn Sahra Wagenknecht und ihre Getreuen buhlen bundesweit gezielt um die Wähler der Rechtsextremen. Als sich am Dienstag vergangener Woche der für den Landesvorsitz als gesetzt geltende Klaus Ernst in München vorstellte, umschmeichelte er geschickt jene, die sich von den etablierten Parteien abgewandt haben.

Unter Applaus des Publikums sagte der Schweinfurter Bundestagsabgeordnete: "Der Meinungskorridor wird bei uns so eng, dass du dir schon überlegen musst, mit wem du beim Pinkeln stehst." Heftig kritisierte der 69-Jährige frühere Impfpflichtpläne. Und über AfD-Wähler sagte er, viele von ihnen seien nicht rechtsradikal.

Seiner alten Partei warf der Ex-Linke vor, diese sei zuletzt "nur mehr auf Minderheitenthemen eingegangen". Unter tosendem Beifall sagte er: "Wenn die Umbenennung der Mohrenköpfe urplötzlich wichtiger wird als die Höhe der Renten, dann hat der Rentner damit ein Problem." Ernst hat beste Chancen bayerischer Spitzenkandidat für die Europawahl zu werden.

Punkten will die Partei laut dem früheren Gewerkschafter mit der Forderung nach höheren Renten........

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