Der gebürtige Würzburger Peter R. Neumann ist Terrorismus-Experte, Professor für Sicherheitsstudien am King's College London und Autor zahlreicher Bücher. Er war 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und berät derzeit die EU-Kommission zum Thema Extremismus. In der AZ spricht er über die brisante Situationen im Nahen Osten.

AZ: Herr Neumann, der IS hat sich zwar zu den Terror-Anschlägen im Iran bekannt – trotzdem schießen die Spekulationen ins Kraut: War es wirklich der IS? Oder der Mossad? Die Opposition? Die USA? Eine Black-Flag-Aktion der Mullahs selbst? Was vermuten Sie?
PETER R. NEUMANN: Ich halte es für am wahrscheinlichsten, dass es iranische Dschihadisten waren. Es gibt nämlich auch innerhalb des Irans sunnitische Gruppen, die die Regierung bekämpfen, unter anderem weil sie es ihr übel nehmen, dass sie im syrischen Bürgerkrieg Machthaber Baschar al-Assad unterstützt hat. Diese dschihadistischen sunnitischen Gruppierungen, inklusive des IS, verüben schon seit Jahren solche Anschläge, was im Westen oftmals nicht wahrgenommen wird – auch, weil der Iran nicht will, dass darüber berichtet wird.

Was ist mit Israel? Der Auslandsgeheimdienst Mossad wird ja unter anderem für die gezielte Tötung von iranischen Atomwissenschaftlern verantwortlich gemacht.
Der Mossad führt zwar im Ausland Tötungen durch, aber die richten sich immer gegen konkrete Ziele – wie jetzt gerade gegen den Hamas-Kommandeur Saleh al-Aruri im Libanon. Einen Anschlag allein auf die Zivilbevölkerung hat Israel in seiner gesamten Geschichte nie ausgeübt. Deswegen bin ich mir ziemlich sicher, dass Israel nichts damit zu tun hat.

Das Attentat erfolgte am vierten Todestag von General Ghassem Soleimani, der 2020 durch eine US-Drohne im Irak gețtet wurde. Warum gerade jetzt Рund nicht am zweiten oder dritten Sterbetag?
Die Kampagne der iranischen Dschihadisten läuft schon seit Jahren. Möglicherweise hat sich gerade jetzt die Gelegenheit dazu ergeben zuzuschlagen. Einen direkten Zusammenhang zur aktuellen Krise im Nahen Osten würde ich nicht unbedingt konstruieren.

Es fällt auf, dass sich der Iran in der derzeitigen Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern zurückhält. Warum eigentlich?
Das muss für viele irritierend sein, die auf den Iran gesetzt hatten als die Kraft, die Israel immer das Existenzrecht abgesprochen und angekündigt hat, es zu zerstören. Aus militärischer Sicht betrachtet, besteht ja jetzt dazu weit mehr die Möglichkeit als in den vergangenen Jahren. Israel könnte extrem unter Druck geraten, wenn der Iran und die mit ihm verbündete Hisbollah Militärschläge gegen das Land durchführen würden. Aber nun offenbart sich, dass diese ganze Israel-Feindschaft für den Iran größtenteils ein rhetorisches Instrument gewesen ist – und dass er Angst davor hat, den großen Konflikt nicht nur mit Israel loszutreten, sondern auch mit den USA. Dass Washington seine Flugzeugträger ins Mittelmeer verlegt hat, war ja ein klares Warnsignal an Teheran. Ich denke, dass der Iran momentan vor diesem fast schon apokalyptischen Szenario zurückschreckt. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die arabischen Staaten wie etwa Jordanien und Saudi-Arabien in diesem Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Seite Amerikas und Israels stellen würden.

Die Lage im Nahen Osten ist so oder so explosiv. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah hat Israel nach der Tötung des Hamas-Kommandeurs in Beirut gedroht: "Die Ermordung Al-Aruris ist ein gefährliches Verbrechen, das nicht ohne Reaktion und Bestrafung bleiben wird." Wie bewerten Sie das?
Bei Hassan Nasrallah muss man immer zwischen den Zeilen lesen. Schon seine Ansprache nach dem 7. Oktober war sehr brachial, er hat aber nichts Konkretes angekündigt. Das war diesmal genauso: Er hat viel brachiale Rhetorik gebraucht und angekündigt, dass es eine Vergeltung geben wird – aber eben nicht wann und wie. Er hat Israel selbst nicht einmal erwähnt. Deswegen gehe ich davon aus, dass er vor allem seine Anhänger zufriedenstellen wollte. Das Risiko einer Eskalation an der Nordgrenze Israels ist absolut gegeben, aber diese Rede war noch kein Signal zum Angriff.

Es heißt, die Hisbollah sei viel gefährlicher als die Hamas. Warum ist das so?
Man geht davon aus, dass die Hisbollah über 150.000 Raketen verfügt, die Hamas hatte zu Beginn des Konfliktes vielleicht 3000 bis 4000. Die Hisbollah ist seit den 1980er-Jahren sehr eng mit dem Libanon verwoben. Sie war an der Regierung beteiligt, ist ein Staat im Staate und die tonangebende Macht im Süden. Hinzukommt: Es werden zwar sowohl Hamas als auch Hisbollah vom Iran unterstützt, aber die Beziehungen unterscheiden sich stark. Bei der sunnitischen Hamas ist es eine rein opportunistische Unterstützung, die sich durch die Feindschaft zu Israel erklärt. Die schiitische Hisbollah hingegen wurde vom Iran gegründet, aufgebaut und wird bis heute von ihm gesteuert. Ihre Kämpfer sind genau so gut ausgebildet wie die iranischen Revolutionsgarden. Ein weiterer Faktor: Die Hisbollah hat in den letzten zehn Jahren in Syrien unglaublich viel Kampferfahrung gesammelt. Die Hamas hingegen hat quasi nur Raketen abgefeuert.

Was müsste geschehen, dass der Flächenbrand, der sich abzuzeichnen scheint, nicht ausbricht?
Das hängt von vielen Faktoren ab: Da wäre einmal die Stimmung im Libanon. Der Hisbollah ist es wichtig, dass sie dort akzeptiert und populär ist. Allerdings ist der Libanon spätestens seit der Explosion im Hafen von Beirut 2020 ein Staat am Abgrund – und die breite Bevölkerung will nicht noch Krieg mit Israel. Zum ersten Mal würde ein solcher Konflikt die Hisbollah dort nicht populärer machen, sondern ihr schaden. Eine zweite entscheidende Variable ist, dass Israel mit Blick auf den Norden nicht zu nervös sein sollte – und losschlagen, bevor überhaupt etwas passiert ist. Das könnte im Extremfall zu einem katastrophalen Krieg führen, der auch für Israel bedrohlich wäre. Zumindest, so lange sich die Situation im Gazastreifen nicht beruhigt.

Wie ließe sich die Situation im Gazastreifen denn beruhigen?
Die israelische Strategie dort ist sehr unausgegoren. Es gibt noch immer keinen Plan dafür, unter welchen Bedingungen sich die Armee zurückzieht, die Menschen wieder zurückkehren können, was man künftig mit diesem Territorium anstellt, oder wer den Wiederaufbau bezahlen und organisieren soll. Deswegen wäre es wichtig, dass die internationale Gemeinschaft ein entsprechendes Programm auf die Beine stellt und Israel ein Angebot macht. Und Amerika, das in den letzten zwei Monaten eine insgesamt positive Rolle gespielt hat, muss noch etwas mehr Druck auf Israel ausüben. Sicherheitsberater Jack Sullivan hat ja bereits angedeutet, dass Washington erwartet, dass die Kämpfe im Gazastreifen bis Ende Januar beendet sind.

Man kann aber durchaus den Eindruck haben, dass dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gar nicht an einem Ende des Krieges gelegen ist, weil er ja selbst um sein politisches Überleben kämpft.
Das ist eins von zwei großen Problemen. Das erste ist, dass Israel widersprüchliche Kriegsziele hat: Zum einen will man die Hamas vernichten, zum anderen alle Geiseln befreien, was aber nur durch die Kooperation der Hamas möglich ist. Das lässt sich miteinander nicht vereinbaren. Das zweite Problem ist, dass Netanjahu extrem unpopulär ist. Laut Umfragen wollen 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung, dass er zurücktritt, weil sie ihn für den 7. Oktober verantwortlichen machen. Er glaubt, dass sich die Leute zurückhalten, solange dieser Krieg läuft und das ist in der Tat eine sehr, sehr negative Dynamik. Aber ich denke, dass früher oder später dennoch die Rufe nach Neuwahlen lauter werden. Der Abgang Netanjahus lässt sich nicht vermeiden – was wiederum eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass es zu einer Lösung dieses Konfliktes kommt.

QOSHE - Terror-Experte warnt vor Lage im Nahen Osten: "Eine sehr negative Dynamik" - Natalie Kettinger
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Terror-Experte warnt vor Lage im Nahen Osten: "Eine sehr negative Dynamik"

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05.01.2024

Der gebürtige Würzburger Peter R. Neumann ist Terrorismus-Experte, Professor für Sicherheitsstudien am King's College London und Autor zahlreicher Bücher. Er war 2017 Sonderbeauftragter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und berät derzeit die EU-Kommission zum Thema Extremismus. In der AZ spricht er über die brisante Situationen im Nahen Osten.

AZ: Herr Neumann, der IS hat sich zwar zu den Terror-Anschlägen im Iran bekannt – trotzdem schießen die Spekulationen ins Kraut: War es wirklich der IS? Oder der Mossad? Die Opposition? Die USA? Eine Black-Flag-Aktion der Mullahs selbst? Was vermuten Sie?
PETER R. NEUMANN: Ich halte es für am wahrscheinlichsten, dass es iranische Dschihadisten waren. Es gibt nämlich auch innerhalb des Irans sunnitische Gruppen, die die Regierung bekämpfen, unter anderem weil sie es ihr übel nehmen, dass sie im syrischen Bürgerkrieg Machthaber Baschar al-Assad unterstützt hat. Diese dschihadistischen sunnitischen Gruppierungen, inklusive des IS, verüben schon seit Jahren solche Anschläge, was im Westen oftmals nicht wahrgenommen wird – auch, weil der Iran nicht will, dass darüber berichtet wird.

Was ist mit Israel? Der Auslandsgeheimdienst Mossad wird ja unter anderem für die gezielte Tötung von iranischen Atomwissenschaftlern verantwortlich gemacht.
Der Mossad führt zwar im Ausland Tötungen durch, aber die richten sich immer gegen konkrete Ziele – wie jetzt gerade gegen den Hamas-Kommandeur Saleh al-Aruri im Libanon. Einen Anschlag allein auf die Zivilbevölkerung hat Israel in seiner gesamten Geschichte nie ausgeübt. Deswegen bin ich mir ziemlich sicher, dass Israel nichts damit zu tun hat.

Das Attentat erfolgte am vierten Todestag von General Ghassem Soleimani, der 2020 durch eine US-Drohne im Irak gețtet wurde. Warum gerade jetzt Рund nicht am zweiten oder dritten Sterbetag?
Die Kampagne der iranischen Dschihadisten läuft schon seit Jahren.........

© Abendzeitung München


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